Verwertung des Humanreichtums
Von Hermann Bueren![12-13.jpg](/img/450/205304.jpg)
Bei vielen Tätigkeiten im Industrie- und Dienstleistungsbereich gehören Eigenschaften wie Kreativität und lösungsorientiertes Denken zu den Anforderungen, die an Beschäftigte gestellt werden. Denn mehr denn je sind Unternehmen gefordert, neue Produkte, innovative Dienstleistungen oder brandaktuelle Konsumartikel herzustellen und diese auf den Märkten anzubieten. Dieser Innovationsdruck ist eine Folge der Markt- und Wettbewerbsbedingungen eines entfesselten Kapitalismus, der Unternehmen und ihre Beschäftigten zur Produktentwicklung antreibt. Dazu tritt der Faktor Beschleunigung. Wer seine Innovationen so beschleunigt, dass er als Erstanbieter mit neuen Produkten den Markt bedienen kann, erreicht einen temporären Wettbewerbsvorteil, bis die Konkurrenz nachzieht.
»In den postfordistischen Unternehmen ist permanente Innovation zur zentralen Aufgabe geworden«, schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz. Dabei beziehe sich die Innovationsanstrengung in den Unternehmen nicht nur auf Waren und Produkte, sondern nehme zusehends immaterielle Formen an: »Auch die Entwicklung neuer Dienste, neuer medialer Formate und Ereignisse sowie von innovativen Verwendungsweisen gehören dazu, ebenso die Kreation von (die Produkte umgebenden) stories, ethischem Wert und ästhetischer Atmosphäre (…) bis hin zu ganzen Markenwelten.«¹ Gerade Produkte, die sich als nahezu »revolutionär« oder als »noch nie dagewesen« vermarkten lassen und sich dauerhaft auf dem Markt etablieren können, üben auf Unternehmen große Faszination aus. Vorbilder sind bekannte Digitalunternehmen wie Uber, Airbnb oder Netflix, die mit neuen Geschäftsideen marktbeherrschende Positionen erreichen, oder KI-gestützte Technologien wie Chat-GPT.
»Be Creative!«
Innovationen sind aber nur möglich, wenn zuvor Know-how und Kreativität in den Entwicklungsprozess fließen. Kreatives, lösungsorientiertes Denken und die Fähigkeit zur Entwicklung von Ideen gehören zu den Potentialen des menschlichen Arbeitsvermögens. Für Karl Marx war dieses Vermögen ein Teil des Reichtums an Fähigkeiten und sozialen Beziehungen, über den Menschen verfügen. Kapitalistische Unternehmen wollen dagegen auf diesen Humanreichtum zugreifen mit dem Ziel, aus den Ideen ihrer Beschäftigten neue Produkte oder Dienstleistungen zu generieren, die den Mehrwert des Unternehmens steigern. Aus diesem Grund verändern Unternehmen die Arbeitszusammenhänge. Die wohl bekannteste Methode zur Mobilisierung des kreativen Arbeitsvermögens ist gegenwärtig Design Thinking (DT).
Als Prozess und Arbeitsmethode ist DT inzwischen in vielen Unternehmen verbreitet. Es beruht auf der Annahme, dass Ideen generiert und Probleme gelöst werden können, wenn Beschäftigte unterschiedlicher Disziplinen und Teams in einer die Kreativität fördernden Arbeitsumgebung zusammenarbeiten. Weil sie kreatives Denken als planbaren Prozess unterstellt, der sich managen lässt als eine Art Handwerkszeug, das sich mit klar definierten Zielen und Ablaufregeln erlernen lässt, findet die Methode insbesondere in Human-Resources-Abteilungen (HR) große Unterstützung, können doch damit die Potentiale der Beschäftigten effizient und unternehmenskonform erschlossen werden.
Mittlerweile scheint diese Methode in Unternehmen so häufig praktiziert zu werden, dass manche Beobachter bereits von einem Siegeszug sprechen. Immerhin geben 30 Prozent der befragten Unternehmen in einer im März 2024 vom Branchenverband Bitcom in Auftrag gegebenen Untersuchung an, mit DT zu arbeiten. »Design Thinking boomt als Workshopformat und Beratungsdienstleistung, von dem sich Unternehmen eine gesteigerte Innovationskraft ihrer Angestellten erhoffen«, schreibt Martin Wähler im linken Magazin Jacobin. Zunehmend dringe das Konzept auch in die Politik vor: »Dort verspricht es politisches Engagement, das Spaß macht, mühelos ist und Dinge verändert, statt sich mit zähen Auseinandersetzungen aufzuhalten.« DT signalisiert Aufbruchstimmung und Veränderungsbereitschaft, hinterfragt aber nicht die Ursachen von ökonomischer Macht und Herrschaftsstrukturen in der Gesellschaft. Insofern fügt sich DT harmonisch in einen neoliberalen Kapitalismus ein.
Im Gefolge von DT investieren Unternehmen auch in die Arbeitsumgebung. Büros und Arbeitsräume, bisweilen sogar komplette Firmengebäude, werden saniert oder neu gebaut mit der erklärten Absicht, stimulierende Räumlichkeiten für Kreativität und Ideenentwicklung zu schaffen. Im vollmundigen Jargon des Managements heißt ein Arbeitsraum nicht Arbeitsraum, sondern »Collaboration Room« oder – noch hochtrabender – »Innovation Lab«. Die Firma Bosch errichtete in Berlin sogar einen »Innovation Campus«. Hier sollen über 200 Beschäftigte Ideen und Zukunftslösungen für Bereiche wie vernetzte Mobilität, Smart Homes, Smart Cities sowie Industrie 4.0 entwickeln. Die Raumgestaltung orientiert sich dabei in der Regel an einem Konzept, das als »New Work« zur Zeit in den Unternehmen einen ähnlichen Hype erlebt wie DT. Das Konzept fördert den subtilen Druck auf die Beschäftigten, sich kreativ zu betätigen. Die Aufforderung »Be Creative!« soll zu einem allgegenwärtigen Identitätsmerkmal von Teams und Projekten werden.
Humanressource
Bis noch vor wenigen Jahrzehnten hatten Unternehmen nur ein begrenztes Interesse am kreativen Vermögen ihrer Beschäftigten. Sie erwarteten von diesen Sorgfalt in der Arbeitsausführung, Loyalität und eine eher passive Bereitschaft zum »Mitdenken«. In den Kernbereichen der kapitalistischen Wirtschaft spielte Kreativität, abgesehen von Ausnahmen wie im Bereich der Produktwerbung, bis Mitte der 1980er Jahre nur eine geringe Rolle. Zu diesem Zeitpunkt zeigten sich ökonomische Krisenerscheinungen in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Überkapazitäten in den Unternehmen, sinkende Arbeitsproduktivität der Beschäftigten und rückläufige Profitraten waren Anzeichen für eine sich zum Ende neigende Wachstumsperiode des Kapitalismus. Diese Phase, in der Soziologie als »Krise des Fordismus« (Klaus Dörre) bezeichnet, war der Übergang zu einer kunden- und marktorientierten Produktion.² Die Massenproduktion von Waren und Gütern wurde durch flexiblere Produktionsverfahren ersetzt.
Dieser bis heute anhaltende Trend zur Flexibilisierung und die mittlerweile globalisierten Markt- und Wettbewerbsstrukturen »zwingen« Unternehmen zur immer engeren Ausrichtung ihrer Arbeitssysteme und Produktlinien auf Märkte und Kunden. Der daraus entstehende Innovations- und Beschleunigungsdruck entwickelt nicht nur teilweise irrationale Züge, wie das Beispiel der Textilindustrie zeigt, in der Modedesignabteilungen im Quartalstakt »Fast Fashion« entwerfen. Er erfordert von den Unternehmen insbesondere ein betriebsinternes Management zum Output von Kreationen und vermarktungsfähigen Produktideen.
Eine Pionierfunktion hatten dabei Unternehmen aus der IT- und Softwareentwicklung. Was diese Branche zum Vorreiter macht, ist die Kombination einer auf Kundenbedürfnisse zugeschnittenen Produkterstellung und einer »agilen« Arbeitsorganisation, die auf eine Beschleunigung der Arbeitsprozesse zielt und gleichzeitig Kreativität und Lösungskompetenz bei der Erbringung der Arbeitsleistungen verlangt. Die in der Branche beliebte Projektarbeit versteht sich als eine Form der Kollektiv- oder Schwarmkreativität. Es geht den Unternehmen um eine Kreativität der vielen, die sich im Team gegenseitig zu höheren Leistungen anstacheln und den Glauben an die Kraft des eigenen Teams miteinander teilen.
Jedes Teammitglied »stimmt sich ständig mit den anderen ab, und seine Eingaben setzen einen Prozess in Gang, in dem das gemeinsame Ergebnis der individuellen Eingaben deren Summe bei weitem überschreitet«, schreibt der Sozialphilosoph André Gorz. Diese Managementvision einer produktiven und selbstorganisierten Zusammenarbeit, die in zahlreichen Managementtexten als »Kollaboration« bezeichnet wird, sei vergleichbar mit einem »improvisierten polyphonen Chor«, der »dabei ein gemeinsames Ergebnis entstehen lässt, das die individuellen Möglichkeiten der Teilnehmer übersteigt.«³ Das anfänglich auf die Figur des Künstlers beschränkte Verständnis von Kreativität hat sich mittlerweile aufgelöst. Als neues Paradigma setzt sich in den Unternehmen die Vorstellung von Kreativität als einer »Humanressource« durch.
Profitable Weltanschauung
Als Begriff taucht DT erstmalig zu Beginn der 1980er Jahre in Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt an der Technischen Universität Delft auf. Untersucht werden sollten die besonderen Arbeitsschritte von Designern, um die Ausbildung in diesem Beruf zu systematisieren. Knapp 20 Jahre später, Anfang der 2000er Jahre, hatte sich DT zu einer Methodik der Ideenentwicklung verselbständigt. Eine wichtige Rolle spielen dabei das weltweit agierende Institut Ideo und dessen Inhaber Tim Brown, der mit seinem Buch »Change by Design« zur Verbreitung dieser Methodik beitrug. An der Stanford University in den USA entstand 2004 eine Innovationsschule für Produktdesign, und bereits 2007 finanzierte Hasso Plattner (Mitbegründer des IT- Konzerns SAP) in Potsdam die Gründung der HPI School of DT, die sich als ein weltweit führender universitärer Anbieter in der Ausbildung von DT und »Digital Leadership« versteht.
Der Anspruch der Schule geht über das Angebot verschiedener IT-Studiengänge zum Erlernen einer Innovationsmethode hinaus – denn den Studierenden soll auch eine neue Arbeitskultur vermittelt werden. »Design Thinking ist mittlerweile mehr als nur ein kreativer Prozess. Was ursprünglich als Innovationsmethode für Produkte und Services entwickelt wurde, avanciert heute zu einer ganz neuen Art, den Menschen in Bezug zur Arbeit zu sehen, das Konzept der Arbeit zu denken und zu fragen, wie wir im 21. Jahrhundert leben, lernen und arbeiten wollen. (…) Wir-Intelligenz ist das neue Schlagwort, Kollaboration wird die Grundlage für ein neues Arbeitsbewusstsein.«⁴
Das Zitat vermittelt den Eindruck, als gäbe es eine in der Methode DT eingebaute Logik, die dazu führe, die Welt besser und die Arbeit humaner zu machen. Diese Logik ist Ausdruck einer Weltanschauung, wie sie aus den Technologiefirmen des Silicon Valley bekannt ist, die vom Fortschritt durch digitale Technologien überzeugt sind und eine solutionistische Sicht auf die Probleme dieser Welt vertreten: Die Überzeugung, dass sich alle gesellschaftlichen Herausforderungen durch Technik lösen lassen und dadurch die Gesellschaft gerechter werde.
Im Internet hat sich mittlerweile eine Community rund um DT gebildet mit zahllosen Websites, die Methoden-»Werkzeugkästen« feilbieten, Handbücher verkaufen und Fortbildungen anbieten. Auch Beratungsunternehmen, die sich selbst als »Agenturen für Innovationskultur« anpreisen, ihren Kunden »Kreativitätserlebnisse« versprechen oder ihre Dienste den Unternehmen für eine gemeinsame »Ideenjagd« anbieten, reiten auf der Welle. Sie bestärken die bei ihren Kunden und Geldgebern grassierende Vorstellung einer unbegrenzten Mobilisierbarkeit des kreativen Arbeitsvermögens, das nur darauf warte, sich im Unternehmen entfalten zu können. Gerade die HR-Abteilungen großer Konzerne haben ein Faible für Kreativworkshops, können sie doch so ihren Beschäftigten einen Raum für scheinbare Ungezwungenheit und Spontaneität bieten.
Was ist Design Thinking?
Bei DT handelt es sich um einen Ansatz, der Arbeitsweisen und -prinzipien von Designern nutzt, um Innovationen oder Lösungen für bestimmte Probleme zu entwickeln. DT kann in verschiedenen Varianten erfolgen: als Arbeitsschritt eines Teams oder Projekts oder im Format eines (mehrtägigen) Trainings oder Workshops. Im Fokus sollen dabei die Bedürfnisse potentieller Nutzer bzw. Kundinnen stehen. Am Anfang eines Workshops steht daher die genaue Auftragsklärung: Durch Beobachtung, durch Interviews oder Befragungen sollen sich die Teilnehmer ein möglichst exaktes Bild über die Bedürfnisse eines Kunden verschaffen. Die dabei verwendeten Instrumentarien (z. B. Leitfadeninterview, Fragebogen) müssen nicht unbedingt Anforderungen an fachliche Güte oder wissenschaftlichen Qualitätskriterien genügen. Wichtiger ist die gegenüber dem Kunden gezeigte Empathie, das Sicheinfühlen oder Sichhineinversetzen in die Bedürfnislage des Kunden, um daraus den nächsten Schritt – eine Idee für ein Produkt oder eine Lösung für ein Problem – zu entwickeln. Unter Anleitung eines Coaches oder einer Beraterin sollen aus verschiedenen Fachbereichen zusammengestellte Teams durch Assoziieren, Einnahme verschiedener Perspektiven und in spielerischer Aktivität in mehreren Schritten ein Produkt entwickeln.
Der eigentliche DT-Prozess läuft somit in sechs Schritten ab: (1) Verstehen der Aufgabenstellung, (2) Beobachtung, Befragung des Kunden, (3) das Team trägt die einzelnen Beobachtungen zusammen und entwickelt eine gemeinsame Perspektive, (4) Ideen finden auf Basis der Beobachtungen und der gemeinsamen Perspektive, (5) Teammitglieder erstellen gemeinsam einen oder mehrere Prototypen, (6) Testkunden prüfen den Prototypen. Genutzt wird für den DT-Prozess alles, was die Spiel- und Experimentierfreude der Beschäftigten stimulieren könnte: angefangen von farbigem Karton und Klebezetteln über Bastelutensilien und die aus dem IKEA-Kinderparadies bekannten kleinen bunten Bälle bis hin zu Bausteinen und Knetmasse, mit denen am Ende eine Art Prototyp als Ergebnis der Ideenfindung gefertigt werden soll.
Im Internet finden sich zahllose Beiträge zu erfolgreich durchgeführten Workshops, die mit einer genialen Produktidee endeten. Es sind Erfolgsgeschichten, die von gesteigerten Umsätzen, höheren Gewinnmargen und neu geschaffenen Produkten künden. So soll Airbnb durch eine DT-Recherche 2009 ein Fotografinnenprogramm entwickelt haben, das den Umsatz dieser Plattform fortan durch die Decke gehen ließ. Die Beiersdorf AG soll mit Hilfe von DT ein erfolgreiches Tool zur Marktforschung entwickelt haben, durch das die Mitarbeiter auf Knopfdruck auf die Daten zugreifen können, die sie in dem Moment gerade benötigen. Und die Firma Oral B soll zum Marktführer für Kinderzahnbürsten aufgestiegen sein, nachdem Beschäftigte des Unternehmens die Form einer Zahnbürste in einem Workshop kindgerecht ergonomisch verbessert hatten. Die vermeintlichen oder tatsächlichen Erfolge tragen dazu bei, dass die Methode inzwischen in vielen Unternehmen den Status von Unfehlbarkeit erreicht hat, wonach sich mit DT selbst die schwierigsten Problemstellungen bewältigen lassen.
Beschäftigte sind für diese Methode in der Regel durchaus offen. Sie sollen »aktiviert« werden und (bei Erfolg!) Selbstwirksamkeit erfahren. Als Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines DT-Prozesses »werden sie in die Position versetzt, sich spielerisch zu entfalten, Menschen zu helfen und nebenbei noch Geld verdienen zu können.«⁵ Das Gefühl, nicht wirklich zu arbeiten, wird zudem verstärkt durch die Ausstrahlung des Raums, in dem der Prozess stattfindet: Bunte Möbel, Sofas und »chillige« Ecken sollen zum Austausch über neue Ideen anregen. Und der sogenannte Collaboration Room ist kein nüchterner Büro- und Konferenzraum alten Stils, sondern verfügt über vielfältige bequeme Sitzgelegenheiten mit mobilen Wänden.
Die dazugehörigen Fotos im Internet zeigen »Vorzeigebüros« mit ausnahmslos jungen, zufriedenen Menschen, die in kleineren Gruppen miteinander agieren und ihre Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Begegnung mit Gleichgesinnten zu erfüllen scheinen. Die gestylten Einrichtungskulturen der Kreativräume orientieren sich in Form und Design am Lebensstil und Geschmack der »neuen Mittelschicht« (Reckwitz). In ihrer Ungezwungenheit und Lockerheit vermitteln sie das Trugbild einer Arbeit, die gar keinen Gedanken an Arbeitsleid oder Stress mehr aufkommen lassen will.
Das Diktat der Uhr
Tatsächlich aber besitzt DT eine Reihe von Einengungen und faktischen Reglementierungen, die den Eindruck, es handele sich um einen Freiraum voller Ungezwungenheit und kreativer Selbstentfaltung, in Frage stellen. Als erstes zu nennen sind hier die stringenten Zeitregeln eines Workshops, die zu Beginn vereinbart werden. Die Teams sind aufgefordert, das Zeitbudget unbedingt einzuhalten. Gearbeitet wird mit exakten Zeitvorgaben, jede der sechs Phasen dieser Ideenentwicklung ist zeitlich limitiert. Die Timer der Smartphones oder die auf den Tischen aufgestellten Stoppuhren signalisieren die Dominanz dieser zeitlichen Logik. Ist das Zeitbudget ausgeschöpft, endet die Phase ohne Wenn und Aber, auch wenn die teilnehmenden Beschäftigten die vorgegebene Aufgabe noch nicht abgeschlossen haben. Die Freiräume, die den Beschäftigten zur Ideenentwicklung zur Verfügung stehen, entpuppen sich als streng durchstrukturierte Einheiten.
Die in den Workshops praktizierten Formen der Zeittaktung und -budgetierung knüpfen an Arbeitsmethoden an, die aus der agilen Projektarbeit der IT-Industrie und Softwareentwicklung bekannt sind. Hier arbeiten die Teams nach dem Prinzip des »Timeboxing«: Die vorher festgelegte Dauer eines Zeitabschnitts darf nicht überschritten werden. Das gilt für Arbeitstreffen wie auch für die Dauer von Arbeitsphasen. Jegliches Grübeln oder das Äußern von Bedenken stehen daher unter dem Verdacht der Zeitverschwendung und des Ausbremsens kreativer Energien. Sie sind genauso unerwünscht wie eine offene Diskussion kritischer Gedanken. Sowohl in den agilen Teams als auch in den DT-Workshops führt die Herrschaft der Zeitlogik zu einer besonderen Form des Zeitdrucks, der ein Gefühl »permanenter Dringlichkeit«⁶ schafft. Erwartet werden vorzeigbare Ergebnisse – aber bitte schnell! Passend dazu lautet das Motto der HPI School of Design Thinking: »Don’t wait, innovate!«
Für die Realisierung ihrer Ideen werden die Beschäftigten dazu animiert, Legosteine zu benutzen oder aus Knetmasse einen Prototyp zu formen. Auch Spiele mit Würfeln, Karten, Bällen oder ein Klatschspiel zur Auflockerung sollen sie dazu bringen, übliche Denkmuster hinter sich zu lassen und in spielerischer Form eine neue Sicht auf das eigene Kreativitätsvermögen zu gewinnen. Wie Kinder, die sich unvoreingenommen und offen in eine Sache vertiefen können, sollen die Beschäftigten ihrer Spiel- und Bastelneigung Raum geben. Die infantilisierenden Züge dieser Art von Pädagogik sind nicht zu übersehen, macht sie doch aus einer bei allen Kindern (und Erwachsenen) existierenden Freude am Spielen und Basteln eine Aktivität mit dem Ziel, die Beschäftigten produktiver und ihre Ideen verwertbar zu machen.
Ausbeutung der geistigen Arbeit
So fragwürdig wie Zeitregime und Pädagogik ist auch das vorgegebene Ziel, das die Unternehmen mit DT verfolgen. Kreative Aktivität wird der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen. Die Fixierung auf rendite- bzw. marktfähige Produktideen schränkt den kreativen Prozess und die Ideenfindung von vornherein auf das Machbare und Verwertbare ein. Zudem sorgen die obligatorische Workshopmoderation durch Coaches oder die Vorgaben von Kunden oder Projektleitern an die Teams dafür, dass die Ideenfindung sich ausschließlich in dem vorgegebenen Rahmen bewegt. Der Soziologe Ulrich Bröckling bezeichnet diesen Vorgang als den Versuch, Kreativität zu »regieren«.
DT ist symptomatisch für einen Kapitalismus, der sich mit immer neuen Methoden und Techniken menschliches Arbeitsvermögen aneignet. Mit DT will das Management die geistigen Prozesse einer Arbeit transparent und damit auch für sich zugänglich machen. Die Brisanz dieses Vorgangs wird deutlich, wenn man sich frühere Prozesse der Aneignung menschlichen Arbeitsvermögens vergegenwärtigt. Laut Andreas Boes vom Institut für sozialwissenschaftliche Forschung München läuft dieser Vorgang auf eine »neue Form der Industrialisierung geistiger Arbeit« hinaus, die dazu führe, »Kopfarbeit systematisch und rational zu organisieren, um sie plan- und wiederholbar zu machen.«⁷
Ähnlich wie bei der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert, als die Handarbeit standardisiert und die Körper der Arbeiterinnen und Arbeiter dem Rhythmus der Maschinen unterworfen wurden, erfolgt in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus die Aneignung und Verwertung geistiger, kreativer Tätigkeiten. War es in der »alten« Arbeitsorganisation das Fließband, das Arbeitsprozesse in einzelne Schritte teilte, sind es im DT die einzelnen, voneinander getrennten methodischen Schritte, die das kreative Denken in einzelne Phasen zerlegen. Parallelen finden sich auch in Hinblick auf den Umgang mit Zeit, denn charakteristisch für die »tayloristische« Arbeitsorganisation sind vom Management festgelegte Zeitnormen für die Bearbeitung von Werkstücken.
Diese Fremdbestimmung unterstreicht das ausschließliche Interesse der Konzerne an der Tauschwerteigenschaft des kreativen Arbeitsvermögens. Wenn Marx hingegen das kreative Arbeitsvermögen der Arbeiterinnen und Arbeiter als humanen Reichtum bezeichnet, geht sein Blick über den Kapitalismus hinaus. Unter den Bedingungen entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse vereitelt der Kapitalismus die vollständige Entwicklung von Kreativität und Humanvermögen. Erst nach Aufhebung dieser Verhältnisse kann die eigentliche Entfaltung des Menschen erfolgen.
Anmerkungen:
1 Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 156
2 Vgl. Klaus Dörre, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa: Soziologie. Kapitalismus. Kritik, Frankfurt am Main 2009, S. 51
3 André Gorz: Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Zürich 2004, S. 21
4 Zit. nach Tim Seitz: Design Thinking und der neue Geist des Kapitalismus. Soziologische Betrachtungen einer Innovationskultur, Bielefeld 2017, S. 112
5 Vgl. ebd., S. 95
6 Ebd.
7 Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes, Thomas Lühr: »Lean« und »agil« im Büro. Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihre Folgen für die Angestellten, Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 193, 2018, S. 205
Hermann Bueren schrieb an dieser Stelle zuletzt am 3. September 2024 über die Résistance an der Rhône.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Wolfgang S. aus Berlin (12. Februar 2025 um 15:07 Uhr)Ich kann Manfred P. nur Recht geben. DT ist nichts generell Neues. Kreativität sollte egal in welchem Wirtschaftssystem immer (aus-)genutzt werden. Dazu kann man sich was einfallen lassen, z. B. eben DT. Die Ergebnisse von Kreativität in einem Unternehmen haben noch nie den Kreativen gehört, sondern waren immer, auch im Sozialismus, Betriebseigentum. Somit ist die Methode des Design Thinking erst mal nichts Verwerfliches. Verwerflich ist im linken, marxistischen Sinne nur, dass die Ergebnisse der Kreativität im Kapitalismus, abzüglich einer wie auch immer gearteten Prämie, privatwirtschaftlich verwertet werden. Das trifft adäquat auch auf das betriebliche Vorschlagswesen zu.
- Antworten
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred P. aus Hamburg (11. Februar 2025 um 20:24 Uhr)»Design Thinking ist mittlerweile mehr als nur ein kreativer Prozess. Was ursprünglich als Innovationsmethode für Produkte und Services entwickelt wurde, avanciert heute zu einer ganz neuen Art, den Menschen in Bezug zur Arbeit zu sehen, das Konzept der Arbeit zu denken und zu fragen, wie wir im 21. Jahrhundert leben, lernen und arbeiten wollen. (…) Wir-Intelligenz ist das neue Schlagwort, Kollaboration wird die Grundlage für ein neues Arbeitsbewusstsein.« Zugegeben, Probleme werden am besten dadurch gelöst, dass wir diese schöpferisch und am besten für eine möglichst große Zahl von Menschen fruchtbar aus der Welt schaffen. Leben heißt nun mal Probleme-Lösen. Andererseits motivieren alle Arten von Problemen uns Menschen, wenn wir sie denn gelöst haben, und geben uns die Zuversicht, dass wir lebendig und wirksam sind. Bis zu diesem Punkt scheint mir DT ein alter Hut in neuer Schachtel zu sein. Was wäre die Menschheit ohne die kollektive Kreativität? Jede Form von Kreativität verläuft im Sande bzw. in die Taschen derer, die sich in diesen Zeiten die Ergebnisse dieses Schaffens privat aneignen und die Kreativen dadurch nach wie vor von sich selbst entfremden. Solange Wissenschaft, Bildung und Kreativität in den Dienst der Kapitalverwertung gestellt sind, wird es echte kollektive Kreativität, die sich dem Einzelnen gegenüber als individuelle, auch noch so kreative Freiheit drapiert, nicht geben. Das kreative selbständige Individuum mit seinen kreativen Ideen stellt sich gegen die dem Kapitalismus eigenen Tendenzen zur Vergesellschaftung. Er halluziniert »sich dabei als Träger des Prinzips der menschlichen Freiheit.« (K.M.Kantor) »Bunte Möbel, Sofas und «chillige» Ecken sollen zum Austausch über neue Ideen anregen. Und der sogenannte Collaboration Room ist kein nüchterner Büro- und Konferenzraum alten Stils, sondern verfügt über vielfältige bequeme Sitzgelegenheiten mit mobilen Wänden.« (H.Bueren) Kreativer Widerstand gegen die Ware-Geld-Beziehung wäre sinnvoller!
- Antworten