»… und auch nicht anderswo«
Von Rüdiger Binkle
»Ohne das Kernkraftwerk Wyhl werden zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen«, erklärte vor einem halben Jahrhundert der ehemalige NS-Marinestabsrichter und südwestdeutsche Ministerpräsident Hans Filbinger. Der CDU-Politiker war Sprachrohr des offen reaktionären Flügels seiner Partei, fuhr bei Wahlen im Ländle satte Mehrheiten ein und plante eine Art zweites Ruhrgebiet zwischen Karlsruhe und Basel, für das 13 Atomkraftwerke den Strom liefern sollten. Dass das Gebiet zwischen Elsass und Schwarzwald den Wirtschaftseliten auf dem Servierteller präsentiert werden sollte, hatte bereits 1972 der baden-württembergische Staatsanzeiger verkündet: »Sachverständige Leute sind deshalb der Ansicht, die Ebene solle für gewerbliche und industrielle Nutzung freigegeben werden, während die Funktionen Wohnen und Erholung in der Vorbergzone und in den Seitentälern angesiedelt werden sollen.«
Aufruhr in alemannisch
Bereits im Juli 1973 war ruchbar geworden, dass sich die grauen Herren vom »Badenwerk« den Wyhler Auenwald am Kaiserstuhl als Standort für ein Atomkraftwerk (AKW) ausgeguckt hatten. Die Region war schon im Unruhezustand: Im nahen Breisach hatte man bereits gegen Kernenergie protestiert, in Freiburg bildeten sich Umweltschutzgruppen und im linksrheinischen Marckolsheim hatten Elsässer und Badener gemeinsam den Bau eines Bleichemiewerks verhindert. Der Protest schritt über die Grenzen. Als Lingua franca bediente man sich des alemannischen Dialektes; Mundartdichterinnen und -sänger bildeten den kulturellen Rahmen der Anti-AKW-Rebellion. Im Sommer 1974 traf man sich im Gasthaus »Fischerinsel« in Weisweil und hob das »Internationale Komitee der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen« aus der Taufe.
Kurz darauf tauchten in allen umliegenden Gemeinden und bald auch in ganz Südbaden die legendären Plakate mit dem durchgestrichenen AKW und der trotzigen Botschaft: »Nai hämmer gsait« (Nein haben wir gesagt) auf und kündeten vom örtlichen Widerstandswillen. Am 18. Februar 1975 schritten Kaiserstühler Winzerinnen und Bäuerinnen zur Tat. Nach einer Kundgebung stiegen sie auf die angereisten Baumaschinen der »Badenwerk AG« und besetzten kurzerhand das AKW-Gelände im Wyhler Wald. Schon nach zwei Tagen schickte die Stuttgarter Landesregierung die Räumungstruppen. 600 Bereitschaftspolizisten mit Hundestaffeln, Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen wurden gegen die Besetzerinnen und Besetzer in Bewegung gesetzt.
Die Machtdemonstration des Staates war zwar faktisch erfolgreich, politisch jedoch wurde Filbingers Haudraufstrategie zum Rohrkrepierer. Da der Südwestfunk in der Reihe »Vor Ort« zu später Stunde Bilder von Einsatzkräften sendete, die ältere Frauen durch den Schlamm zerrten und Besetzer einer erniedrigenden Gewaltprozedur unterwarfen, empörten sich nicht wenige Fernsehzuschauer über den Wyhler Polizeiauftritt. Auch Ministerpräsident Filbinger regte sich auf. Nicht jedoch über die Brutalität seiner Beamten, sondern darüber, dass so etwas im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt werden durfte. Er erwirkte eine »Wiedergutmachungssendung«, in der Vertreter der Atomlobby und er selbst sprechen durften.
Die Anti-AKW-Bewegung am Oberrhein focht das nicht an. Schon am 23. Februar standen 30.000 Demonstrierende im Rheinauenwald, durchbrachen Polizeiketten, packten Bolzenschneider aus, warfen Baumstämme auf den Stacheldrahtzaun, stürmten das Gelände und richteten sich dauerhaft auf dem AKW-Bauplatz ein. Hatten die örtlichen Winzer und Bauern anfangs lediglich gefürchtet, der künstliche Nebel aus den AKW-Kühltürmen könne Ernte und Weinlese beeinträchtigen, wuchs das Wissen um die Gefahren der Atomenergie und die Pläne zur industriellen Verwertung der Region. Dazu trug die legendäre »Volkshochschule Wyhler Wald« bei, wo man auf selbst gezimmerten Bänken Vorträgen über Radioaktivität, den Freiheitskampf der Salpeterer (Bauern und Salpetersieder, die im 18. Jahrhundert rebellierten), französische Landbesetzer oder irische Gewerkschafter lauschte. Auf den Spruchbändern, die über den besetzten Platz wehten, hatte man »Kein KKW in Wyhl …« längst mit »… und auch nicht anderswo« ergänzt und somit gezeigt, dass man am Kaiserstuhl nichts vom vielzitierten Sankt-Florians-Prinzip (Gefahren auf andere zu verschieben) wissen wollte.
Unparteiisch
Die Landesregierung warnte vor angereisten kommunistischen Kadern, denen es nicht um Radioaktivität, sondern um Revolution ginge. In der Tat waren DKP und die maoistische Parteikonkurrenz vor Ort. Sie hatten jedoch stets das Problem, erklären zu müssen, warum Atomkraft jenseits der Elbe oder in der Volksrepublik China ein Segen, am Kaiserstuhl hingegen ein Fluch sein sollte. Der Kommunist, Rheinfischer und Gastwirt Balthasar Ehret bildete da die Ausnahme. Bei seiner prinzipiellen Gegnerschaft zur Atomkraft ließ sich die Galionsfigur des regionalen Widerstandes von keinen Parteitagsbeschlüssen beeindrucken.
Ab 1977 hörte man vom Kampf der AKW-Gegnerinnen auch im Äther. Das Piratenradio »Dreyeckland« sendete heimlich aus elsässischen Bergen oder Freiburger WG-Zimmern atom- und gesellschaftskritische Töne. Den Ursprungsnamen »Radio Verte« hatte man abgestreift, um nicht zu nahe an die geplanten Parteigründungen im Dreiländereck zu geraten. Es gehört zu den noch immer verbreiteten Geschichtslegenden, dass die Entstehung der Grünen eine logische Folge der Bürgerinitiativenbewegung gewesen sei. Dass einige Atomkraftgegner mit grünen Listen und Parteien in die Kommunal- und Landesparlamente gespült wurden, sorgte für Presseaufmerksamkeit, band aber Kräfte und schränkte die Vielfalt des antinuklearen Widerstandes ein.
1994 dämmerte es der Landesregierung und der Nuklearindustrie, dass das Projekt Wyhl »politisch nicht durchsetzbar« sei. Ein halbes Jahrhundert später lobbyiert die ehemalige südbadische Grünen-Abgeordnete Kerstin Andrae für die Energiewirtschaft und den Braunkohleverbrenner RWE. Das einstige Piratenradio hat nicht mehr die Atomlobby, sondern den Rest der Friedensbewegung im Visier. War alles umsonst? Keineswegs. Wo die Atomlobby die Brennstäbe glühen lassen wollte, ist seit 30 Jahren ein Naturschutzgebiet. Die »Perlenkette der Atomkraftwerke« am Oberrhein blieb der Menschheit erspart, und es bleibt das Wissen, dass ein buntes, renitentes Völkchen im Wyhler Wald die Kernkraft in die Knie zwingen konnte.
Wyhler Anfänge und die Taktik der Atomlobby
In der heißen Phase dieses Konflikts analysierte das Battelle-Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie den Widerstand. Die erste Studie hatte den Titel »Bürgerinitiativen im Bereich von Kernkraftwerken«. Die Badenwerk AG beauftragte dann 1975 die Hamburger Werbeagentur Drews, Verfahrensstrategien zu entwickeln, die eine zügige Überwindung des Widerstandes der Bevölkerung garantieren sollten. Das Manager-Magazin und der Spiegel berichteten 1975 über die Vorschläge der Werbeagentur, die unter anderem die folgenden Taktiken vorgeschlagen hatte:
– »Negativtaktik: Dramatisierung aller Probleme, die durch den Nichtbau von Kernkraftwerken entstehen. Die Ängste der Gegenwart durch die Ängste der Zukunft überdecken.
– Verschleierungstaktik: Herunterspielen der Probleme, die im Zusammenhang mit Kernkraftwerken in der Bevölkerung auftauchen. Die Ängste durch Verfremdung der Probleme verdrängen.
– Verschönerungstaktik: Einseitige, positive Informationen über alle Fragen (fast alle) der Kernenergie. Die Ängste einfach negieren und ein positives Bild aufbauen.«
Dieses Strategiepapier kommt einem angesichts mancher Argumente der Atomwirtschaft im Zusammenhang mit der aktuellen Atomausstiegsdebatte seltsam bekannt vor. Die alten Strategien werden heute noch verwendet, auch wenn es gilt, die »Vorzüge« des geplanten, neuen Europäischen Druckwasserreaktors zu preisen.
Axel Mayer: Akzeptanzforschung, Greenwash, PR. Kriegspropaganda, Umweltlügen und Atompropaganda, 21.9.2000, mitwelt.org
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