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Aus: Ausgabe vom 07.02.2025, Seite 12 / Thema
Gewerkschaften

Sinnlose Verzichtsbereitschaft

Nur ein Verteilen des Schadens: Über die einzigartige Sozialpartnerschaft zwischen Volkswagen und IG Metall
Von Theo Wentzke
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Die Kampfbereitschaft der Arbeiter ist hoch, die Kompromissbereitschaft der Gewerkschaftsführung leider auch. Warnstreik im VW-Werk in Zwickau (2.12.2024)

Wenn ein deutscher Industriekonzern vom Schlage VW erklärt, sich in einer Krise zu befinden, wenn er sodann die Katastrophe meldet, dass sein Gewinn um zwei Drittel eingebrochen ist und jetzt nur noch bei 1,58 Milliarden Euro pro Quartal liegt, dann gibt das interessierten Wirtschaftsexperten viel Gelegenheit, sich über die Versäumnisse zu verbreiten, aufgrund derer unser einstiger Vorzeigeautobauer den Anschluss im internationalen Wettbewerb zu verlieren droht: Er hat eine falsche Modellpolitik betrieben, zu einseitig auf den chinesischen Markt gesetzt, die Transformation zur E-Mobilität verschlafen usw. Darüber lässt sich offenbar trefflich streiten. Über eines streitet man sich dabei nicht: Für die Sanierung seiner Gewinne wird sich der Konzern an seine Belegschaft halten.

Neue Offensive

In diesem Sinne wird Anfang September verkündet: Die Lohnkosten müssen unbedingt runter; für die Leiharbeiter stehen Entlassungen an, die auch für Teile der Stammbelegschaft nicht länger ausgeschlossen, vielmehr als veritable Option der Kostensenkung ins Spiel gebracht werden – von bis zu 30.000 gefährdeten Arbeitsplätzen ist da die Rede –; und auch Werksschließungen in Deutschland zieht der Konzern nun in Betracht.¹

Zu diesem Zweck kündigt VW auf einen Schlag wesentliche Posten des gemeinhin als »Haustarifvertrag« bezeichneten Konglomerats von Tarifverträgen, die der Konzern mit der IG Metall abgeschlossen hat: den Vertrag zum Einsatz von Zeitarbeit, den »Tarif plus«, welcher die Sonderbedingungen für bessergestellte Spezialisten und Führungskräfte regelt, den Ausbildungstarifvertrag und auch den seit langem geltenden »Zukunftstarifvertrag«, der betriebsbedingte Kündigungen sowie Standortschließungen bislang ausgeschlossen hat. Die gekündigten Posten vermitteln zunächst einen Eindruck darüber, was VW bislang schon alles getan hat, um den Faktor Arbeit an seinem deutschen Heimatstandort unter gewerkschaftlicher Beteiligung bedarfsgerecht herzurichten.

Der Rückgriff auf Leiharbeit war und ist im Konzern ein probates Mittel zur Sicherstellung einer stets zur wechselnden Bedarfslage passenden preisgünstigen Dienstbarkeit. Als das Prinzip der Festanstellung ergänzendes »notwendiges Flexibilitätsinstrument« hat es seinen festen und anerkannten Stellenwert in der Personalpolitik des Konzerns, der diese Beschäftigungsform zusammen mit dem Sozialpartner als »Zugangsweg in die Volkswagen-Stammbelegschaft« anpreist: Die »individuelle Chance auf Übernahme« besteht nämlich immer, sofern »im Unternehmen entsprechende Bedarfe bestehen« (Charta der Zeitarbeit im Volkswagen-Konzern). Hierbei fragt der Konzern nicht nur billige Arbeit nach, sondern er kümmert sich auch gleich selbst um das entsprechende Angebot: Er unterhält eine eigene Zeitarbeitsfirma namens Autovision, an der auch die Stadt Wolfsburg beteiligt ist.

Die angekündigte und in Teilen schon durchgeführte Reduzierung der Anzahl der Leiharbeiter wickelt er friktionsfrei darüber ab, dass er die entsprechenden Aufträge nicht erneuert; seitens des verleihenden Unternehmens stehen Massenentlassungen an: »Allenfalls für rund 1.500 der bisher 3.600 Zeitarbeitnehmer« sieht man »künftig noch Bedarf« (wiwo.de, 6.9.24). Passend zu diesem Gebrauch der unternehmerischen Freiheit, für die die Leiharbeit schließlich erfunden wurde, kündigt VW dann noch den erst im Jahr zuvor mit der IG Metall abgeschlossenen Vertrag zum Einsatz von Zeitarbeit. Die künftige Benutzung von Leiharbeitern will VW lieber ohne Sondervereinbarungen zu den deutlich günstigeren »tariflichen Konditionen der Zeitarbeit für die Branche« abwickeln.

In dem nun ebenfalls gekündigten Vertrag zur Ausbildung aus dem Jahr 2021 hat der Konzern seinen Zugriff auf nachwachsende Generationen lohnabhängiger Niedersächsinnen und Niedersachsen zu tragfähigen Vergütungskosten geregelt. Mindestens 1.400 neue Ausbildungsplätze pro Jahr inklusive Übernahmeperspektive hat der Vertrag vorgesehen, der eigentlich bis Ende 2025 hätte gelten sollen. Was sich für die ortsansässige proletarische Jugend und für deren Familien, in denen oft schon die Eltern- und Großelterngeneration bei VW gearbeitet hat, als Angebot an deren Bedarf nach einem Stück Berechenbarkeit der eigenen Erwerbsquelle und Lebensplanung dargestellt hat,² dient aus Perspektive des Konzerns eben dem umgekehrten Zweck, nämlich der Sicherstellung einer dauerhaften Verfügbarkeit passend qualifizierter und lohnend benutzbarer Arbeitskräfte. Wenn die vom Konzern ausgesprochenen Ausbildungszusagen nicht mehr zu dessen künftig erwartetem Bedarf an Arbeitskräftenachschub passen, werden sie eben zurückgenommen.

Die stolze Hauptsache der Sozialpartnerschaft bei VW besteht natürlich in den besonderen haustarifvertraglichen Regelungen für die 120.000 Beschäftigten der Stammbelegschaft. Dort wird für VW der Zugriff auf die ganze Palette der Arbeiterschaft als gemeinsam mit dem Sozialpartner ausgehandelte Lohnhierarchie kleinlichst geregelt: von den Arbeitern in der unmittelbaren Produktion über diverse Entwicklungs- und Verwaltungskräfte bis hinauf zu »Beschäftigten mit Spezialisten- oder Führungsfunktion« im »Tarif plus«. Überall ist die Gewerkschaft mit dabei und darf gemeinsam mit VW für Konditionen sorgen, die im Vergleich zu den ebenfalls mit der IG Metall ausgehandelten Flächentarifverträgen als um einiges attraktiver gelten.

Ein wichtiger Bestandteil dieses erlesenen Regelwerkes war der oben genannte Zukunftstarifvertrag. Dessen unerwartete Aufkündigung durch VW ist Hauptgegenstand der gewerkschaftlichen Aufregung. Die IG Metall wirft dem Konzern einen Verrat an seiner sozialen Verantwortung vor, die ihm aus seiner angestammten Rolle als größter »Arbeitgeber« und Wohlstandsstifter der Region doch erwachse, und beklagt sich darüber, dass mit dem Abschließen des Zukunftstarifvertrags doch wohl etwas anderes ausgemacht gewesen sei.

Entlassungen überflüssig

Das sozialverantwortliche Versprechen, nach dem die Gewerkschaft sich da zurücksehnt, wurde im Jahr 1994 feierlich abgegeben, nachdem der VW-Konzern Massenentlassungen angekündigt hatte und daraufhin mit der Gewerkschaft zu der Vereinbarung gekommen war, auf diese verzichten zu können, wenn die Beschäftigten dafür Arbeitszeitverkürzungen bei massiven Lohneinbußen in Kauf nehmen würden. Am Ende stand die Einführung einer 28-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich; im Gegenzug wurde die Beschäftigungssicherung ausgesprochen.

Das galt zwar schon damals als verantwortungsbewusster Tausch der Sozialpartner, ist aber der ökonomischen Sache nach nie ein wirklicher Tausch gewesen: Denn es ist zwar klar, was die Gewerkschaft in der Übereinkunft »zu geben« hatte – die Beschäftigten haben auf wesentliche Teile ihres Ertrags aus der abhängigen Arbeit verzichten müssen. Aber was hat die Konzernseite ihnen dafür eigentlich gegeben? Eben die Arbeit – zu den Bedingungen, zu denen der Konzern sie haben wollte. Zu verzichten hatte der insofern auf gar nichts. Den ökonomischen Nutzen der angedrohten Entlassungen hat er von der Gewerkschaft ja auch ohne Entlassungen zugestanden bekommen: Die hat die Gewerkschaft für ihn schlicht überflüssig gemacht, indem sie die geforderte Lohnkosteneinsparung anderweitig organisiert und den verlangten Schaden auf die gesamte Belegschaft verteilt hat.

Die zweite Etappe des traditionsreichen Agreements stammt aus dem Jahre 2006 und führt vor, dass sich so etwas auch für das Gegenteil, nämlich eine Ausweitung der Arbeit im Unternehmen, eignet. Am Anfang steht wiederum die Androhung von Massenentlassungen – diesmal kombiniert mit der Forderung nach einer massiven Ausweitung der Wochenarbeitszeit, um die verbleibenden Arbeitsplätze wieder rentabel zu machen. Das Versprechen auf Beschäftigungs- und Standortsicherung wurde am Schluss unter der Bedingung erneuert, dass die Gewerkschaft sich ein weiteres Mal zu massiven Zugeständnissen in der Lohnfrage bereitfand: Die Normalarbeitszeit wurde wunschgemäß wieder auf fünf Tage bzw. von 28 auf 33 bis 34 Wochenstunden angehoben – wohlgemerkt unter »Beibehaltung der jetzigen Vergütung«, also diesmal andersherum ohne Lohnausgleich. Das hat den größten Teil der Entlassungen glatt überflüssig gemacht.

Und auch 2024 ist VW nicht bereit, aufgrund dieses Vertrages auf irgendeine Maßnahme zu verzichten, die der Gebrauch seiner ökonomischen Freiheit gebietet. Wo dem Konzern seine alte Zusage inzwischen wie ein lästiges Relikt aus einer Zeit mit höherem Beschäftigungsniveau an unhinterfragten deutschen Standorten vorkommt, gehört sie eben weggeschmissen. Dass der Vertrag jederzeit mit einer dreimonatigen Frist gekündigt werden kann, war ja praktischerweise auch in ihm festgehalten. Mit dem Aussprechen der Kündigung zum Jahresende führt VW der Gewerkschaft eindrücklich vor, dass ihre kontinuierliche Verzichtsbereitschaft ihren Mitgliedern außer ihrem Verzicht nichts einbringt. Zu dieser Wahrheit passt es allzu gut, dass die IG Metall nachdrücklich auf den äußerst produktiven Ertrag hinweist, den nicht sie, sondern der Konzern jahrzehntelang vom vertraglich festgehaltenen »vertrauensvollen Pfad der konstruktiven Zusammenarbeit« hatte:

»Mit der Kündigung des Zukunftstarifvertrags sind allerdings weitere Konsequenzen verbunden. Was als Mechanismus zur Kosteneinsparung zu Lasten der Beschäftigten gedacht ist, könnte sich für Markenchef Thomas Schäfer schnell als finanzieller Dammbruch erweisen. Paradoxerweise führt die Aufkündigung nämlich zu einer automatischen Entgeltanhebung für die tariflichen VW-Beschäftigten (…). Mit der Wiederinkraftsetzung älterer Regelungen kommen finanzielle Vorteile zurück, die mit der Einführung der Viertagewoche vor Jahren abgeschafft wurden. Dazu gehören unter anderem eine 35-Stunden-Woche bei vollem Entgeltausgleich, zusätzliche Erholungszeiten von fünf Minuten pro Stunde, höhere Zuschläge für Überstunden und Sonnabendarbeit sowie Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld.« (tarifrunde-vw.de, 10.9.24)

Dass ihr die Sicherheit, die sie sich mit ihrer wiederholten Einwilligung in lauter finanzielle und arbeitszeitmäßige Nachteile hat erkaufen wollen, jetzt vor die Füße geworfen wird, nimmt die Gewerkschaft nicht als den Offenbarungseid über ihre Ohnmacht in der »Beschäftigungsfrage« wahr, dass sich eine dauerhafte Garantie der eigenen Benutzung eben auch mit noch so viel Lohnverzicht nicht erwirken lässt, sondern als mögliches Eigentor der anderen Seite, das die in ihrem vorschnellen Handeln vielleicht nicht bedacht haben könnte. Die IG Metall bleibt eben dabei, dass das Modell der Arbeitsplatzsicherheit, für das sie als vertrauensvoller Tarifpartner stehen will, ein vorteilhafter Deal für beide Seiten sei: sichere Arbeitsplätze als das höchste und wichtigste Gut der Lohnabhängigen gegen deren jederzeitiges Entgegenkommen bei allen erdenklichen Bedürfnissen des Konzerns nach Mehrarbeit, Unterbeschäftigung, Lohnkostensenkungen usw. Wie kann man darauf nur verzichten wollen?

Vom Weg abgekommen?

In der Kündigung der Verträge sieht die IG Metall insgesamt eine Abkehr des Konzerns von einem bewährten partnerschaftlichen Weg, der unter ihrer Mitgestaltung den Erfolg des Unternehmens garantiert habe:

»Jahrzehntelang war eins klar: Bei Volkswagen werden die Probleme mit und nicht gegen die Beschäftigten gelöst! Es war klar, Standortschließungen und Massenentlassungen haben im Werkzeugkasten des Managements nichts, aber auch gar nichts zu suchen! Das war auch die Grundlage für die Erfolge, und das muss auch so bleiben! Mit der Kündigung der Beschäftigungssicherung, von ›Tarif plus‹, der Übernahme der Auszubildenden und der Leiharbeit hat das Topmanagement auch den Weg der konstruktiven Zusammenarbeit gekündigt.« (Thorsten Gröger, Verhandlungsführer der IG Metall, 25.9.24)

Das will die IG Metall nicht zulassen. Wenn ihre Meinung in den Richtungsentscheidungen des Managements nichts mehr zählt, wenn Tabus gebrochen und heilige Kühe der sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit geschlachtet werden, sei das für beide Seiten fatal. So kündigt sie Widerstand im Namen der Betroffenen an: »Wer Ängste sät und mit der Zukunft unserer Kolleginnen und Kollegen pokert, wird erbitterten Widerstand ernten!« (Ders.)

Das Motto der Tarifrunde 2024 ist damit gesetzt.

Hauptsache Mitgestalten

Unter dem Eindruck der Kündigungen zieht die Gewerkschaft die turnusgemäß anstehende Tarifrunde nicht nur um einen Monat vor, sie widmet auch deren Hauptverhandlungsgegenstand – eigentlich wäre es »nur« um eine Entgeltanpassung gegangen³ – entsprechend um und stellt die Wiederinkraftsetzung sämtlicher gekündigter Bestandteile des Haustarifgeflechts ins Zentrum ihrer Forderungen: »Hände weg von der Beschäftigungssicherung! Finger weg von den Tarifverträgen! Alle Standorte müssen bleiben!« (tarifrunde-vw.de) Zugleich lässt sie von Anfang an wenig Zweifel daran, dass dafür altbekannte, harte Einschnitte nötig werden könnten:

»Angesichts der Krise bei Volkswagen hat sich IG-Metall-Chefin Christiane Benner offen für die Wiedereinführung der Viertagewoche beim Autobauer gezeigt. ›Wir sollten nichts unversucht lassen, um die Beschäftigung zu erhalten‹, sagte sie. Entsprechend könne eine Arbeitszeitverkürzung eine der Optionen sein. Allerdings müsste sich dafür die Arbeitgeberseite öffnen, die zuletzt kürzere Arbeitszeiten abgelehnt habe.« (tagesschau.de, 5.9.24)

Schließlich hat das in den 1990er Jahren doch schon einmal funktioniert. Der Vorschlag dokumentiert erstens die Gewissheit der Gewerkschaft, dass sie mal wieder nichts als einen Schaden für die Belegschaft zu verteilen hat. Dem angedrohten Arbeitsplatzabbau stellt sie die Perspektive entgegen, die Einsparungen unter der gesamten von ihr vertretenen Belegschaft so verteilen zu können, dass die angedrohten Entlassungen überflüssig werden. Sie dokumentiert damit zweitens ihren unverwüstlichen Willen, alles mitzugestalten, was der Weltkonzern auf die Tagesordnung setzt. Für jede Lage hat sie entsprechende sozialverträgliche Vorschläge auf Lager.

In der ersten Verhandlungsrunde gibt sie sich daher radikal empört darüber, dass die Konzernseite gar nicht daran denkt, gleich zu Beginn der Auseinandersetzung offen damit herauszurücken, wie genau sie den Arbeitsplatzabbau und die Standortschließungen bewerkstelligen will. Der Konzern verschweigt seinem Sozialpartner, worauf der sich einzustellen hat: »Mit einer solchen Gesprächseinstellung kommen wir keinen Schritt weiter!« (Daniela Cavallo, Vorsitzende des Gesamt- und Konzernbetriebsrats) Wie soll man da kompetent mitverhandeln können?

Natürlich so, dass man selbst mit gutem Beispiel vorangeht. Der Betriebsrat tut sich mit einer Kultur der offenen Ehrlichkeit gegenüber der betroffenen Belegschaft hervor – ganz im Unterschied zu den abgehobenen und entfremdeten Konzernvorständen. Frau Cavallo nimmt sich pünktlich vor Beginn der zweiten Verhandlungsrunde Ende Oktober die Freiheit, als erste die in den Hinterzimmern herumgereichten skandalösen Zahlen zu verkünden: Sie teilt der versammelten Belegschaft vom Balkon aus mit, dass von seiten des Konzerns nicht ein oder zwei, sondern gleich drei deutsche Werke und bis zu 20.000 Arbeitsplätze gestrichen werden sollen.

Und auch auf die Lohnforderung hat der Konzern inzwischen eine sehr konkrete Antwort gefunden, die der Betriebsrat den Beschäftigten als erster verkündet: »Für die Beschäftigten fordert das VW-Management laut Betriebsrat dauerhafte Lohnkürzungen von zehn Prozent und Nullrunden in den kommenden zwei Jahren – auch Zulagen und Boni sollen wegfallen. Damit könnten den Werksbeschäftigten Entgelteinbußen von bis zu 18 Prozent bevorstehen.« (ndr.de, 29.10.24)

Kompromissvorschlag

Der Unternehmensforderung begegnen Gewerkschaft und Betriebsrat zum Auftakt der dritten und letzten Verhandlungsrunde vor Ablauf der Friedenspflicht mit einem finalen Kompromissvorschlag, mit dem Arbeitskämpfe noch abgewendet werden könnten. Der besteht in der kompletten Preisgabe der eigenen Lohnforderung: Wie wäre es mit einer Nullrunde für die Beschäftigten, bei der die hypothetischen Gehaltserhöhungen, die sich in den kommenden zwei Jahren aus dem Flächentarifabschluss ergeben würden, die die VW-Arbeiter aber nicht kriegen sollen, in einen »Zukunftsfonds« fließen?

Der heutige Verzicht der Belegschaft wäre Teil eines gemeinschaftlich zu entrichtenden Beitrags für die gemeinsame Zukunft, zu der auch das Management und die Aktionäre durch Gehalts- bzw. Dividendenverzicht ihren Teil beizutragen hätten. Aus dem so angesparten Fonds könnte der Konzern dann zum Beispiel Kurzarbeit, oder was auch immer sonst in den kommenden Jahren notwendig werden könnte, sozialfreundlich finanzieren. Das sollte dem Unternehmen doch so viel Flexibilität verschaffen, dass es der Belegschaft Entlassungen ersparen könnte. Damit wäre auch für sie die Hauptsache sichergestellt. So bewältigt man Krisen nicht gegen, sondern mit der Belegschaft.

Die Gegenseite lehnt dankend ab. Bereitschaft zum Lohnverzicht klingt zwar schon mal ganz gut. Auch persönliche Beiträge des Managements zur Gerechtigkeit in Form von irgendeinem Bonusverzicht kann man sich vorstellen. Aber ob das alles reichen wird? Eine Nullrunde, wo doch Kostensenkungen verlangt sind? So lassen sich Werksschließungen und Massenentlassungen jedenfalls nicht ausschließen. Diese Optionen will VW sich nicht abkaufen lassen. Dagegen soll die Gewerkschaft ihren für den Fall fehlender Kompromissbereitschaft auf Seite des Konzerns angedrohten Arbeitskampf, »den die Bundesrepublik so seit Jahrzehnten nicht erlebt hat« (Gröger, 21.11.24), erst einmal auf die Beine stellen.

Zwar gibt es in einer solchen Situation eigentlich nichts für die lohnabhängige Seite zu erkämpfen, wenn ein Unternehmen seinen Bedarf nach Arbeit gesundschrumpft: Eine lohnende Weiterbenutzung kann eine Beschäftigtenvertretung jedenfalls gerade nicht durch eine angedrohte Dienstverweigerung erstreiten, wo gerade diese Dienste nicht länger gefragt sind. Aber für eine reife Gewerkschaft und den Betriebsrat ist das nur der Auftakt zu der Forderung, selbst daran noch aktiv mitwirken zu wollen. Entsprechend hat die Betriebsratschefin schon vor dem gewerkschaftlichen Kompromissvorschlag samt Streikdrohung vorweggenommen, wie dieser zu verstehen ist: »Grundsätzlich begrüßen wir es, dass die Arbeitgeberseite nun endlich mit konkreten Inhalten um die Ecke gebogen ist. Jetzt liegt wenigstens etwas auf dem Verhandlungstisch – auch wenn das meilenweit von unseren Vorstellungen entfernt ist. Und dementsprechend warne ich auch davor, das als eine erste Annäherung zu interpretieren. Denn heute ist allenfalls der Startschuss für einen Marathon gefallen, bei dem nun endlich beide Seiten verstanden haben, dass sie gemeinsam durchs Ziel müssen.« (Cavallo, 30.10.24)

Bis zur Einigung mag es noch ein weiter Weg sein, das gemeinsame Ziel ist immerhin klar.

Anmerkungen:

1 Die Ansage von VW geht über eine forcierte Senkung der eigenen Lohnkosten noch hinaus. Der Konzern verlangt, dass sämtliche Produktionskosten am Standort Deutschland massiv gesenkt werden müssen. Das betrifft auch das Netzwerk an Zulieferbetrieben, die mit ihrer Rolle als Mittel der Kostpreissenkung gegenüber einer konzerninternen Fertigung von Autoteilen ihr eigenes Geschäft machen und dafür ihrerseits massenhaft Arbeitskräfte in der Region beschäftigen. Die Zulieferer entnehmen der Ankündigung verschärfter Preisvorgaben ihres Hauptkunden ihrerseits ganz folgerichtig, was sie in ihren Betrieben ins Auge zu fassen haben: natürlich zuvörderst ihre eigenen Lohnstückkosten an ihren Arbeitsplätzen, von denen fraglich wird, ob sie sich in ihrer jetzigen Form künftig noch lohnen. Nach und nach kündigen auch sie Standortschließungen, Kurzarbeit und Entlassungen an. Insofern steht und fällt am Ende auch der Lebensunterhalt der dort beschäftigten Arbeitskräfte mit den Rentabilitätsvorgaben des Großkonzerns.

2 Der IG Metall hat die Tatsache, dass die Konditionen der Berufsausbildung beim größten Beschäftigungsgeber der Region exklusiv mit ihr geregelt werden, obendrein einen kontinuierlichen Nachwuchs an Mitgliedern beschert, deren Interessen sie ein Berufsleben lang vertreten darf. Zum ersten Arbeitsvertrag bei VW wird der entsprechende Mitgliedschaftsantrag gleich mitgeliefert.

3 In der Entgeltfrage fordert die IG Metall für den VW-Haustarif zunächst sieben Prozent bei zwölf Monaten Laufzeit und damit das gleiche, was sie unter Verweis auf die Inflation auch für den Flächentarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie gefordert hat. Die Forderung stand bereits vor der Vertragskündigungswelle von VW fest und wird vom Konzern zunächst ohne Gegenvorschlag als völlig absurd zurückgewiesen.

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. Dezember 2024 über die brasilianische Wirtschaftspolitik unter der Regierung Lula.

Mehr zum Thema Volkswagen und IG Metall im Heft 4-24 der Zeitschrift Gegenstandpunkt und auf der Webseite: gegenstandpunkt.com

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