Der Schweiz bleibt nur Freihandel
Von Dominic Iten
Paraguay, Bolivien, Brasilien – der schweizerische Außenminister Ignazio Cassis hat während seiner fünftägigen Lateinamerikareise, die am Freitag endete, viele Hände geschüttelt. Im Zentrum der Gespräche stand die Finalisierung eines Freihandelsabkommens mit den Mercosur-Staaten. Mit seinem brasilianischen Amtskollegen Mauro Vieira habe Cassis sich geeinigt, das Abkommen noch im laufenden Jahr zu unterzeichnen. Dieser Zeitplan sei »realistisch«, es gebe »nur noch kleine Differenzen«.
Damit vollführt Cassis hinter der diplomatischen Fassade einen außenpolitischen Drahtseilakt. Während die Großmächte, allen voran die USA, eine protektionistische Wende vollziehen, setzt die Schweizer Regierung unbeirrt auf Freihandel. Mit dem eskalierenden Handelskrieg schreitet die Blockbildung voran, der Druck auf angeblich neutrale Staaten steigt. Die Schweiz entscheidet sich für Freihandel unter erschwerten Bedingungen – was bleibt ihr anderes übrig?
Brasilien ist der bedeutendste lateinamerikanische Handelspartner der Schweiz, sie selbst zählt zu den fünf größten Investoren in Brasilien. Protektionismus kann sich leisten, wer über eine große, selbsttragende Binnenwirtschaft verfügt oder strategisch wichtige Ressourcen kontrolliert. Die USA verfügen nicht nur über enorme Produktionskapazitäten und eine hohe inländische Konsumnachfrage – sie gehören auch zu den technologisch führenden Staaten, die Handelsbarrieren aufbauen können, um politischen Druck auszuüben. Sie können außerdem darauf zählen, dass der US-Dollar als globale Leitwährung trotz Handelskriegen relativ stabil bleibt. Für kleine, offene Volkswirtschaften wie die Schweiz bietet der Protektionismus hingegen kaum brauchbare Werkzeuge.
Wofür Cassis auf seiner Reise warb, entspricht also dem ideellen gesamtkapitalistischen Interesse der Schweiz. Aber weil sich in der Realität die einzelnen Kapitalinteressen nicht zu einem einheitlichen Gesamtinteresse addieren lassen, sorgt das geplante Mercosur-Abkommen innerhalb der Schweiz für Spannungen. Große Wirtschaftsverbände wie Economiesuisse befürworten die liberale Öffnung, weil sie sich davon neue Absatzmärkte für Schweizer Exporteure erhoffen. Im Gegensatz dazu befürchten die Landwirtschaftsverbände Nachteile für Schweizer Produzenten. Insbesondere die Rindfleisch- und Sojaimporte aus Lateinamerika könnten den Preisdruck auf die Schweizer Landwirtschaft erhöhen.
Diese Konfliktlinien ziehen sich auch durch die politische Landschaft: Während die bürgerliche Mitte das Abkommen weitgehend unterstützt, kritisieren die Sozialdemokraten fehlende ökologische und soziale Schutzklauseln und mahnen, dass die etwaigen Importe bestehende Umwelt- und Produktionsstandards untergraben könnten. Bemerkenswert ist die Rolle der rechtskonservativen SVP, für die der Ausbau von Freihandel ein Kernanliegen darstellt, die aber gleichzeitig ihre ländliche Wählerbasis pflegen muss und sich zur Frage bisher nur zurückhaltend äußert.
Derweil bedeutet der Schweizer Einsatz für den Freihandel unweigerlich auch einen Schritt in Richtung Brasilien, das eine führende Rolle bei den BRICS-Staaten spielt – wie die USA darauf reagieren, ist eine offene Frage. Mit ihren jüngsten Exportbeschränkungen für KI-Chips und der Einteilung ihrer Handelspartner in »vertrauenswürdig« und »nicht vertrauenswürdig« wurde jedenfalls deutlich: Zwischen den Blöcken hin und her zu taktieren, wird in Zukunft schwierig. Einen Hinweis darauf gab auch Javier Milei beim Weltwirtschaftsforum im Januar: Für ein Freihandelsabkommen mit den USA werde er, wenn nötig, aus dem Mercosur austreten, meinte der ultrarechte Präsident Argentiniens.
Kommt hinzu: Während die Schweiz auf wirtschaftlicher Ebene für größtmögliche Offenheit kämpft, bindet sie sich sicherheitspolitisch eng an den imperialen Block des Westens – wie lange lässt sich dieser zweigleisige Kurs aufrechterhalten? Cassis’ Reise ist auch als Test dafür zu sehen, wieviel Spielraum der Schweiz in der zunehmend fragmentierten Weltwirtschaft noch bleibt.
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