Die Swadeshi-Maschine
Von Peter Schadt
Indien wird (nicht nur) von Premierminister Narendra Modi regelmäßig als die »größte Demokratie der Welt« vorgestellt. Mit seinen etwa 1,4 Milliarden Einwohnern ist es das einwohnerstärkste Land der Erde. Dennoch sind hierzulande politökonomische Analysen des südasiatischen Subkontinents im Verhältnis zu solchen seines Nachbarlands China selten. Was seltsam ist, denn gerade die politische Ökonomie der Digitalisierung Indiens erweist sich als interessanter Gegenstand, da staatliche Programme zur Förderung von Informationstechnik und Computerisierung schon in der Phase der Staatsgründung von Bedeutung waren und bis heute eine zentrale Rolle im Land spielen.
Mit der Unabhängigkeit Indiens von den Briten begann das erste, breit angelegte Programm zur technischen Innovation des Landes. Bereits zur Staatsgründung beschwor der erste Ministerpräsident Jawaharlal Nehru eine »wissenschaftliche Geisteshaltung« seines Landes und rückte die Förderung von Spitzentechnologien in den Fokus seiner Politik. Keineswegs selbstverständlich setzte sich sein Parteigenosse Mahatma (Mohandas Karamchand) Gandhi für einen deutlich technikkritischeren Kurs ein, der die moderne Maschinerie nicht mit der nationalen Unabhängigkeit, sondern mit der kolonialen Unterdrückung gleichsetzte. So identifizierte Gandhi die moderne Technik sowie Wissenschaft allgemein, samt Naturgesetzen, mit dem Kolonialismus.¹ Nehru hatte hier bereits vor der Unabhängigkeit eine konträre Position. So wurde der »technologische Imperativ«² zum Teil der Gründungsakte des postkolonialen Staates.
Bereits in den 1950er Jahren wurden so unter Nehru ein Programm zur Computerisierung und damit Digitalisierung Indiens aufgelegt, das vor allem Forschung an den indischen Hochschulen sowie die Gründung von entsprechenden Instituten umfasste. »In der Vision eines sich – durch Maschinen, Experten und Know-how – vom Ausland emanzipierenden Indiens (…) schien nicht weniger als die ›Souveränität‹ der Nation versprochen«.³ Damit knüpfte Nehru an die Swadeshi-Bewegung (abgeleitet aus dem Sanskrit: »swa« – selbst, »desh« – Land: eigenes Land) Anfang des 20. Jahrhunderts in Bengalen an, die sich der Suche nach ökonomischer und politischer Autonomie Indiens verschrieben hatte. Entsprechend wurde der Computer in Indien gerne als Swadeshi-Maschine bezeichnet: Der Computer galt als mehr als nur ein Symbol für die nationale Unabhängigkeit, sondern war vielmehr ein Beitrag zum Nation-Building des jungen Staates, auch wenn er erst mal von den Großmächten importiert werden musste, um eine indische Intelligenzija an ihr auszubilden.
Industrie als Voraussetzung
Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit war das britische Mandat zwar beendet, aber eine indische Nation noch überhaupt nicht gegründet. Für deren Programmatik und Durchsetzung sorgte der Indian National Congress (INC), die führende Kraft der Unabhängigkeitsbewegung und die Partei, die von 1947 bis zum Jahr 1977 durchgängig alle Premierminister stellte. Der INC vertrat den Anspruch, nicht nur eine geeinte, sondern auch eine führende Nation zu gründen. Dafür setzte Nehru auf eine Konkurrenz mit dem Westen und der Sowjetunion bei der Frage der Hochtechnologie und die Förderung einer entsprechenden Industrie. Ein selbstverständlicher Anspruch war das keineswegs, denn zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit des Landes arbeiteten noch 70 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft, nur zehn Prozent in Klein- und Handwerksbetrieben sowie der Industrie, 14 Prozent in der Handels- und Dienstleistungsbranche. Rund 85 Prozent der Bevölkerung lebten in ländlichen Gebieten. Indien zählte zudem zu einer der ärmsten Regionen der Welt. Ungewöhnlich war indes das breit ausgebaute Telegraphen- sowie das Eisenbahnnetz, das von den Briten übernommen werden konnte.
Zunächst aber stand es um diese Ziele nicht gut, musste die in Gründung befindliche Nation doch erst einmal eine politische Teilung der Volksmassen hinnehmen. Von der Kolonialmacht oktroyiert und der Muslimliga nachhaltig gefordert, wurde die Aufteilung in die unabhängigen Staaten Indien und Pakistan umgesetzt, zwölf der etwa 400 Millionen ehemals den Briten unterworfenen Menschen flohen aus dem einen neuen Staat in den anderen, wobei mehr als eine halbe Million Menschen der Gewalt dieses Nation-Building-Prozesses zum Opfer fielen.
Einerseits stand die ökonomische Räson des modernen Indien mit dieser Gründung fest. Die Kongresspartei trat an, aus der kolonialen Erbmasse die sprudelnde Quelle kapitalistischen Reichtums zu machen. Andererseits wechselten die politischen Strategien für diesen Zweck im Laufe der Geschichte Indiens. Nehru gründete das moderne Indien als einen Staat mit einer Mixed Economy, die planwirtschaftliche Elemente zur Bewirtschaftung seiner kapitalistischen Ökonomie benutzte. So sollte die Wirtschaft vorangebracht und das eigene Kapital gegenüber dem Weltmarkt abgeschirmt werden. Der indische Staat trat daher als politischer Gesamtkapitalist in Aktion, schöpfte und vergab Kredite an Privatunternehmen und gründete eigene. So entstand in Indien nach und nach eine Schwer-, Energie- und Rüstungsindustrie sowie ein eigener Nuklearsektor.
Ausländisches Kapital wurde dabei nur sehr bedingt zugelassen, vor allem und auch fast nur da, wo sich die Kongresspartei damit ein Vorankommen bei der »grünen Revolution« versprach, also der Produktivkraftsteigerung der indischen Landwirtschaft. Ein auch international bekanntes Beispiel ist sicherlich die US-Chemiefabrik in Bhopal, wo sich am 3. Dezember 1984 ein folgenschwerer Chemieunfall mit Tausenden Toten ereignete. Dem Weltmarkt verschloss sich Indien aber nicht generell, sondern nur als unterlegenes Objekt auswärtiger Geschäftsinteressen. Umgekehrt exportierte das Land Tee, Baumwolle und Textilien für den Weltmarkt. Das Ziel war es, sich dem globalen Vergleich der Ausbeutungsproduktivität so lange nicht zu stellen, bis es ihm gewachsen ist. Die so entstandene Industrie und der in den Städten immer weiter verbreitete informelle Sektor ist für die größten Teile des indischen Volkes aber nach wie vor keine Lebensgrundlage.
Brain-Drain und Devisen
Immer mehr Teile des indischen Volkes gingen so, teils schlecht, aber teils auch sehr gut ausgebildet, ins Ausland und zählten dort zu einer der größten Diasporabewegungen der modernen Welt. Die schon in der alten Heimat ökonomisch Überflüssigen bilden nun millionenfach die unter schlechtesten Bedingungen arbeitende migrantische Unterschicht in der Golfregion, der andere – und noch größere Teil – lebt in den USA und ist dort mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 100.000 US-Dollar pro Jahr die ethnische Minderheitengruppe mit dem höchsten Einkommen – noch vor der chinesischen Diaspora und sogar vor der traditionellen weißen und angelsächsischen Elite.⁴ Entsprechend hat die indische Regierung ihr Misstrauen gegen den Brain-Drain auch begraben und begrüßt die Auslandsinder als willkommene Quelle für Devisen.
Besonders die gutverdienenden Non-Resident Indians (NRI) entstammen zu großen Teilen dem ebenfalls zur Mixed Economy gehörenden Aufbau eines großen Universitätswesens, mit dem eine riesige Masse an Ingenieuren, Wissenschaftlern und Informatikern ausgebildet wurde, die in der heimischen Ökonomie in dieser Menge gar nicht gebraucht werden. Das allerdings ist kein Planungsfehler, sondern ein weiteres Sinnbild für die Ambitionen der indischen Nation, besonders in der Hochtechnik und der Digitalisierung auf Weltniveau konkurrenzfähig zu werden.
Trotz aller Erfolge und eines kontinuierlichen kapitalistischen Wachstums stand die Regierung – besonders im Vergleich zu den chinesischen Wachstumsraten – kritisch zu den eigenen Anstrengungen, sowohl ökonomisch als auch politisch: Wirtschaftlich sah sie immer noch weite Teile – vor allem der Landbevölkerung – als ungenutzte Ressource; politisch agierte sie mehr und mehr gegen die Abschottung der indischen Märkte vor ausländischem Kapital. Besonders letzteres wurde immer weniger als Schutz der eigenen Ökonomie und immer mehr als politisch motivierte Schranke interpretiert, die den weiteren Aufwuchs der indischen Wirtschafft behindere. Diese kritische Einschätzung wurde durch das Ende der Sowjetunion noch einmal verschärft, mit der nicht nur politisch neue Weichen gestellt wurden, sondern auch ökonomisch ein wichtiger Handelspartner bei kostengünstigen Importartikeln für Indien entfiel.
Geburt der digitalen Nation
Das Ende der gemischten Ökonomie wurde mit der Wahl von Narasimha Rao 1991 eingeleitet. Diese wirtschaftliche Liberalisierung wurde später unter der noch heute regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) fortgesetzt, die spätestens mit ihrer Koalitionsregierung 1998 die bestimmende politische Partei Indiens wurde. Indien verschloss sich nun auch nicht länger dem ausländischen Finanzkapital. Die Liberalisierung sorgte dafür, dass vor allem eine Handvoll Bundesstaaten in erheblichem Umfang internationales IT-Kapital anzogen, besonders Bangalore, das nach dem Vorbild Chinas zur Sonderwirtschaftszone (SWZ) erklärt wurde, in der keine Beschränkungen für ausländische Direktinvestitionen mehr gelten. So wurde innerhalb eines Jahrzehntes aus den bisher ökonomisch ungenutzten und die Basis für die große indische Diaspora stellenden IT-Spezialisten, Informatikern und Technikern das menschliche Inventar eines modernen indischen digitalen Kapitalismus.
Ende der 1990er Jahre hatte sich der Subkontinent den Ruf als »Backoffice der Welt« erarbeitet, und große Firmen siedelten sich in Indien an. Technisch machte das die zunehmende globale Vernetzung durch das Internet möglich. Der Import von Produktionsmitteln wurde für zollfrei erklärt, ebenso der Export der dort produzierten Waren; zudem wurde die Steuer auf Gewinne für die ersten fünf Jahre für alle Investoren ausgesetzt. Diese Kombination aus Subvention und massenweise hochgebildeten, aber (bisher) kaum in der heimischen Ökonomie gebrauchten Digitalisierungsexperten, zog mit IBM, Microsoft, Siemens und SAP die größten Player der Branche an. Heute haben nahezu alle Techkonzerne Niederlassungen in Indien, auch Apple, Nvidia und Alphabet.⁵
Zum ausländischen Kapital gesellten sich immer mehr einheimische Softwareunternehmen, die es innerhalb eines Jahrzehntes von Startups zu Weltkonzernen brachten. Dieses Wachstum betraf nicht nur die digitalen Kapitale, einige Branchen waren aber weiterhin den ausländischen Investoren verschlossen, so die Energie-, Rüstungs- und Nuklearindustrie. Das Platzen der »Dot.com-Blase« und das Ende der »New Economy« wirkten auf Indien genau gegenteilig: Die enormen Verluste vieler Techunternehmen führten zu einer Welle an Auslagerungen US-amerikanischer Unternehmen nach Indien und stärkten die heimische Digitalisierungsbranche. Erkauft wurden diese Erfolge mit immer höheren Anteilen an ausländischen Investitionen in verschiedenen Bereichen und der damit einhergehenden Abhängigkeit vom Ausland, die Indien zeitgleich durch neue rote Linien zu begrenzen versuchte.
Durchdigitalisiert
Mit der Regierung unter dem bis heute regierenden Narendra Modi ab 2014 wurde die Kampagne »Make in India« für mehr industrielles Wachstum ins Leben gerufen und damit direkt an die Ratio des indischen Staatsgründers angeschlossen. Man versuchte, die indische Bevölkerung flächendeckend mit Ausweispapieren und Bankkonten auszustatten, zur einfacheren und korruptionsfreien Umsetzung der Sozialprogramme, sowie in- und ausländische Investitionen durch beschleunigte elektronische Genehmigungen zu erleichtern. 2015 wurden diese Maßnahmen unter der Kampagne »Digital India« verstärkt. Das Herzstück der Digitalisierung Indiens in den vergangenen Jahren ist das global einzigartige digitale Identitätssystem Aadhaar. Die Anmeldung bei dem digitalen Dienst ist formal freiwillig, zugleich fungiert die persönliche Identifikationsnummer als virtueller Personalausweis und dient als Identitätsausweis, nicht aber als Nachweis der Staatsbürgerschaft. Die Daten werden verknüpft mit Fingerabdrücken und einem Iris-Scan, Passfoto, Geburtsdatum, Wohnort und der Steuernummer. Mit 1,38 Milliarden Aadhaar-Nummern, die bisher erstellt wurden, erfasst das System 98 Prozent der indischen Bevölkerung und ist inzwischen die Grundlage für derartig viele staatliche und private Dienstleistungen, dass die Pflicht zur Anmeldung gar nicht per Gesetz verordnet werden muss. Man verlässt sich einfach auf den stummen Zwang der Verhältnisse. Damit verfügt Indien über die größte biometrische Datenbank der Welt.
Vorangekommen ist Indien aber nicht nur hinsichtlich der digitalen Erfassung der Bevölkerung und der Entwicklungs- und IT-Abteilungen. Apple begann 2017 damit, seine bisher vor allem in China ansässige Chipproduktion durch seinen Zulieferer Foxconn sukzessive in den südlichen indischen Bundesstaat Tamil Nadu zu verlegen. 2023 war dann Apple-Chef Tim Cook in Mumbai und Delhi, um dort die ersten beiden Apple Stores zu eröffnen. Das ist mehr als Symbolpolitik: »Im Geschäftsjahr bis März 2024 wurden in Indien I-Phones im Wert von 14 Milliarden US-Dollar zusammengebaut, was 14 Prozent der weltweiten Produktion entspricht. In den kommenden vier Jahren soll ein Viertel aller Apple-Telefone in Indien produziert werden«.⁶ Die ideologische Begleitmusik darf natürlich bei einem solchen Konkurrenzerfolg nicht fehlen: »Unternehmer Vishnu Ramdeo vom Indo-German Young Leaders Forum (IGYLF) beschreibt die dortige Arbeitskultur als zielorientiert. Das habe mit der Mentalität der Menschen dort zu tun«, zitiert ihn Natalie Mayroth.⁷
Produktive Armut
Ganz anders als die unproduktive Armut, die Ökonomen und Politiker auch in Indien immer wieder ausmachen, wenn auf Subsistenzbauern und in die Slums der Vororte geschaut wird, gibt es am indischen ITler ebenfalls eine Sorte produktive Armut zu studieren. Erstere hat nämlich den entscheidenden Mangel, dass sie auf keinen interessierten Abnehmer trifft und niemand Verwendung für die vom Geld abhängig gemachten Gestalten hat, die zugleich keines haben. Das gilt dann zumeist nicht nur als ökonomisch katastrophal und als politisches Versagen. Die entsprechende Kultur, die sich eben so einstellt, wenn man bar jeder Arbeit und jeglichen Geldes ist, wird dann abwechselnd als Folge, aber eben auch mal als Grund oder mindestens ein Faktor der Armut ausgestellt. Umgekehrt entdeckt man eben an der Armut, die sich in die profitable Ausnutzung als kostengünstigen Produktionsfaktor übersetzen lässt, gleich wieder eine besondere Kultur, die in diesem Fall allerdings für die Menschen spricht. So differenziert ist der Blick auf die global hergestellte Armut eben auch in Indien.
So leistet die Swadeshi-Maschine ihren Dienst für die indische Nation, von der Staatsgründung bis zum modernen Indien. Das Volk wird dabei für seinen Staat in Anspruch genommen: Von der amerikanischen Spitzenverdienerdiaspora bis zu den unschlagbar billigen IT-Spezialisten, die die Computer entwerfen und programmieren können, bis zu den Callcenterbeschäftigten, die sie im Akkord bedienen dürfen.
Anmerkungen:
1 Partha Chatterjee: Nationalist Thought and the colonial world. A Derivative Discourse, London 1986, S. 96 f.
2 Michael Homberg: Digitale Unabhängigkeit. Indiens Weg ins Computerzeitalter – eine internationale Geschichte, Göttingen 2022, S. 56
3 Ebd., S. 13
4 Bernhard Imhasly: Indien. Ein Länderporträt, Berlin 2016, S. 144
5 Natalie Mayroth: Digitales Indien. In: MIT Technology Review 8/2024, S. 15–20
6 Ebd.
7. Ebd.
Peter Schadt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. November 2024 über die doppelte Digitalisierung der Bildungsarbeit: Digitalisierung heißt Kontrolle.
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