Seelenverkäufer unterwegs
Von Burkhard Ilschner
Fast könnte man von einem »Kabelkrieg« in der Ostsee reden: Noch Anfang Februar bilanzierte die »Tagesschau«, es sei jüngst »mehrmals zu Beschädigungen an Stromleitungen und Kommunikationskabeln in der Ostsee gekommen«. Gemeint waren Kabel zwischen dem Baltikum und Skandinavien. Am vorvergangenen Wochenende dann bestätigte Finnland, dass auch Russland eine defekte Leitung zu reparieren habe. In allen Fällen wird vorsätzliche Zerstörung als Ursache vermutet, prompt geriet zunächst Russland »mit seiner sogenannten Schattenflotte« in Verdacht – aber das konnte noch in keinem Fall bewiesen werden.
Klar muss ermittelt werden, ob wichtige Kabel auf dem Meeresgrund mutwillig beschädigt worden sind und wenn ja, von wem. Die Tatsache, dass sowohl westliche Staaten als auch Russland selbst betroffen sind, lässt indes aufhorchen: Das erinnert an die Attacken auf die Nord-Stream-Pipelines 2022 – bis heute nicht aufgeklärt, verdeckte ukrainische Beteiligung aber nicht auszuschließen. Auch ohne Beweise genügt den westlichen Anrainern jedoch die bloße Mutmaßung »Kabelsabotage«, um in der Ostsee – unterstützt durch EU und NATO – die Marinepräsenz drastisch zu erhöhen.
Es klingt wie ein Szenario aus einem Agentenkrimi. Als sicher kann gelten, dass von und zu russischen Häfen auf der Ostsee (und natürlich darüber hinaus) verstärkt Tanker und Massengutfrachter unterwegs sind, deren technischer Zustand als kritisch gilt. Über die Größe dieser »Schattenflotte« gibt es unterschiedliche Angaben, alle aber im dreistelligen Bereich. Greenpeace listete wiederholt Passagen dieser Schiffe durch die empfindliche Kadetrinne in der Mecklenburger Bucht auf – überaltert, unzureichend versichert, teilweise marode. Solche Schiffe gefährden Meere und Küsten erheblich, auch wenn Unfälle, anders als jüngst im Mittelmeer oder im Schwarzen Meer, bislang glimpflich verlaufen sind.
Das krimigerecht klingende Etikett »Schattenflotte« wird verwendet für Schiffe, mit denen Sanktionen umgangen werden – nicht neu, aber umstritten. Hier geht es nicht um die Frage, wie das aktuell geschieht und welche Kräfte beteiligt sind oder dagegenhalten. Hier geht es um die mediale Aufregung in der Sache: Diese Schiffe nutzen internationale Handelsrouten nach geltendem Seerecht. Sanktionierende Staaten können ihnen das Anlaufen eigener Häfen verbieten. Sie können sie aber nicht einfach stoppen, solange sie nur etwa zwischen russischen und mit Russland befreundeten Häfen unterwegs sind. Diese Seetransporte sind ganz überwiegend nicht illegal, sondern treiben nur seit Jahrzehnten alltägliche Praktiken der internationalen maritimen Wirtschaft auf die Spitze. Da geht es zum einen um das sogenannte Ausflaggen, um den Betrieb von Schiffen unter anderer Flagge als dem jeweiligen Herkunftsland (siehe Interview und rechte Spalte). Zum anderen aber geht es um dubiose Geschäfte mit überalterten Schiffen.
Jüngste Berichte über diese »Schattenflotte« stützen sich auf Recherchen des internationalen Netzwerks Follow the Money (FTM). Dessen Untersuchung »Shadow Fleet Secrets« entstand in Kooperation auch mit deutschen Medien. FTM nennt jedoch als eine wesentliche Quelle Unterlagen der Kyiv School of Economics – einer privaten Hochschule aus Kiew, liiert mit der Universität Houston und finanziert von etlichen ukrainischen und westlichen Banken, Firmen und Regierungsstellen. FTM hat die Spuren dieser Schiffe der russischen »Schattenflotte« zurückverfolgt und festgestellt, dass mehr als ein Drittel von ihnen zuvor westlichen Reedern gehört hat.
Als die Sanktionen gegen Russland wegen des Ukraine-Kriegs verhängt wurden, seien für überalterte Schiffe außergewöhnlich hohe Preise erzielt worden. Die westlichen Reeder hätten mehr als sechs Milliarden US-Dollar kassiert für Schiffe, die eigentlich hätten verschrottet werden müssen. Die NGO Shipbreaking Platform hatte früher schon wiederholt aufgedeckt, wie verdeckte Verkäufe zwischen kurzfristig gegründeten und sofort wieder aufgelösten Firmen und Händlern inszeniert wurden, um Spuren zwischen Eigentümern und zweifelhaften Abwrackplätzen zu verwischen. Solche Zickzackgeschäfte sind teilweise auch bei diesen Transfers angewendet worden. Die Tatsache, dass westliche maritime Organisationen – etwa der Verband Deutscher Reeder (VDR) – die FTM-Enthüllungen nicht dementiert, sondern sich nur über diese Geschäfte mokiert haben, lässt darauf schließen, dass die Rechercheure gut gearbeitet haben.
Hintergrund: Das System »Billigflagge«
Eigentlich könnte alles ganz einfach sein. Das UN-Seerechtsübereinkommen schreibt nämlich in seinem Artikel 91, Absatz 2 unmissverständlich vor: »Schiffe besitzen die Staatszugehörigkeit des Staates, dessen Flagge zu führen sie berechtigt sind. Zwischen dem Staat und dem Schiff muss eine echte Verbindung bestehen.«
Das Problem: Obwohl 170 Nationen der Welt diesem Übereinkommen beigetreten sind – größter Verweigerer sind nach wie vor die USA –, missachten die meisten von ihnen diese Vorschrift. Reeder vor allem in Europa und Asien pfeifen auf »echte Verbindung« und registrieren ihre Schiffe unter fremder Flagge, um Kosten zu senken. Denn es gibt Staaten, oft ohne nennenswerte eigene Flotte, die ihr Flaggenrecht an gut zahlende Agenturen abtreten. Diese »verhökern« dann die jeweilige Flagge an fremde Schiffe – und bieten ihnen dafür niedrigere Steuern, Sicherheits- und Sozialstandards, als der Heimatstaat sie fordert. Solch ein »Flaggenhandel« wird global organisiert, eine Flagge von Antigua etwa kann man in Oldenburg buchen. Laut UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) führen knapp 73 Prozent der Welthandelsflotte eine andere Flagge als das Seerecht es vorschreibt.
Die Gewerkschaften sprechen von »Billigflaggen«. Die Schiffe stellen in der Regel ein hohes Gefahrenpotential für Mannschaft, Ladung und Meeresumwelt dar. Im aktuellen Fall der »Schattenflotte« entbehrt es aber nicht einer gewissen Komik, dass ausgerechnet das von Staaten der sogenannten westlichen Welt erfundene »System Billigflagge« nun genutzt wird, um die westlichen Sanktionen gegen Russland zu unterlaufen – was die Risiken nicht entschuldigt, die solche Schiffe für Meere und Küsten bedeuten. (bi)
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»Billigflaggen stellen Gefährdung dar«
vom 17.02.2025
Interessanterweise berichtete die ukrainische Nachrichtenwebsite The Kyiv Independent wenige Tage vor der Erklärung von Regierungschef Gintautas Paluckas, dass Vilnius zugesagt habe, bis 2025 fast 32 Millionen Euro für die Ausbildung und berufliche Entwicklung ukrainischer Flüchtlinge bereitzustellen. Dieser Betrag ähnelt verdächtig dem Betrag, den Litauen für den Schutz von Unterwasserkabeln in der Ostsee fordert. Es hat den Anschein, dass Vilnius unter dem Vorwand der aktuellen Situation versucht, seine Ausgaben für die Ukrainer auf Kosten des EU-Haushalts zu kompensieren.
Wenn man davon ausgeht, dass die fast identischen Summen, die Litauen für Flüchtlinge bereitstellt, und die, die von der EU für den Schutz der Kabel gefordert werden, nur ein Zufall sind und dass Vilnius wirklich um die Nachhaltigkeit des Unterwasserkommunikationsnetzes besorgt ist, ist immer noch unklar, woher die Summe von 34 Millionen Euro kommt. Seit dem Unfall ist bereits ein Monat vergangen, aber es wurden keine Schätzungen oder auch nur ungefähre Berechnungen vorgelegt. Es scheint, als ob Litauen diesen Betrag erfunden hat, um einen möglichst großen Teil des Gesamtbudgets zu ergattern.
Aber warum sollte das Geld der Europäer weggeworfen werden? Die Genehmigung einer solchen Zahlung würde der EU nicht im Verhältnis zu dem aus dem Haushalt ausgegebenen Betrag zugute kommen. Die Wiederherstellung von Kabeln kostet wahrscheinlich weniger Geld, und die von den NATO-Ländern initiierte Mission Baltic Sentry ist bereits in der Ostsee unterwegs, um Unterseekabel zu schützen und zu verteidigen.