Billiglohn und Tourischwemme
Von Hansgeorg HermannZehntausende Griechen blockierten am vergangenen Sonntag überall im Land Straßen und protestierten gegen eine Regierung, die unter ihrem rechten Premierminister Kyriakos Mitsotakis die juristische und politische Aufarbeitung eines schweren Eisenbahnunglücks quasi verweigert. Es ging, vordergründig, um die Katastrophe nahe dem kleinen Ort Tempi, wo am 28. Februar 2023 zwei Züge zusammenstießen und 57 meist junge Menschen auf der Reise von Athen nach Thessaloniki starben. In Wirklichkeit ging es bei dem Massenprotest am Wochenende um Grundsätzliches: Gegen die seit rund zehn Jahren rücksichtslos durchgezogene Privatisierung von Staatsbetrieben – Eisenbahn, Busse, Flug- und Seehäfen, Krankenhäuser –, mit der Mitsotakis die von Brüssel seit 2010 verordnete neoliberale Neuordnung an der Ägäis abschließen will.
»Tausende wollen die Wahrheit«, titelte am vergangenen Montag die kretische Regionalzeitung Chaniotika Nea – aber natürlich wissen die elf Millionen Griechen längst, dass ihre Kinder auf den Gleisen von Tempi Opfer der Reduzierung von Personal wurden. Die Weichen für die beiden Züge stellten in der Katastrophennacht vor zwei Jahren im Schnellverfahren angelernte Kräfte des italienischen Käufers der ehemaligen OSE (Organismos Siderodromon Elladon), die von den politisch Verantwortlichen seither als die einzig Schuldigen präsentiert werden. Der Europäischen Staatsanwaltschaft, die sich des Falles annahm, verweigerte Mitsotakis’ rechtsnationale Mehrheit im Parlament die Vernehmung der früheren Verkehrsminister Christos Spirtzis und Konstantinos »Kostas« Karamanlis.
Der Regierungschef, seit seiner Ausbildung in den USA ein Anhänger von »schlankem Staat« und der »Heilkräfte des Marktes«, setzt seit 2019, als er mit seiner Partei Nea Dimokratia (ND) zum ersten Mal an die Macht kam, auf Großprojekte. Seinen Entwicklungsplan »Kreta 2030« etwa lässt Mitsotakis die Steuerzahler knapp acht Milliarden Euro Kosten. Im Bau sind, wie er jüngst stolz verkündete, »einer der größten Flughäfen Europas« in der Region Kastelli nahe der kretischen Metropole Heraklion sowie die gewaltige neue Autobahn VOAK (Nordachse), die die beiden Enden der langgestreckten Insel verbinden und den erhofften Touristenstrom schnellstens über die entstehenden Hotelburgen verteilen soll. Der Plan ist klar: Die Regierung öffnet dem Massentourismus einen breiteren Zugang, der – so die Statistiken unabhängiger Institute – bisher rund 810.000 neue Stellen geschaffen und die schlechten Ziffern des Arbeitsmarktes zumindest auf den ersten Blick positiv verändert habe. Aus den zeitweise mehr als 30 Prozent Beschäftigungslosigkeit wurden nach Regierungsangaben inzwischen rund sieben Prozent, Tendenz fallend. Unberücksichtigt blieben dabei freilich die bis zu 600.000 jungen Menschen, die ihre Heimat in den sogenannten Krisenjahren seit 2012 wegen Perspektivlosigkeit verlassen haben.
Unberücksichtigt bleiben bei Mitsotakis’ Elogen auch die sozialen Bedingungen, unter denen man sich Achtung bei ausländischen »Investoren« – Hedegefonds, Immobilienhaien, Logistikkonzernen – verschafft habe: Mit einem gesetzlichen Mindeststundenlohn von 4,50 Euro – Stand Januar 2024 – stehen griechische Lohnabhängige zusammen mit Bulgaren oder Rumänen am untersten Ende der EU-Skala.
Mitsotakis’ Infrastrukturpläne, jubelte man im Oktober 2024 bei Elxis, einem der größten Immobilienmakler Europas, würden dem Land ein erstaunliches »Upgrade« verschaffen – den Bau von »Straßen, Jachthäfen und Krankenhäusern«, selbstverständlich alles in privater Hand, organisiert von den reichsten Unternehmern: Die zehn größten Profiteure der Maßnahmen unter den griechischen Milliardären produzieren rein gar nichts. Sie zahlen wenig oder gar keine Steuern, unterhalten Reedereien und Banken oder verscherbeln Immobilien – wie Mitsotakis’ geschätzte 2,5 Milliarden Euro schwerer Spezi Spyros Latsis. Auch das Militär und dessen Waffenlieferanten können nicht klagen. Der Haushaltsplan für 2025 sieht die Verdopplung des Wehretats von 3,5 Milliarden Euro im Jahr 2019 auf nunmehr bis zu acht Milliarden Euro vor.
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