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Aus: Ausgabe vom 01.03.2025, Seite 1 / Titel
Griechenland

Millionenfacher Protest

Am zweiten Jahrestag des Zugunglücks in Tempi legen Demonstrationen und Streiks ganz Griechenland lahm
Von Hansgeorg Hermann, Chaniá
Einmal mehr antwortete die Staatsmacht mit leeren Versprechungen und vor allem Repression (Thessaloniki, 28.2.2025)
Bis heute ist unklar, wie es zu dem schweren Zugunglück überhaupt kommen konnte (Tempi, 1.3.2023)
»Den echo oxygono« – »Ich bekomme keinen Sauerstoff«: Der Ausspruch eines Unglücksopfers wurde zum Motto der Proteste (Athen, 28.2.2025)
Die Einsatzkräfte wurden vereinzelt auch mit Molotowcocktails beworfen (Athen, 28.2.2025)
Feuerbälle und Bäume voller reifer Orangen auf dem Syntagma-Platz (Athen, 28.2.2025)

Zwei Jahre nach dem schweren Eisenbahnunglück in Tempi (Region Larissa), bei dem 57 meist junge Reisende am 28. Februar 2023 ihr Leben verloren hatten, musste sich der rechte griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am Freitag einem seit 1974, dem Ende der Militärdiktatur, von keiner Regierung so erlebten Volkszorn stellen. In allen Städten des Landes, Schwerpunkt waren Athen und Thessaloniki, versammelten sich am Donnerstag morgen Hunderttausende Menschen, deren Zahl gegen Mittag zu mehr als einer Million anwuchs. Die Straßen, kilometerlang dichtgedrängt von Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten, wurden zum Gerichtsaal. Auf der Anklagebank der »mörderische Staat«. Angehörige der Opfer verurteilten »Vertuschung«, »Korruption« und »Lüge« bei den seit 24 Monaten nahezu ergebnislosen offiziellen Ermittlungsarbeiten. Maria Karystianou, Vorsitzende der Gemeinschaft betroffener Eltern, kündigte den Regierenden einen Kampf an, der nur mit dem »Sieg der Gerechtigkeit« beendet werden könne: »Sie müssen uns fürchten.«

Mitsotakis’ Regierung taumelte zumindest an diesem Tag unter der Wucht einer Protestwelle, die nicht nur an der Ägäis über das Land schwappte, sondern »überall, wo auf der Welt Griechen wohnen«, wie Reporter des TV-Senders ERT 1 berichteten. Verurteilt worden sei »das Verbrechen« von Tempi auch in Aarhus und Zürich, in Melbourne und Kapstadt ebenso wie in München und Berlin. Ein Generalstreik, zu dem unter anderem Gewerkschaften, Hilfsorganisationen und Kulturträger aufgerufen hatten, legte am Freitag in Griechenland das Geschäftsleben still, geschlossen blieben Banken, Büros, Schulen und Universitäten. Organisiert wurden Kundgebungen und Versammlungen unter dem Slogan »Ich habe keinen Sauerstoff« – ein Satz, den eine junge Passagierin aus den Trümmern ihres Zugabteils vor ihrem Tod noch in die Notrufnummer gesprochen hatte. Auf dem zentralen Athener Platz vor dem Parlamentsgebäude, der Platía Syntágmatos, traten Eltern ans Mikrophon, die bei dem Unglück ihre Kinder verloren hatten. Verlesen wurden die Namen der Opfer, die von vielen tausend Menschen im Chor wiederholt wurden.

Das Vertrauen in Politik und Justiz ist in den vergangenen zwei Jahren verlorengegangen, bilanzierten am Rande des Straßenprotests Künstler und Sprecher der Gewerkschaften. Der Regierung sei auch an diesem Tag nichts Besseres eingefallen, als »Aufklärung« und »Bereinigung« zu versprechen, einige zehntausend Polizisten zu mobilisieren und in Athen die wichtigsten Metrostationen zu schließen, um so dem Protest den Weg ins Zentrum der Hauptstadt zu erschweren. »Ein ganzes Volk spricht heute«, sagte Karystianou, während im Parlament die Abgeordneten eine schlappe Gedenkstunde hinter sich brachten. »Wir müssen unsere Kinder schützen«, ergänzte Karystianou. Die Regierenden aller politischen Konstellationen hätten dieses Versprechen offenbar nicht mehr in ihrem Programm. Gerechtigkeit brauche Sauerstoff: »Den werden wir ihr verschaffen.«

Während der Protest in allen Städten des Landes bis gegen 13 Uhr gewaltlos blieb, lieferten sich danach der »Schwarze Block« und Einheiten der gepanzerten Spezialeinheiten der Polizei in Athen den erwarteten Kampf. Molotowcocktails flogen, die hölzernen Kabinen der Palastwache vor dem Parlamentsgebäude wurden in Brand gesteckt, die Ordnungskräfte antworteten mit Tränengas und extralangen Schlagstöcken.

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