Teuerungswelle ohne Tumulte
Von Rudolf StumbergerDer Blick auf den Kassenzettel vom Supermarkt macht klar, wie die Dinge stehen: Zwar ist die Inflation zurückgegangen, die Teuerung bei Lebensmitteln und in der Gastronomie aber bleibt. In München, der teuersten Stadt Deutschlands, macht sich das besonders bemerkbar. Vor allem bei denen, die sowieso wenig Geld im Beutel haben.
So wie bei Siglinde Baier (Name von der Redaktion geändert). Sie wohnt in München Waldtrudering, für ihre Zweizimmerwohnung mit 52 Quadratmetern zahlt die 79jährige Rentnerin 900 Euro Miete warm. Ihre Rente beträgt aber nur 1.233 Euro, sie leidet seit Jahrzehnten an Multipler Sklerose und wurde früh arbeitsunfähig. Mit den Bezügen aus der Grundsicherung im Alter – das ist die Sozialhilfe für Senioren – hat sie an die 550 Euro pro Monat zum Leben. »Bevor ich einkaufen gehe«, so die Rentnerin, »schaue ich mir genau die Sonderangebote der Supermärkte in der Umgebung an«, sie ist auf diese Schnäppchen angewiesen. Die Teuerungen bemerkt sie seit etwa zwei Jahren. Neulich hat sie sich über den Butterpreis gewundert: 2,33 Euro hat sie für ein halbes Pfund bezahlt: »Dabei war das doch schon ein Sonderangebot.«
»Rekordpreis: Butter ist so teuer wie nie«, titelte dann Anfang Oktober auch der Bayerische Rundfunk. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes zahlten die Verbraucher im August 2024 für das Streichfett 41 Prozent mehr als 2020. Ein geringes Angebot treffe auf rege Nachfrage, auch bedingt durch das anlaufende Weihnachtsgeschäft bei Backwaren. Außerdem gebe es immer weniger Milchkühe im Land, und der Import sei zurückgegangen. Ursächlich verantwortlich für die allgemeine Teuerungswelle sei der Anstieg der Preise insbesondere auf Energie im Gefolge des Kriegs in der Ukraine. So stieg nach Angabe des Statistischen Bundesamtes von Dezember 2021 zu Dezember 2022 der Preis von Sonnenblumenöl um 77,5 Prozent, von Zucker um 65 Prozent und von Käse und Quark um 39,9 Prozent.
Das macht sich alles in den Backstuben deutlich bemerkbar. Auf Höhenflug befindet sich zum Beispiel der Preis für die Brezn. Im Schnitt kostet sie aktuell in »normalen« Bäckereien ohne Discounterpreise knapp 94 Cent, vor zwei Jahren war sie noch für 85 Cent angeboten worden. Davor gab es das Backwerk auch schon mal für 70 Cent. Wie sich der Preis aktuell zusammensetzt, ist eher kompliziert: So ging der Mehlpreis nach Beginn des Ukraine-Krieges stark nach oben, ist inzwischen aber wieder gesunken. Steigende Energiepreise machen sich nun nach dem Auslaufen langfristiger Verträge mit Energieversorgern bemerkbar. Den größten Kostenfaktor für die Bäckereien stellt mit bis zu 50 Prozent das Personal dar.
So kommt es, dass in Konditoreien mittlerweile das Stück Torte 3,80 Euro und mehr kostet. Für Siglinde Baier ist deshalb klar: »Ich verkneife mir den Kuchen.« Statt dessen brüht sie sich den Kaffee zu Hause auf und bäckt selber. »Für das, was ich im Café zahle, kann ich mir ein ganzes Päckchen Kaffee kaufen«, so ihre Rechnung. Überhaupt, essen gehen ist für die Rentnerin weitgehend tabu: »Das mache ich nur noch ganz, ganz selten.«
Neben dem Anstieg der Energie- und sonstigen Kosten schlägt in der Gastronomie seit Auslaufen der Coronasonderregelung nun auch wieder der normale Steuersatz von 19 Prozent zu Buche. Damit wird der Besuch eines Restaurants inzwischen fast zum Luxusgut, jedenfalls für die weniger Betuchten. »Deutlich überdurchschnittlich von der Teuerung betroffen sind Alleinlebende mit geringem Einkommen«, konstatierte die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung vergangenes Jahr. Generell seien ärmere Haushalte stärker von der Inflation betroffen, »da Nahrungsmittel und Haushaltsenergie, bei denen kaum gespart werden kann, ein sehr hohes Gewicht in ihrem Warenkorb haben«. Die geringste haushaltsspezifische Belastung durch die steigenden Preise wiesen die Singles mit einem hohen Einkommen auf. Zwar ist inzwischen die Inflationsrate auf unter zwei Prozent gefallen, »allerdings wird die Teuerungswelle der Jahre 2021 bis 2023 sowohl beim Preisniveau insgesamt als auch im wichtigen Bereich Energie bis auf weiteres deutliche Spuren hinterlassen«, so die Stiftung in einer aktuellen Analyse.
Ist für den Single mit hohem Einkommen ein Schweinebraten zum Preis von 18 Euro oder gar noch mehr kein Problem, sieht es für die normalverdienende Familie mit zwei Kindern schon anders aus. Fast 100 Euro dann für den Wirtshausbesuch am Sonntag hinzublättern, ist nicht jedermanns Sache. Manche Wirte versuchen, die Teuerung zu kaschieren, indem sie zwar die Preise nicht anheben, dafür aber die Leistung reduzieren: Plötzlich gibt es den Rinderbraten mit Spätzle nur noch ohne Salat, der dann extra bezahlt werden muss. Andere verlangen jetzt einfach 7,50 Euro für eine Leberknödelsuppe.
Kein Wunder, dass die Tafeln Hochkonjunktur haben und die Zahl ihrer »Kunden« steigt. Siglinde Baier allerdings macht davon keinen Gebrauch. Dafür sieht sie sich im Supermarkt nach reduzierten Waren um, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist: »Da gibt es 30 Prozent Rabatt«, weiß die Rentnerin. Und sie wird vom Verein »Ein Herz für Rentner« unterstützt, etwa wenn besondere Ausgaben anstehen. Der Verein hilft seit 2016 bundesweit bedürftigen Senioren. »Manche haben am 20. des Monats noch zehn Euro im Geldbeutel, das reicht nicht für Medikamente oder Lebensmittel«, weiß Vorständin Sandra Bisping. Die Teuerungen bei den Lebensmitteln treffe die Bezieher der Grundsicherung im Alter schwer. Der Verein hilft mit Lebensmittelgutscheinen oder auch einer Obst- und Gemüsebox, die alle zwei Wochen geliefert wird.
Und Verena Bentele, Vorsitzende des Sozialverbandes VdK, warnt: »Rentnerinnen und Rentner, die nur wenig Geld zur Verfügung haben, kommen angesichts der hohen Lebensmittelpreise an ihre Grenzen. Eine gesunde Ernährung ist kaum möglich, viele sind froh, wenn sie am Ende des Monats überhaupt noch etwas Warmes auf dem Teller haben.« Ein großes Problem sei, dass viele ältere Menschen die Sozialhilfe, also Grundsicherung im Alter, oder auch Wohngeld gar nicht erst beantragten – entweder, weil sie nicht wissen, dass sie darauf Anspruch haben, oder weil sie sich schämen.
Statt reformierter Grundrente aber fordert etwa die FDP ein höheres Renteneintrittsalter. Und die sozialen Folgen der Teuerungen kommen in den Medien kaum vor. Wo bei horrenden Mieten noch Proteste stattfinden, bleibt es ruhig an der Teuerungsfront. Das war nicht immer so. So war der Bierpreis im 19. Jahrhundert in Bayern ein deutliches Zeichen dafür, wo vor allem für die ärmere Bevölkerung der Spaß ein Ende hatte. Im Mai 1844 kam es in München wegen einer Erhöhung des Preises für die Maß Bier zu Tumulten, Tausende Bürger randalierten in den Biergärten und Wirtshäusern wegen der Teuerung. Die Polizei rief das Militär zu Hilfe, aber die durstigen Soldaten verbrüderten sich mit den Bierrebellen. Nach vier Tagen musste König Ludwig I. den Bierpreis wieder senken. Würde sich Geschichte wiederholen, dann hätte Ende September vergangenen Jahres eigentlich ein Wuttsunami über die bayerische Landeshauptstadt hinwegrollen müssen. Was war geschehen? Der Preis für die Maß Bier auf dem Oktoberfest war auf stolze 15 Euro geklettert. In der Münchner Innenstadt ist ein Preis von über fünf Euro für die Halbe Helles längst normal. Ein Index für die allgemeine Teuerungswelle, die derzeit die Geldbeutel der Bürger leerspült. Aber Proteste gibt es bislang keine. Die Gutverdienenden zucken höchstens mit den Schultern.
Teuerung und Mietenhorror sorgen in München langfristig dafür, dass soziale Ausgrenzung und ökonomisch bedingte Vertreibung in der Stadt zunehmen. Dies geschieht schlicht dadurch, dass die Mieten auf dem freien Markt nur noch ab einer bestimmten Einkommensklasse bezahlbar sind. Um den Rest an Wohnungen mit erschwinglichem Mietzins ist ein harter Konkurrenzkampf entbrannt, also um Sozialwohnungen oder Genossenschaftswohnungen. Michael B. zum Beispiel war schlicht am Verzweifeln: Nach der Trennung von der Partnerin musste er sich eine neue Wohnung suchen, bei seinem Gehalt als städtischer Arbeiter ein hoffnungsloses Unterfangen. Hier wird der Kampf um bezahlbaren Wohnraum zwischen Niedrig- beziehungsweise Normalverdienern, Alleinerziehenden, EU-Arbeitsmigranten, Asylbewerbern und Geflüchteten ausgetragen. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der AfD. Michael B. hatte letztlich noch Glück, er kam dann doch bei einer Genossenschaft unter. Der 60jährige sieht aber mit Sorge seiner Rente in ein paar Jahren entgegen.
Dieses hohe Niveau der Mieten und Lebenshaltungskosten hat auch generell eine gesellschaftlich disziplinierende Wirkung: Nur wer mitmacht im Hamsterrad, kann sich das Leben in einer Stadt wie München noch leisten. Es sei denn, man gehört zum Kreis der Erben. Ein unangepasstes Leben etwa, auch auf niedrigem Niveau, ist so kaum mehr möglich. Freiräume wie in besetzten Häusern gab es in München ohnehin nie.
Zurück zu Siglinde Baier. Mit ihren Nachbarn unterhält sie sich nicht über die Teuerungen (»die wissen nicht, dass ich nur wenig Geld habe«), mit ihren Freundinnen schon. Die seien ebenso entsetzt über die Preise wie sie selbst. Und warum gibt es keine sichtbaren Proteste, so wie es sie auch gegen die horrenden Mieten in Großstädten gibt? »Es hat sich inzwischen jeder damit abgefunden, dass alles so teuer ist«, meint die Seniorin. Sie selbst aber nicht, besonders wurmt sie, dass die Rentenerhöhungen von der Grundsicherung aufgesogen würden. Ihre Reaktion: »Ich verfolge die Politik und mach mir meine Gedanken.« Und sie denkt daran, vielleicht eine Unterschriftenliste zu organisieren. Gegen die Teuerungen und für eine gerechte Rente.
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