Die erste »Zeitenwende«
Von Johannes SchilloKriegstüchtigkeit, materielle und ideelle Militarisierung, großangelegte Neuformung der Öffentlichkeit, Ausgrenzung abweichender Meinungen, Etablieren einer »Hermeneutik des Verdachts« (jW, 20.12.2023) – all das hatte seine Eröffnung in der Formel der »Zeitenwende«, ausgerufen vom Kanzler Scholz im Februar 2022 anlässlich des russischen Angriffs auf die Ukraine. Eine »Zeitenwende« hat es schon einmal gegeben in Deutschland. Ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland brachte der damalige Kanzler Adenauer die Remilitarisierung auf den Weg, in einem kriegsmüden Nachkriegsdeutschland. Er stellte die Weichen für einen hochgerüsteten Frontstaat mit dem Anspruch, europäische Führungsmacht zu sein. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen lohnt ein Blick zurück auf diesen Zeitabschnitt.
Dass dieser Prozess der Remilitarisierung und Wiederbewaffnung von 1950, nach Adenauers US-Besuch, bis zum Jahr 1956, als die ersten Wehrpflichtigen eingezogen wurden, ohne große Friktionen über die Bühne ging, war der Schwäche der Antikriegsbewegung und nicht zuletzt der Halbherzigkeit der Arbeiterbewegung (ausgenommen die KPD) zu verdanken. Nur ein christlicher Innenminister, Gustav Heinemann, ging von der Fahne und versuchte mit seiner neutralistischen Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) gegenzuhalten, wurde aber als eine Art Stalin-Versteher ins Abseits gerückt, während den Kommunisten mit ihrer Initiative zu einer Volksbefragung der Prozess gemacht und ihre Partei verboten wurde. SPD und Gewerkschaften folgten der Linie »Jein zu den Waffen« (Erhard Korn). Das hieß im Klartext: Sie unterstützten Adenauers Kurs, ließen aber intern, vor allem in den Jugendabteilungen, dem Unmut über die Wiederbewaffnung ein wenig Raum.
Es lag aber auch an einer Umpolung des Zeitgeistes, der sich zunächst durch ein Bekenntnis zur deutschen Kriegsschuld und ein anklagendes »Nie wieder!« ausgezeichnet hatte. Heinrich Böll und Wolfgang Borchert standen dafür, gewiss in Konkurrenz zu Autoren der »Inneren Emigration«, in deren Fahrwasser selbst Nazikollaborateure wie Gottfried Benn oder Ernst Jünger sich nachträglich als sachte Widerständler darstellen konnten. Echte Breitenwirkung allerdings erreichte eher die Volksunterhaltung, etwa vom Moewig-Verlag, der seit den 1950er Jahren mit seinen »Landser-Heften« die alte Wehrmachtstradition hochleben ließ.
Fremd im Adenauer-Staat
Gegen eine solche Verherrlichung der Nazivergangenheit schritt die demokratisch geläuterte Staatsmacht nicht ein, aber gegen einen Schriftsteller wie Arno Schmidt, der eine entschiedene antimilitaristische Stimme darstellte, wurde schweres Geschütz aufgefahren. Er war der konsequenteste literarische Gegner des Adenauer-Staates und mit seiner Schärfe im Grunde ein Ausnahmefall im Literaturbetrieb: von Zensur betroffen, von der Justiz verfolgt, von Verlegern gemieden. Erfreulicherweise hält ihm in den heutigen Zeiten von Kriegstreiberei und Russenhetze die Arno-Schmidt-Stiftung die Treue. So hat deren Geschäftsführerin Susanne Fischer gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin Michaela Nowotnick Ende 2024 das Arno-Schmidt-Lesebuch »Es ist also Krieg irgendwo« herausgegeben.
»Nichts hat Arno Schmidt so empört wie die Wiederaufrüstung in der jungen Bundesrepublik und die Gleichgültigkeit seiner Zeitgenossen gegenüber den Kriegen in der Welt«, heißt es in der Ankündigung der Auswahl, in der zum Beispiel der Antikriegstext »Leviathan« abgedruckt ist. Und ganz zu Recht wird dabei die Verdrängungsleistung der übrigen bundesdeutschen Nachkriegsliteratur kritisiert – mit dem Fazit: »Schmidts dystopische Romane hingegen erzählen vom Leben nach den vernichtenden Atomschlägen eines dritten Weltkriegs: Mutanten auf der Erde, letzte Menschenkolonien auf dem Mond.«
In der Tat, Schmidts Schilderungen vom Schrecken des Zweiten und des – phantastisch vorweggenommenen – dritten Weltkriegs gehören zum Beeindruckendsten, was die westdeutsche Literatur zustande gebracht hat, verschönert übrigens durch einen beißenden Witz, vor allem im Spätwerk. Schmidt – man kann es nicht freundlicher sagen – fand den Adenauer-Staat zum Kotzen, erblickte in ihm keinen großen Bruch mit dem Naziregime und erträumte sich eine Außenseiterexistenz (die er dann später mit seinem Rückzug in die Lüneburger Heide tatsächlich hatte, wo er sich in monströsen Literaturbasteleien wie »Zettel’s Traum« verzettelte).
In den 1950er und 1960er Jahren aber schrieb er für Konkret, polemisierte gegen Gott und die Welt und war einer der wenigen im deutschen Literaturbetrieb, die aufregende Dinge zum Thema Sex zu sagen hatten. Und er war ein feinfühliger Mensch. Peter Köhler hat ihn in seiner Empfehlung des neuen Lesebuchs (jW, 18.10.2024) treffend charakterisiert: »Bei Arno Schmidt bewirkte das Grauen, das muss als eine Ironie der Weltgeschichte vermerkt werden, Gutes: Ihn, der zuvor epigonal vor sich hingeschrieben hatte, machte das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs, an dem der 1914 Geborene als Soldat hatte teilnehmen müssen, zum erstrangigen Schriftsteller, es verwandelte einen versponnenen Dichterling schockartig in ein Genie.«
Und sein Fall zeigt: Die Rede vom freien Westen, in dem Künstler oder Autoren frei agieren konnten, war Schönfärberei. Was immer als Merkmal des totalitären Ostens beschworen wurde, nämlich die Kluft zwischen dem Kombinat staatstragender Medien, doktrinärer Kulturpolitik und Geheimdienstaufsicht auf der einen Seite und einem dissidenten Samisdat auf der anderen, passte genau auf den Adenauer-Staat. Hätte Ostberlin nicht eine Studentenzeitung wie Konkret gesponsert, hätte es mit der Pluralität auf dem deutschen Markt der Meinungen düster ausgesehen. Und die künstlerische Freiheit im Westen erstreckte sich aufs experimentelle Zertrümmern überkommener Formen, aber nicht auf Sozial- und Staatskritik.
Kunstfreiheit – wo es passt
Was die Kunst betrifft, ist ja in der gehobenen Sphäre unter normalen Bedingungen ein gewisses Über-die-Stränge-Schlagen erlaubt, wird bei Gelegenheit sogar von der Politik oder von Geheimdiensten unterstützt, wie die legendären Einsätze der CIA für die künstlerische Freiheit dokumentieren (siehe den von ihr gesteuerten »Kongress für kulturelle Freiheit«). Der Kunstvorbehalt, der bei Zensurmaßnahmen in der Abteilung Erotik gilt und einiges durchgehen lässt, bedeutet dabei keinen generellen Freibrief für Außenseitertum. Das belegen auch die jahrelangen Prozesse um »Ulysses«, »Lolita« oder »Naked Lunch«. Die Kunstsphäre wird eben nicht einfach dem Konsum überlassen, sie ist vielmehr Gegenstand der Kulturpolitik, wird betreut und gesteuert, im Innern wie auswärts, heutzutage etwa schlagend am Beispiel der »Documenta fifteen« demonstriert (dazu Stefan Ripplinger: »Kunst im Krieg«, Köln 2024).
Die Freiheiten, die sie hat, gelten nur bedingt. Der Fall Arno Schmidt ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Bedingungen in der Nachkriegszeit aussahen. Was sich etwa im Zuge der 1960er Jahre – nach Günter Grass’ »Blechtrommel« oder Ingmar Bergmans »Schweigen« – durchsetzte, war vorher im Adenauer-Staat ein absolutes Tabu. Schmidt, der heute seinen unbestrittenen Platz im Kanon der deutschen Literaturgeschichte hat, galt als ein höchst gewagter Autor, der bei seinen Büchern vielfach Kürzungen aus politischen und moralischen Gründen hinnehmen musste (was dann Jahrzehnte später von der Arno-Schmidt-Stiftung, so in Prozessdokumentationen von Jan Philipp Reemtsma und Georg Eyring, aufgearbeitet wurde).
Im Jahr 1955, nach der Veröffentlichung seines Kurzromans »Seelandschaft mit Pocahontas«, drohte Schmidt eine Verurteilung wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften und wegen Gotteslästerung. Das Verfahren, das anderthalb Jahre anhängig war und nach allerlei Winkelzügen von Verlag und Autor schließlich eingestellt wurde, hätte bei negativem Ausgang den wagemutigen Schriftsteller finanziell und publizistisch ruiniert. Aber auch so waren die Auswirkungen gravierend: Als die Justizaffäre bekannt wurde, fand Schmidt lange Zeit keinen Verleger. Er sah sich als verfolgter Autor, wollte zeitgenössischen Themen aus dem Weg gehen und spielte einige Zeit auch mit dem Gedanken, in die DDR auszuwandern. Das ließ er dann jedoch bleiben, da er als »Formalist« drüben keine Chance gehabt hätte. Sondiert hatte er die Möglichkeit aber schon, auch daran gedacht, Literatur als Beruf ganz aufzugeben und sein Geld wieder als Buchhalter zu verdienen.
Es ging bei den diversen Anzeigen wohl vor allem um die religionskritischen Passagen, wobei Schmidts Antikatholizismus natürlich immer als Angriff auf den christlichen Geist der westdeutschen Restauration angelegt war. Es gab ein Hin und Her zwischen verschiedenen Instanzen – Verlag und Herausgeber wurden auch belangt –, bis das Verfahren schließlich beim Trierer Oberstaatsanwalt landete. Der begründete den Vorwurf der Pornographie bzw. Unzucht in der Anklageschrift mit ganzen sechs Textstellen. Zwei Beispiele für die – aus heutiger Sicht – lachhaften Vorwürfe seien hier genannt.
Das erste: »Zwei Bauchfreundinnen stöckelten vom Tanz nach Hause und trällerten schwipsig die Schlager.« Für heutige Leser muss man wohl erläutern, dass die Justiz bei den Bauch- statt Busenfreundinnen eine lesbische Bedeutung mitschwingen sah. Das zweite: »Das höllenfarbene Mädchen bog den schlanken Stielleib hinüber, Augen belichteten uns kurz, die Kleine wischelte einschlägig; und auch Erich fiel eben unnötigerweise aus der Rubrik ›Oberschlesisches Liebesgeflüster‹ noch ein: ›Warum nimmstu Fin-gärr? Nimm doch IHN!‹« Darauf das staatsanwaltliche Resümee: »Die Häufung dieser Schilderungen läßt erkennen, daß der Verfasser bestrebt war, auf den Leser einen sexuellen Reiz auszuüben. Offenbar wollte er bewusst eine Verletzung des natürlichen Schamgefühls herbeiführen.«
Zensur politisch, Zensur kommerziell
Heute, da die Schlachten an der Sittlichkeitsfront geschlagen sind, wirkt solches Anstoßnehmen grotesk. Leichter nachzuvollziehen ist dagegen die offen politische Zensur, die sich Schmidt bei seinem Roman »Das steinerne Herz« gefallen lassen musste. Zahlreiche polemische Bemerkungen gegen den Geist der Remilitarisierung, konkrete Angriffe auf christdemokratische Politiker und deren bis zur atomaren Eskalation bereite Christlichkeit wurden aus dem Text entfernt, der sonst nicht hätte erscheinen können. Seit Ende des 20. Jahrhunderts liefert die »Bargfelder Ausgabe«, die die Arno-Schmidt-Stiftung verantwortet, die betreffenden Informationen nach. Zu dem Roman, der nach langer Verzögerung 1956 im Stahlberg-Verlag erschien, verfertigte Schmidt in seinem Handexemplar den Vorspruch: »Das Originalmanuskript hat durch den Verleger eine weitgehende politische Entschärfung erfahren, von der einseitig die Bundesrepublik profitiert hat. – Bei einer späteren Auflage also zu berücksichtigen, ebenso wie die diversen Erotica im Urtext.« Berücksichtigt wurde das nicht, erst die Werkausgabe brachte die entsprechenden Informationen.
Solche Interventionen gingen natürlich nicht nur auf einzelne übereifrige Staatsanwälte oder ängstliche Verlagsleiter zurück. Die Anzeigen anlässlich »Pocahontas« zum Beispiel stammten von klerikalen Sittenwächtern im Erzbistum Köln mit besten Verbindungen ins Bundeskanzleramt. Und es gab ja in der Ära Adenauer, wie die Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges in ihrer Studie »Staat und politische Bildung« (2013) dokumentiert hat, sehr weit gehende Pläne, die öffentliche Debatte zentral zu steuern. So sollte auch das literarische und kulturelle Leben, das die CIA bereits mit ihrem Kongress oder der ad hoc gegründeten Zeitschrift Der Monat im Visier hatte, stärker kontrolliert werden. Es gab auch die Idee, über die Bundeszentrale für politische Bildung ein literarisches Standardwerk »bekannter und populärer antikommunistischer Schriftsteller« zu lancieren. Das Projekt wurde vom Bundesinnenministerium (BMI), der vorgesetzten Behörde der Bundeszentrale, forciert und fügte sich in eine breite publizistische Offensive ein.
Auf diese Weise sollte eine kulturelle Hegemonie durchgesetzt werden, die den Einfluss linker Schriftsteller zurückdrängt; genannt wurden im BMI-Papier Alfred Andersch, Arno Schmidt oder die Gruppe 47. Die Idee wurde nicht umgesetzt, was aber nicht an der Zurückhaltung der Akteure lag, sondern an Kompetenzstreitigkeiten, die sich die verschiedenen Behörden und Ausschüsse bei der Ausarbeitung ihres antikommunistischen »Generalstabsplans« (so die interne Terminologie) leisteten. Schmidt beschrieb diese Lage in seinem dystopischen Roman »Die Gelehrtenrepublik« (1957). Er zeichnete dort eine Welt, in der Europa und sonstige Weltteile von einem Atomkrieg zerstört wurden und jetzt Russen und Amerikaner (neben sich langsam bemerkbar machenden Chinesen) einen neuen Kalten Krieg aufziehen, notdürftig reguliert von einem »Interworld«-Ausschuss. In dieser Welt ist das humanitäre Kriegsrecht weit fortgeschritten, es verhindert zwar keine atomare Massenvernichtung menschlichen Lebens, doch die alte Idee eines wirksamen Schutzes der Kulturgüter im Krieg wurde realisiert.
Eine Schnapsidee, wie sich im Laufe des Romans herausstellt. Der gewiefte US-amerikanische Erzähler, eine Art investigativer Journalist, darf das Reservat der Künstler, die besagte Gelehrtenrepublik, besuchen, die sich auf einer künstlichen Insel »in den Rossbreiten« befindet und vor den Auf- und Nachrüstungsbemühungen der atomar zwar schwer angeschlagenen, aber immer noch kriegslüsternen Weltmächte geschützt werden soll. Was er dort erlebt, spottet jeder Beschreibung. Ein leitender US-Funktionär, leutseliger Literatur- und Kunstfreund, führt ihn auf der nach Ost und West streng geteilten Insel herum (wie Vergil seinerzeit Dante im Inferno) – und auch etwas in die Irre. Bis der clevere Journalist entnervt ausruft: »Mr. Inglefield: Wer sind Sie?!« Die Antwort kommt prompt und ohne Scheu: der Leiter der literarischen CIA-Abteilung.
Wie Militarisierung geht
Wenn Jahrzehnte später der juristische Sachverstand der Republik auf den Justizfall Schmidt zurückblickt, hört man erstaunlich abgeklärte Töne. Bernhard Opolony, Ministerialdirigent in einem bayerischen Ministerium, kommt im Journal der Juristischen Zeitgeschichte (2018) zu dem Fazit, dass die Zensur quasi der weiteren Entwicklung des Künstlers einen Dienst erwiesen habe: Obwohl das Strafverfahren ihn und seine Frau Alice »erheblichen Belastungen aussetzte, öffnete es ihm auch Raum, seine religionskritischen Positionen in der öffentlichen Diskussion zu festigen«. Schmidt durfte sich nämlich in einem Sammelband des Kirchen-, nicht Religionskritikers Karlheinz Deschner mit der Position »Atheist?: Allerdings!« zu Wort melden, mit dem Titel übrigens zitierte er sich selbst (»Pocahontas«).
Man stelle sich vor: So liberal ging es zu unter Adenauer – nach einigem Hin und Her. Man durfte sich wirklich als Atheist bekennen, musste allerdings aufpassen, dass man bei der literarischen Ausgestaltung seines Standpunkts nicht ins Visier der Justiz geriet. Der nachgeborene Jurist scheint aber so ehrlich, die politische Wucht des Verfahrens doch noch zu benennen, dazu zitiert er aus Alices Tagebuch. Als das Schreiben der Staatsanwaltschaft eintrifft, heißt es da: »Dies schlägt nun wie eine Bombe ein … Tiefe Verzweiflung. Das nun am Ende unseres Leidensweges! … Dazu die Radiomeldung, dass Jupp Angenfort, der Kommunistische Jugendliche 5 Jahre Zuchthaus v. d. Bundesrepublik gekriegt habe. Um Gotteswillen! Was tun, was tun? Fliehen? Zunächst Arno? Ostzone? Wohin sonst?«
Josef Angenfort war Landtagsabgeordneter der KPD in Nordrhein-Westfalen. Seine Immunität als Abgeordneter schützte ihn aber nicht vor Strafverfolgung, als Vorsitzender der 1953 verbotenen FDJ in Westdeutschland wurde er vom Bundeskriminalamt festgenommen. Versuche der FDJ, eine Volksbefragung gegen die Remilitarisierung durchzusetzen, wurden ja konsequent unterbunden, ihr Mitglied Philipp Müller 1952 bei einer Demonstration gegen die Wiederaufrüstung vor der Essener Grugahalle erschossen – der erste von der Polizei getötete Demonstrant in Westdeutschland! 1955 wurde Angenfort, wie Opolony referiert, zu seiner fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt – »wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens, wegen Geheimbündelei und Zugehörigkeit als Rädelsführer zu einer verfassungsfeindlichen Vereinigung. Es war wohl das erste Zuchthausurteil eines bundesdeutschen Gerichts wegen einer politisch motivierten Straftat nach 1945, das höchste Strafmaß, das überhaupt in dieser Zeit gegen Kommunisten verhängt wurde«. Die SPD unterstützte, wie erwähnt, die Kampagne gegen die Wiederbewaffnung nicht, aber immerhin bemerkte ihr damaliger Parlamentarischer Geschäftsführer Walter Menzler: »Vergleicht man dieses Urteil mit den milden Urteilen gegen Kopfjäger aus den hitlerschen KZ, gegen viehische Mörder, die nachträglich noch begnadigt werden, dann ist man empört darüber, dass Menschen vor dem Richterstuhl so behandelt werden. Wir sind in Westdeutschland wieder so weit, dass alle Gegner des Bundeskanzlers als Bolschewisten oder des Hochverrats angeklagt werden.« (Neues Deutschland, 27.3.2010)
So weit ist man in der Bundesrepublik, 70 Jahre später, auch wieder: Wer die Kampfansage gegen Russland nicht befürwortet, wer das Sponsoring eines ukrainischen Stellvertreterkriegs und die forcierte Aufrüstung bis hin zur Wiedereinführung der Wehrpflicht ablehnt, ist ein »Putin-Versteher«, ein »Engel aus der Hölle«, ein »Lumpenpazifist« – jedenfalls ein verdächtiges Subjekt, das tendenziell als Werkzeug oder Helfershelfer des Feindes zu verbuchen ist. Begünstigt wird das natürlich auch dadurch, dass seit einem Dreivierteljahrhundert die Gegnerschaft zu einer östlichen Großmacht zur deutschen Staatsräson gehört.
Denn von deutschem Schuldbewusstsein war an der Stelle nichts zu bemerken. Bekanntlich hat Bundespräsident Walter Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung 2021 anlässlich 80 Jahre »Unternehmen Barbarossa« präsidial-verlogen geklagt. Dass Deutschland seinen Vernichtungskrieg im Osten startete, um Lebensraum für die deutsche Volksgemeinschaft zu schaffen, störende Untermenschen zu versklaven oder auszurotten, habe sich »nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt«, wie es sich eigentlich gehört hätte. Nein, »unser« Gedächtnis geht ganz eigene Wege, nach 1945 war »der Iwan« als bedrohliche Figur gleich wieder präsent.
Das antirussische Feindbild ist im Grunde seit Adenauers Zeiten, nach einigen Schwankungen im Fall von Gorbatschow, Jelzin und Putin, intakt geblieben, »eingebrannt« im volkskörperlichen Gedächtnis. Wie es verankert wurde, kann der Blick zurück auf die 1950er Jahre verdeutlichen, auch auf die Texte von Arno Schmidt. Er war alles andere als ein Parteigänger des Marxismus-Leninismus und hatte von kommunistischer Theorie keine Ahnung. Wenn er in seinen dystopischen Romanen die zwischen Ost und West geteilte Zukunftswelt zeichnete, bekamen die Russen wie die Amerikaner gleichermaßen ihr Fett weg. Im Prinzip jedenfalls, im Detail lieferte er Einblicke ins östliche Leben, die gar nicht zu der antikommunistischen Brille passten, die damals verbindlich war.
Schmidt war, solange er sich noch traute, politische Ansichten¹ zu äußern, ein Anhänger pazifistischer Positionen, wie sie etwa die GVP vertrat. Aber gerade mit solchen Ohne-mich-Standpunkten, die sich nicht in die angesagte patriotische Formierung einreihen lassen, muss bei Kriegsertüchtigung aufgeräumt werden. Das kollektive Feindbild lässt keine distanzierte Haltung zu. Das betrifft dann noch die letzten Winkel des kulturellen Lebens, die Massenunterhaltung sowieso. Da ist eine Demokratie im Fall des Falles genauso rigoros wie die von ihr gebrandmarkten Unrechtsstaaten. Vielleicht wird es dann im Rückblick, Jahrzehnte später, wieder als kurioses Ereignis dokumentiert.
Anmerkung
1 »Kaff«, der letzte dystopische Roman, erschien 1960, danach folgten zehn Jahre Pause bis zu »Zettel’s Traum«. Dazwischen veröffentlichte Schmidt neben einigen Funkessays nur noch die ländlichen Erzählungen, die in »Kühe in Halbtrauer« (1964) versammelt sind. In der ersten, »Windmühlen«, schlägt der Erzähler gleich die neue Tonlage an: »Und der Mund schnappte mir von alleine zu; denn ich bin wie jeder anständige Mensch, meiner Ansichten oftmals müde.« In der zweiten (»Der Sonn’ entgegen«) ist der anwesende Dichter mehr eine Witzfigur: »Er kam sich gern als ›unbequemer Autor‹ vor; (dabei war er vollkommen fingerzahm, wie sich’s für den meinungsfreien Westen gehört.« In der dritten (»Schwänze«) gibt es nur noch einen abgehalfterten Autor, der für Provinzzeitungen »Menagerie-Artikel« über den Literaturzirkus schreibt: »An die großen Blätter kommt man nicht ran; deren Aufgabe ist es ja anscheinend, die ›Experimentellen‹ zu finanzieren.« So ging Schmidts Weg ins selbst gewählte Abseits.
Arno Schmidt: Es ist also Krieg irgendwo. Ein Lesebuch. Hrsg. v. Susanne Fischer u. Michaele Nowotnick. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 264 Seiten
Johannes Schillo schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. März 2024 über die Gesinnungswende in Kriegszeiten
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
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Leserbrief von Oliver Brömme (28. Januar 2025 um 19:25 Uhr)Ein im ganzen schöner und fast gerechter Artikel. Arno Schmidt hat sich aber nach »Kaff auch Mare Crisium« nicht nur nicht verzettelt oder politische Äußerungen eingestellt, sondern mit »Die Schule der Atheisten« 1972 einen eminenten Roman veröffentlicht, der an politischem Weitblick (und an Schönheit) alles überragt, was ich von westdeutschen Autoren kenne. Und zwar weit. Schließlich verhandeln in dem Buch die Amerikaner mit der zweiten übriggebliebenen Großmacht: China. (Und das machen sie auch nur, weil Gefahr aus dem All droht. Mehr an Realismus geht nicht.) Als Ort dieser Verhandlungen wird ein Reservat an der Eider ausgewählt, wo die nach dem großen Krieg noch verbliebenen Deutschen hausen. Der neutrale Ort par excellence – politisch nullwertig. Der Realismus geht mit schärfstem Sarkasmus einher; die Komik, die Schmidt erzeugt, hat immer ihre zwei Seiten. Das Buch ist das gelungen Komischste, was die Bundesrepublik literarisch zu bieten hat, und man staunt über die Gabe des Einsiedlers Schmidt, ohne je anders als Objekt mit Politik in Berührung gewesen zu sein, derartige Fabeln zu erfinden. Nicht umsonst hat Peter Hacks sich gefragt, für welches Kunstereignis in der Bundesrepublik nicht Arno Schmidt verantwortlich sei. Dringende Lektüre-Empfehlung für den Autor des Artikels also.
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