Der große Zorn
Von Hansgeorg Hermann
Die Katastrophe von Tempi (Region Larissa) liegt nun zwei Jahre zurück. 57 meist junge Menschen starben dort am 28. Februar 2023 bei einem schrecklichen Eisenbahnunglück, 25 wurden schwer verletzt. Ein aus dem Norden kommender Güterzug und ein Intercity auf dem Weg von Athen nach Thessaloniki waren kurz vor Mitternacht auf einem eingleisig befahrenen Streckenabschnitt frontal zusammengestoßen. 24 Monate später sind die Ursachen noch immer nicht aufgeklärt. Angehörige und Freunde der Toten – die Jungen unter ihnen wollten von einem Wochenendausflug bei den Eltern aus der Hauptstadt zur Universität Aristotelis in die Nordmetropole zurückreisen – wissen bis heute nicht, warum ihre Nächsten tatsächlich das Leben verloren haben.
Die rechtsnationale Regierung des Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis mauert derweil nicht nur: Rund 80 Prozent der Bevölkerung sind sich inzwischen auch sicher, dass der Premier, seine verantwortlichen Minister und die Chefs der Gesellschaft Hellenic Train lügen, dass sich die Balken biegen. An diesem Freitag werden die Menschen ihren Zorn gemeinsam auf den Straßen und auf den Plätzen des Landes kundtun. Angesagt sind Generalstreik, Protestzüge, Blockaden und Kundgebungen.
In den Tagen nach dem Debakel, als die Bilder von den entgleisten, ineinander verkeilten Waggons um die Welt gingen, hatte Mitsotakis nicht viel zu sagen: »menschliches Versagen vermutlich«. Dem in dieser Nacht in Larissa verantwortlichen Weichensteller wurde die »Schuld« für das schlimmste Zugunglück Griechenlands quasi nebenbei auf die Schultern geladen – einem 59 Jahre alten ehemaligen Pförtner, der im Jahr zuvor im Schnellkurs zum Fahrdienstleiter ausgebildet worden war. Der zuständige Verkehrsminister Kostas Karamanlis schlich sich aus dem Amt. Athener Zeitungen mutmaßten, er habe ohnehin nicht mehr gewollt. Die Vergangenheit drohte ihn einzuholen: seine Amtszeit als Ministerpräsident von 2004 bis 2009, das finanzielle Debakel um die Olympischen Spiele und der sich damals schon anbahnende Staatsbankrott.
Gewerkschaften und Oppositionsparteien sind sich sicher, dass der 2016 bis 2017 von der damaligen Troika, den Brüsseler Kontrolleuren der griechischen Schuldenkrise, geforderte Verkauf des bis dahin staatlichen Bahnbetriebs OSE (Organismós Sidirodrómon Elládos) bei der Ursachenermittlung der Katastrophe von Tempi an erster Stelle zu nennen wäre. Bei einem Schätzwert von rund 200 Millionen Euro verscherbelte die TAIPED, das griechische Äquivalent zur deutschen Treuhand, unter dem Druck der europäischen Freunde und Geldgeber den Laden im Januar 2017 für ganze 45 Millionen Euro. Die Folgen trugen, wie bei Privatisierungen üblich, vor allem die Lohnabhängigen. Die neuen Besitzer, die Ferrovie dello Stato Italiane (FS), die als einzige ein Gebot abgegeben hatten, senkten den Personalstand drastisch ab.
Von rund 12.500 Beschäftigten der OSE seien im Jahr 2021 nur rund 2.000 übriggeblieben, ermittelten Journalisten des Internetportals Europe Investigate. Nach einem im März 2023 veröffentlichten Bericht des Mediums, der Aussagen des früheren OSE-Sicherheitschefs Christos Retsinas zitiert, hätten mit diesem knappen Personal höchstens 300 der rund 2.500 griechischen Streckenkilometer »sicher betrieben« werden können. Wie Retsinas demnach ausführte, habe das FS-Management zahlreiche, bis dato für die Sicherheit zuständige Eisenbahner abgezogen, um sie im wirtschaftlich wichtigen Passagierbereich einzusetzen.
Protestiert wird gegen die »Verschleierungs- und Lügentaktik« der Regierung Mitsotakis nicht erst seit dieser Woche. Die Hoffnung des Premiers, das Thema »Erdbeben« in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion schieben zu können, erfüllte sich nicht. Während in den vergangenen Wochen vom Zentrum der Inselgruppe Kykladen – dem Dreieck Santorin, Milos, Amorgos – täglich bis zu 200 Erdstöße in der Größenordnung 3,5 bis 5,2 der Richterskala gemeldet wurden, gingen in Athen und Thessaloniki die Studenten auf die Straße und mahnten den Premier, nur ja nicht von Tempi abzulenken.
Eine neue Theorie zur Unfallursache machte unterdessen auch in internationalen Expertenkreisen von sich reden. Eine, die der Regierungschef bis vor wenigen Wochen noch entschieden zurückgewiesen hatte: Der Güterzug hat demnach nicht, wie in allen bisherigen offiziellen Berichten behauptet, nur »Stahlblech und Container« transportiert, sondern auch hochexplosives Material. Gregor Kritidis, einer der Sprecher griechischer Kulturvereine in Deutschland, erklärte gegenüber junge Welt: »Es geht hier nicht nur um die Folgen der Austeritäts- und Privatisierungspolitik für die Sicherheit im Schienenverkehr, sondern auch um die Vertuschung der Ursachen der Katastrophe. Die meisten der Opfer kamen nicht bei dem Zusammenstoß der Züge, sondern infolge der Explosion einer illegalen Fracht der Lösungsmittel Xylol und Toluol ums Leben. Mit Lösungsmitteln wird in Griechenland traditionell Benzin gepanscht, die Vermutungen gehen aber dahin, dass es sich bei diesen Transporten um Lieferungen an kriegführende Staaten handelt.«
Am 29. Januar schließlich gab Mitsotakis unter öffentlichem Druck ein Interview beim TV-Kanal Alpha-TV. Der gehört interessanterweise der Firma Motor Oil Hellas. Besitzer sind die milliardenschweren Mitglieder der kretischen Familie Vardinogiannis, die ihr Vermögen 1966/67 im Erdölschmuggel für die damalige britische Kolonie Rhodesien machte. Mitsotakis’ neue, nun angepasste Version zu Tempi: »Was als unwahrscheinliches Szenario erschien, könnte letztendlich möglich sein.«
Hintergrund:
Solidarität
Griechische Tageszeitungen und Internetportale haben den Protest gegen die Verschleierungs- und »Lügenpolitik« des rechten Regierungschefs Kyriakos Mitsotakis in ihren Donnerstagausgaben noch einmal unterfüttert und angeheizt.
Das linke Hauptstadtblatt Efimerida ton Syntakton (Efsyn, Zeitung der Redakteure) veröffentlichte eine Sonderbeilage mit dem Titel »Der Zug des großen Zorns – zwei Jahre später«. Die Redaktion beschreibt dort, Seite für Seite, die Nacht, in der 57 Menschen starben, alle bisherigen Ermittlungsergebnisse und Mutmaßungen, die schließlich Tatsachen wurden und zur Entlarvung eines »Verbrechens« geführt hätten.
Das »Verbrechen«, das die Zeitung und mit ihr Hunderttausende Griechen so nennen, bezieht sich nicht nur auf die von Politikern in Brüssel und Athen im Auftrag des Finanzkapitals brutal durchgezogene Privatisierung der Eisenbahngesellschaft OSE im Jahr 2017 – da war die angeblich linke, in Deutschland als »extreme Linke« verachtete Syriza mit ihrem Premier Alexis Tsipras in der Regierung –, sondern vor allem auf die erst Monate nach dem schweren Unfall über das Land hereingebrochene Erkenntnis, dass Beweismaterial versteckt und vernichtet wurde.
Beschrieben wird der an den Mauern der Regierungsgebäude zerschellende Kampf der Familien der Opfer. Ein Kampf, schreibt die Zeitung, der sich schließlich zu einer nationalen Bewegung der Solidarität formierte, die an diesem Freitag den Protest gegen kapitalistische Macht und deren politische Helfer anführen wird. Es gehe, heißt es in der Zeitung und in den Aufrufen zum millionenfachen Protest, um nicht weniger als um »Wahrheit und Gerechtigkeit«.
»Meine Kehle brannte, ich hatte die Sprache verloren«, sagt eine Mutter im Interview mit den Efsyn-Journalisten angesichts der von Regierung und Justiz verschleppten Ermittlungsarbeiten. Den »tieferen Grund für das Verbrechen« sehen die meisten Befragten in der Privatisierung des einstigen Staatsbetriebs und dem folgenden »ungeheuerlichen« Abbau des Personalstands. (hgh)
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vom 28.02.2025