Die Leute von Golzow
Von Burga Kalinowski
Golzow also. Die Leute von Golzow – am Beispiel des Dorfes im Oderbruch ein aktuelles Bild von Land, Leuten und Lage. Lebensgeschichten und Zeitgeschichte plus Gegenwart, auch die filmische Dokumentation »Die Kinder von Golzow« spielt mit hinein. Mal gucken. Wie immer auf dem Land wird es eine schwierige Recherche, Stichwort: Bus oder Bahn – oder gar nichts. Der Verfall der Infrastruktur ist offensichtlich und zeigt sich an den ausgedünnten Fahrplänen. Sichtbar auch in leeren Dörfern wie Golzow auf der langen Hauptstraße, wo ich an einem Donnerstag um elf Uhr keinen Menschen sehe. Manchmal brettert ein Lkw vorbei. Dann wieder Stille. Ein massiver grauer Block – in den Ort hineingefallen. Das Kra-Kra der Krähen knallt dagegen.
Keine Geschäfte. Im Gasthaus Wagner frage ich nach einem Laden wegen Keksen, Schokolade, Obst. Alles weg, sagt die Kellnerin. »Da müssen Sie nach Manschnow.« Das klingt nicht gut. »Nee. Kann man nicht ändern.« Auch der Bäckerladen wäre seit Jahresende 24 weg. Na, wenigstens kommt jetzt stundenweise ein Bäckerauto, auch ein Fleischwagen. Ohne Fahrzeug ist man erschossen – gefangen in Golzow, gewissermaßen. Früher, also in DDR-Zeiten, war die Gegend der Gemüsegarten für Berlin, Arbeit war und reichlich Lärm. Apotheke gab es, ’ne Post, Sparkasse. Und erst der Heimwerkermarkt! Nun nicht mehr. Die Leute von Golzow haben sich dran gewöhnt. An die Windräder vor der Tür will sich ein großer Teil von ihnen aber nicht auch noch gewöhnen. Auf keinen Fall.
Darauf gebracht hatte mich eine Zuschrift an die Redaktion, in der es zum Thema Klima heißt: »Ich weiß nicht, wer bei den Statistiken mehr lügt: die Propagandisten der Großaktionäre, die ihre Riesenprofite aus der Ausbeutung der fossilen Energieträger ›machen‹, oder jene, die die Multimilliarden an Land ziehen, die der sogenannte Green Deal aus den Werktätigen weltweit bereits jetzt schon presst. Fakt aber ist, dass es beiden Gruppen nicht um die Lebensbedingungen der Menschen geht, sondern um das Wesentliche in der herrschenden Ökonomie: Wachstum! Ein Großteil der Produkte weltweit (von Rüstung gar nicht zu reden) wird nicht produziert, weil sie gebraucht werden. Sie werden mit irrsinnigem Aufwand auf einen überfüllten ›Markt‹ gepresst, weil riesige Kapitalien sich verwerten müssen, bei Strafe ihres (unseres) Untergangs. Mit diesem System kann die Menschheit nicht überleben!« Unterschrift: Peter Tiedke, Golzow. Auf der Webseite der Wählergemeinschaft »Unser Golzow – Die Natur schützen, kein Windfeld Golzow-West!« wird es konkret. Vor 14 Tagen war ich in Golzow und habe mit Tiedke gesprochen – über Windräder, den Protest der Leute und so was alles.
Land zwischen Deichen
»Das hier ist meine Heimat«, sagt Peter Tiedke, »von null bis lebenslang.« Jedes Jahr in den Ferien raus aus Berlin zum Großvater im Nachbarort Neu Tucheband, später auch im Urlaub. Jetzt wohnt er in Golzow. »Diese Weite, diese Ruhe, die Sterne kannst du sehen, Sonnenuntergänge … Ein schönes Stückchen Land. Das soll so bleiben!«
Eine Kulturlandschaft, 1753 bis 1763 durch Trockenlegung der verzweigten Auenlandschaft der Oder entstanden, urbar gemacht und bewohnbar durch Binnenkolonisation. Friedrich Zwei (der Große) erkannte den wirtschaftlichen und demographischen Vorteil. Her die Kerls und Frauenzimmer und angesiedelt. Land, durch Deiche geschützt, trotzdem gefährdet, wenn die gefürchteten Jahrhunderthochwasser alles überfluteten. Sonst friedlich, nützlich, ertragreich. Und dieser hohe klare Himmel. Wie auf dem Foto auf dieser Seite. Peter Tiedke hat es gemacht und den Flyer der Wählergemeinschaft damit gestaltet.
Von der Weite werden alle sprechen: Marieluise Seidel, eines der Kinder aus der berühmten Dokumentation der Defa, Rita Kosa, Gemeindevertreterin, die wütend ist, weil gutes Ackerland betoniert wird für Windräder, die die Landschaft zerhacken und Insekten. Auch Christian Dorn, Bürgermeister von 1997 bis 2003, hat seine Geschichten, ebenso der Imker Berthold Knospe, der an riesige Sonnenblumenfelder denkt und an die Photovoltaikplatten, die Felder komplett abdecken. Dazu passt vielleicht der Einsteinsche Satz über Bienen: »Wenn die Bienen von der Erde verschwinden, dann hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben; keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, keine Menschen mehr.« Stimmt, sagt der Imker.
1947 erlebt der 12jährige Berthold Knospe, wie in der Märzkälte das große Hochwasser von Reitwein rüberkommt nach dem Dammbruch in der Nacht. – »Das ging so schnell … Russische Soldaten haben geholfen, die Volkspolizei. Wir haben Boote gekriegt und nur weg.« In Sicherheit im Schloss Neuhardenberg, zum Glück schon enteignet und belegt mit Leuten wie Knospes Eltern. Mit einem Boot ist er durch die Stube des Nachbarn im ersten Stock gefahren. Aus den großen Städten wie Berlin kam Hilfe. Trotzdem, danach war vieles hin. Aussaat, Ernte, Erträge. Dann der Hunger. Ging vorbei, wurde wieder besser. Ein 90jähriger und seine Rückblicke.
»Sie können alles zumachen«
Am 7. Oktober 1949 zum Beispiel hört Berthold Knospe im Radio, dass ein Tischler Präsident des neuen Landes geworden ist. Das ist wirklich ungewöhnlich. Es ist das erste Mal in der Geschichte. Also Präsident könnte er auch werden, denkt er kurz. Hat aber andere Sorgen und bleibt lieber bei der Tischlerei, macht seinen Meister und sich selbständig. Läuft gut. Das Land rappelt sich wirtschaftlich, auch in Golzow geht es voran. Was da in der Gegend überall gebaut wird vom Staat: Kulturhäuser zum Beispiel an jeder Ecke, jedenfalls da, wo Maschinenausleihstationen (MAS) entstehen, damit den jungen Traktoristen und allen Einwohnern die Zeit vergnüglich wird. In Kienitz, Sachsendorf, Golzow. Da ist heute die Gaststätte Wagner drin. Damals war alle 14 Tage Tanz. »Schöne Jugend«, sagt Knospe.
Als Tischler hat er gut zu tun: Ärztehaus, Kindergarten, Kaufhalle – Fenster, Türen, Schränke, Regale werden gebraucht, Särge sowieso. Gestorben wird immer. Mit dem Gewinn nach Steuer kann er gut leben. Dann beginnt der – sein – Ärger mit den Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH), die als Alternative zu privaten Firmen entstehen. Für Tischlermeister Knospe wird die Auftragslage eng, er tritt der PGH Holz bei, arbeitet an großen Aufträgen im Zementwerk Rüdersdorf und beim Aufbau des Gaskombinats Schwarze Pumpe mit (damals größter Braunkohleveredlungsbetrieb der Welt). Alles interessant – lieber wäre er allerdings doch sein eigener Herr. Ein Unfall stellt die Weichen neu: Er wird Imker. Von ihm höre ich zum ersten Mal von der Fachschule für Imker in Criewen. Nach der Wende geschlossen. Ähnlich geht es dem VEB Bienenwirtschaft Meißen, der verarbeitete Honig aus dem ganzen Land und versorgte es damit. »Dichtgemacht von der Treuhand. Nur noch 30 Tonnen statt 1.000. Wir haben die Völker halbiert – mit dem Westen ging unser Honig den Bach runter.« Alles weg. In meinem Notizblock eine lange Liste von Betrieben unter »Alles weg«.
Noch eine Erinnerung von Knospe: Ganz am Anfang der 90er Jahre hatte er in Spandau einen Honigstand. Regelmäßig kam am Markttag einer der Vorstandsmenschen von Siemens vorbei – ja doch, feiner Herr und gesprächig. Der sagte nett und wahrheitsgemäß dem Imker aus Golzow, wie Westpolitik und Ostwirklichkeit zusammengehen. Wahrscheinlich meinte er das Ganze: »Sie können alles zumachen. Das wird nicht gebraucht. Das machen wir am Feierabend nebenher.« Knospe: »So war es dann. Da soll sich keiner drüber wundern, was hier los ist.« Heutzutage. Und da sagt er noch nichts über die Wahlen am Sonntag oder zur Weltpolitik. »Dann hätten Sie den ganzen Tag zu schreiben.«
So hat jeder seine Bilder. Sie bringen die Zeit zurück. Vom Krieg werden die Leute erzählen und von der letzten großen Schlacht der Roten Armee bei den Seelower Höhen, von Bodenreform und LPG, dem schweren Anfang und ihrem langen schönen Leben hier – mit immer Arbeit, immer Ärger und Zufriedenheit. Und wie die abnahm. Von der »Wende« natürlich und was Politik den Leuten im Alltag bringt oder nimmt. Bis heute. Man merke es überall. »So ist das im Oderbruch.« Kein Wort zuviel gesagt. Dabei war noch keine Rede vom Ukraine-Krieg, von den Unsummen für Aufrüstung und Waffenlieferungen – Politiker wagen es tatsächlich, laut 300 Milliarden Euro und mehr zusätzlich zum Militärhaushalt zu fordern, weil Russland »uns« angreifen würde. O-Ton Außenministerin Annalena Baerbock: erst Polen, dann Ostdeutschland. Oh, grausig ist der Dummheit Sprache. Gezieltes Aggressionstraining per Bildschirm und Display: Kriegsfähig sollen die »lieben Bürger« werden – und willig für alles zahlen. Wenn es sein muss, auch mit dem Leben oder nur verletzt – unterwegs mit einer »EU-Friedenstruppe«, um es »dem Russen zu zeigen«. Die Ukraine wünscht sich von Deutschland nur eines: mehr Geld und Soldaten. So wird es in mittelmäßigen Talkshows von öffentlich-rechtlichen Laut-Sprechern hoch und runter beschworen: Von »Europa« müsste nun ein finanzpolitischer Big Bang kommen – der panisch einberufene EU-Sondergipfel in Paris berät über die erste Anschubfinanzierung für den dritten Weltkrieg. Baerbock rutscht die Zahl 700 Milliarden Euro raus, fürs erste. Für die Rüstungsindustrie ein Jackpot. Fast schon wie im Krieg. Die fiskalische Katastrophe, in die die »Staatenlenker« ihre Länder hetzen wollen, ist absehbar. Wie immer wird die Bevölkerung dafür blechen. Das hat sich bewährt – mit Kürzungen, Streichungen, Haushaltssperren. Knallhart und radikal – fordern die, die davon unberührt bleiben. Zielsicher treffen sie den Alltag der Leute. Das ist der Krieg nach Innen, habe ich vorige Woche irgendwo gelesen. Eine andere Zeile fällt mir ein: »… der Krieg, der jetzt durch die Länder geht, ist der Krieg gegen dich, Prolet!«, gesungen von Ernst Busch.
268 Meter hoch
»Ist das nicht blanker Wahnsinn!? Wegen dieser Politik wird hier AfD gewählt, mangels Alternative in Deutschland! Man müsste ausreisen, wenn einem das Land nicht so am Herzen liegen würde!« Wir werden es am Montag nach der Wahl sehen, sagt Peter Tiedke. Gute drei Stunden sitze ich bei ihm im Wohnzimmer, frage nach der Wählerinitiative »Unser Golzow – Heimat Oderbruch«. Ja, das ist eine lange konfliktreiche Vorgeschichte aus den Jahren 2023/24. Einfach gesagt: Streit, weil gegen den erklärten Willen einer absoluten Mehrheit der Golzower eine interessierte Minderheit versuchte, auf dem Golzower Acker ein Windkraftfeld bauen zu lassen. Ohne Rücksicht auf die Interessen der Mehrheit. Geplant war eine »kleine Variante« mit einer Höhe von 268 Meter. Zum Vergleich: Die Aussichtsplattform in der Kugel des Berliner Fernsehturms liegt bei 203 Metern. Im regionalen Planentwurf stand es als »Vorranggebiet 40 – Golzow-West«.
»Sollten wir das zulassen?« Rhetorische Frage – und ein Nein als Antwort. Es geht hier nicht nur um individuelle Interessen. »Unser Oderbruch hat als Kulturlandschaft grade erst 2022 das europäische Kultursiegel erhalten unter dem Titel ›Menschen machen Landschaft‹ – ich glaube nicht, dass damit die Zerstörung des Charakters einer Landschaft gemeint ist! Unser Oderbruch hier ist tatsächlich das einzige Gebiet im ›Europäischen Kulturerbe Oderbruch‹, das von solchen Windrädern freigehalten werden konnte. Wir wollten und wollen, dass das so bleibt.« Basta? – Ja, basta. Deshalb habe die Initiative »Gegen die Windräder vor unserer Haustür« im vergangenen Jahr beschlossen, erstens eine Kampagne zum Widerspruch gegen den Regionalplan Windenergie zu starten. Und zweitens eine Wählergruppe zu bilden und sich mit eigenen Kandidaten an der Kommunalwahl zu beteiligen. »Unser Ziel: Wir wollten eine Mehrheit im zukünftigen Gemeinderat erreichen und dann natürlich den ›Aufstellungsbeschluss‹ des alten Gemeinderates zu den Windrädern zurücknehmen.« In einem offenen Brief der Wählergruppe heißt es: »Wir sollten es schaffen, dass danach Volksvertreter amtieren, denen die Meinung ihrer Wähler nicht egal ist, auch wenn das im Bund mittlerweile die Regel zu sein scheint. Wir werden viele Helfer und alle Stimmen von denjenigen benötigen, die dem rücksichtslosen Raubbau an unserer Natur nicht tatenlos zuschauen wollen.«
Bei den Kommunalwahlen am 9. Juni 2024 liegt »Unser Golzow« mit 59 Prozent vorn. Mit sechs von zehn Gemeindevertretern und mit der Bürgermeisterin stellen sie die Mehrheit im Dorfparlament. Ein überraschender Sieg. Und deutlich. Und was nun? Es bleibt dabei: keine Windräder! Aber sie sind keine Utopisten: Vor kurzem beschloss die Gemeindevertretung Golzow ganz pragmatisch, 53 Hektar für eine Solaranlage freizugeben. An der Straße Richtung Genschmar montiert eine süddeutsche Firma die dunkel schimmernden Platten. Im Gegenzug ist die Gemeinde am Gewinn beteiligt: 140.000 Euro jährlich. Deal? Schweren Herzens. Gut für den Haushalt? Abwarten, abwarten.
Heidelbeeren aus Peru
Rita Kosa traut keinem mehr über den Weg. Wenn sie aus dem Fenster guckt über das große Feld, jetzt leer und kahl, im Frühjahr langsam grün wird und dann – je nachdem, was gesät wurde – ist es ein sacht wogendes Meer aus Getreidehalmen. Einfach schön, denkt sie. Aber Nicht mit den Windrädern! Mal sehen, wie das regional entschieden wird. »Wir sind denen doch nicht wichtig. Wie das hier werden wird – interessiert die nicht.«
Wir sitzen bei Wagner und trinken ein Gläschen. Sie erzählt, was passieren würde, falls und wenn die Windräder doch kommen. Sie ist die Tochter eines Bauern, und auch wenn sie Erzieherin gelernt hat und danach ihren Wunschberuf Verkäuferin, weiß sie es noch: Boden lässt man nicht verlumpern, verscherbelt ihn nicht. Also die Windräder. »Tief in die Erde, sieben Meter oder mehr, wird Beton gegossen! Der Boden wird versiegelt, ringsherum. Wir haben hier eine Bodenwertzahl um 60, 70 – das ist fruchtbarer Acker! Was hier wachsen könnte für unsere Versorgung, wird einfach zerstört.« Nee! Obst und Gemüse wird aus Spanien oder von sonstwo her ins Land geflogen. Sie kauft das Zeug nicht. »Die spinnen doch: Zu Weihnachten Heidelbeeren aus Peru. Wir versorgen uns selber und frosten im Sommer unsere Erdbeeren ein. Was erzählen die uns denn von Nachhaltigkeit!«
Das ist das eine. Das andere wäre fast zum Lachen. »Wir brauchen den Strom nicht. Wir verbrauchen den Strom nicht. Die können den Strom nicht mal speichern, hier nicht, nicht oben an der Nordsee. Soll ne Energiewende sein.« Aber Frackinggas aus Amerika kaufen, auch Norwegen liefert. Vor Jahren war schon mal eine Firma an Golzow interessiert. Es würde sich für jeden lohnen, hieß es. Ja, Rita Kosa ist sich sicher: Für Investoren und Betreiber auf jeden Fall. Der Staat spendiert gute Fördergelder. »Die sollen sich die Dinger vor ihre Nase stellen!« Bei der Vorstellung muss sie lachen. Nach einer Pause sagt sie: »Wissen Sie, ich muss immer daran denken, dass unsere Eltern schwer auf dem Acker gearbeitet haben, um die Familie zu ernähren. Erst alleine und wir Kinder haben dabei geholfen. In der LPG war es dann schon einfacher.« Als sie nach der »Wende« das Bodenreformland ihrer Familie verkaufte, gab es eine Bedingung im Vertrag: Keine Windräder auf unserm Acker. Sie hatte es ihrem Vater versprochen.
So lange her. Erlebt hat sie die guten Zeiten im Ort. Nicht vergessen den Zusammenhalt. Schreiben Sie ja was über den Artur Klietzke – das war der Chef von der LPG. Ja gern – soviel auf jeden Fall: er war weitsichtig, oft im wirtschaftlichen Denken ein Stück voraus. Ein Stratege und ein Schlitzohr auch, stellt Christian Dorn fest. »Wir waren ein Vorzeigebetrieb, kann schon sein. Aber in erster Linie waren wir gut und darin stabil.« – »Davon ist vielleicht auch unsere Gemeinsamkeit gekommen,« vermutet Rita Kosa. »Deshalb: Ich bin damals nicht auf die Straße gegangen – ich hab mich da nicht wohl gefühlt.« Jetzt ist das etwas anderes: »Die Verhältnisse treiben mich zum Protest, ist so.«
Profitabler Boden
Noch nach 35 Jahren fangen heutige Geschichten oft mit früher an. Heißt Wendezeit. Heißt Einigungsvertrag, und seine Auswirkungen. Heißt Ruck-Zuck weg mit dem Ost-Kram. Auf dem Lande gingen LPG und VEG pleite, wirtschafteten sich so durch, wurden übern Tisch gezogen oder fusionierten mit anderen Agrarbetrieben, was häufig auf eins raus kam. Ganz allgemein gesagt: Volkseigentum und Genossenschaftsland landete nach der Wende und über die Jahre oft in großen landwirtschaftlichen Gesellschaften mit beschränkter Haftung, falls es nicht vorher von ehemals enteigneten Adligen, sogenannten Alteigentümern, zu politisch gewollten günstigen Bedingungen aufgekauft wurde. Oder von Käufern, die ihr Kapital in Land anlegen – irgendwann nutzbar für Windräder, industrielle Biogasanlagen oder als Bauland, das ist besonders lukrativ. Boden ist die beste Anlage in dieser Gesellschaft. Bringt Profit und Macht. Wer hat, kann kaufen: durchschnittlich 30.000, 40.000 Euro für einen Hektar Acker, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, manchmal auch 100.000 Euro je Hektar. Boden ist mehr wert als Aktien. Boden verfällt nicht.
Außer es gibt eine Bodenreform – das bringt Gerechtigkeit für viele, schmerzte die wenigen Großgrundbesitzer und ostelbischen Junker wie 1945 in der SBZ, später DDR. »Junkerland in Bauernhand« hieß eines der größten sozialen und politischen Programme im Osten: Im September 1945 wurde im brandenburgischen Kyritz die Bodenreform proklamiert. Insgesamt 3,3 Millionen Hektar gingen an neue Besitzer: Landarbeiter, Tagelöhner, Gutsknechte und viele Umsiedler.
Großgrundbesitzer mit mehr als 100 Hektar Fläche, Kriegsverbrecher und aktive Nazis wurden entschädigungslos enteignet. Sowas wird nicht vergessen. Deshalb war das jahrzehntelange Geschrei darüber immer so laut und nach 1990 der Andrang auf DDR-Ackerland so groß. Heute spekulieren Anleger zunehmend auf den erhöhten Flächenbedarf vor allem bei der Stromerzeugung durch Windräder und Solaranlagen. Ein Produktionsmittel wird zu einem Börsenwert umgemünzt – hochprofitabel. Natürlich total legal …, ja ja. »Wir sind im Kapitalismus«, sagt Wolfgang Heinze, langjähriger Vorsitzender des Kreisrates von Märkisch-Oderland, »der tobt sich so aus«.
Mich erinnert diese Transformation an die Trickserei von Hütchenspielern. Am Ende ist man faktisch ausgeraubt. Kann sein, das es so oder ähnlich auch im Oderbruch ablief – oder anders? Jedenfalls war nach einer Weile von der fast legendär leistungsstarken LPG Golzow wirtschaftlich nicht mehr viel übrig. Außer im Dorf die deutlichen Spuren ihres wirtschaftlichen und sozialen Engagements für die Kommune. Davon erzählen meine Gesprächspartner ausführlich, meist mit dem Zusatz: »Wir haben gut gelebt«. Auf über 6.000 Hektar produzierte ihre LPG vorwiegend Gemüse für die Hauptstädter. Insgesamt lieferte der Kreis Seelow jährlich zwischen 64.000 und 69.000 Tonnen Gemüse. Da kam was in alle Kassen. In irgendwelchen Archiven lagern sicher noch entsprechende Kommunalverträge zwischen LPG und Gemeinden. Ich würde gern wissen, wie viel Kindergärten, Kulturhäuser, Arztpraxen, Kaufhallen, Bushäuschen, Schulen insgesamt in den ländlichen Bereichen der DDR auf diesem Weg entstanden sind – so wie auch im Oderbruch. Heinze, seit den 70er Jahren in der Landwirtschaft des damaligen Kreises Seelow tätig, erinnert sich: »Das war gigantisch, was geleistet wurde. Per order de mufti arbeiteten die Betriebsleiter sogar in den Gemeindevertretungen mit, kümmerten sich um deren Probleme – das hat funktioniert.«
Ast abgesägt
Dann war Schluss mit der sozialen oder sozialistischen – oder einfach nur menschenfreundlichen Umverteilung des Gewinns. Nicht wenige Leute waren schnell dabei, bisherige Eigentumsverhältnisse und damit soziale und politische Verhältnisse in die Tonne zu treten. Manche gern, andere zwang die neue Freiheit dazu. Ein historisches Beispiel für »den Ast absägen, auf dem man sitzt«.
Praktisch entstand nach 1990 aus den LPG (P) Golzow, Sachsendorf, Alt-Tucheband und Reitwein die Landwirtschaft-Golzow GmbH & Co. Vermögens KG. Das Unternehmen bewirtschaftete 2012 zusammen mit dem Tochterunternehmen Landwirtschaft Golzow-Betriebs-GmbH eine Fläche von 6.750 Hektar. Im Dezember 2012 übernahm dann die ODEGA-Gruppe (»Oderbruch Gemüsegarten«) die Mehrheitsbeteiligung von 65 Prozent am Unternehmen. In einer knappen Selbstdarstellung sind die Arbeitsfelder aufgeführt: Ackerbau, Geflügelwirtschaft, Gemüseverarbeitung und Rohkonserven sowie Erneuerbare Energien. In dieser Sparte betreibt sie zwei Biogasanlagen. Gern hätten sie dazu das Windfeld Golzow-West gehabt.
Ob es klappt, wird sich zeigen. Es liegt nicht in der Hand der Golzower. Zuständig ist die Regionale Planungsgemeinschaft Oderland-Spree. Die stellt einen Windplan auf und bestimmt, wo die Windräder stehen sollen, müssen, dürfen. Die Entscheidung wird im Sommer fallen. Da sind die in Golzow aber neugierig. Wird ihr demokratischer Protest berücksichtigt? Hat ihr Bürgerwille Gewicht? Oder wird er ignoriert? Anders gesagt, wieder ein Tiefschlag für die Frauen und Männer, die mit ihrem Protest einen politischen Wandel in der Kommune bewirkt haben. Sicher nicht weltbewegend – wichtig für ihre Lebenswelt allemal.
Die Leute von Golzow – eine lange Geschichte. Aufgehoben ist sie in Erinnerungen, in alten Fotos, in kleinen, auf schlechtem Papier gedruckten Broschüren, die Christian Dorn mir mitgibt. Dazu gehört auch seine Originalurkunde über sechs Hektar Land, ausgestellt am 6. Februar 1948. Dokumente der Zeit und des Landes. »Die ganze wahre Geschichte über uns und die DDR sind ›Die Kinder von Golzow‹« – sagen die Leute. Sogar auf dem Ortseingangsschild steht seit 2013 »Ort der Kinder von Golzow«.
Chronik einer Schulklasse
Es ist die längste Langzeitbeobachtung der internationalen Filmgeschichte. Der Wegbereiter und Nestor des Defa-Dokumentarfilms Karl Gass regte an, einen Kurzfilm über Schulanfänger der Jahrgänge 1953 bis 1955 zu machen, ihre Leben zu dokumentieren, ihren Weg ins Leben. 1961 begann mit »Wenn ich erst zur Schule geh …« diese Chronik einer Schulklasse. Mit der Kamera begleiten Barbara und Winfried Junge 18 Schüler, später Erwachsene, in ihrem Lebensalltag bis zum Ende der DDR 1990, danach weiter bis zum Jahr 2007. Ein historischer Spiegel. Ein Spiegel, der die Wahrheit zeigt. Normalität und Leichtigkeit im Alltag, und die Grauschleier gibt es gratis. Ganz Golzow verfolgte die Dreharbeiten seit Beginn. Hallo, der Film ist da. Welchen Wert das bekommen würde, konnte keiner wissen. Eine interessante Geschichte eben, die von allen erzählt. Nicht nur von den Filmkindern. Von Vielfalt, von Langeweile, von Träumen hoch hinaus und von ihrem Verglühen ganz leise. Von Zukunftsglaube und Zuversicht – von leisen Zweifeln und kritischen Fragen, von Unzufriedenheit. Wäre sonderbar, wenn es das nicht gegeben hätte.
Dabei entstanden 45 Stunden Filmmaterial. Marie Luise Seidel erinnert sich an den ersten Schultag mit Kamera. Neugierig sind alle gewesen, die Jungs haben sich für die Technik interessiert, die Mädchen haben geguckt. Ihre Zuckertüte war samtig, grün mit Gold verziert. Der letzte Dreh war 1997. Das Land war weg. In Golzow ging das Leben weiter, nur anders. Sie und ihr Mann leben inzwischen bei Köln. In Golzow war sie das letzte mal im vergangenen Herbst. Geschwisterbesuch im Elternhaus. Die Wege, die Schule, inzwischen auch ein Filmmuseum. Ihre Schwägerin macht in »Unser Golzow« mit. Das wäre auch was für Marie-Luise Seidel. In ihrem letzten Film sagt sie es: Sich nicht wegducken, Mund aufmachen, sich wehren auch für andere. Dabei bleibt es.
Burga Kalinowski ist freie Journalistin. Sie schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20. Juni 2024 »Dann mit Galopp ins Verderben«, den letzten Teil der achtteiligen Serie »Unsere Leser«.
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