Der erste Weltbürger
Von Stefan Ripplinger
Am Ende hat die Französische Revolution nicht viel mehr erreicht, als das Recht auf Eigentum mit der Pflicht zur Leistung zu verknüpfen. Aber was für glänzende Pläne sie aufgewirbelt hat! Der revolutionärste ist zweifellos der von Gracchus Babeuf. Weniger bekannt, aber nicht weniger beeindruckend sind die Reden von Johann Baptist Cloots (1755–1794), vormals Baron von Gnadenthal, der ein reicher und eloquenter Kosmopolit, ein militanter Anhänger der Jakobiner und eines ihrer Opfer war. Nach einem skythischen Gelehrten nannte er sich »Anacharsis«.
Lange Zeit kursierten die Schriften von Anacharsis Cloots nur bei Literaten und Künstlern. Herman Melville und Italo Calvino haben sich ebenso wie Oswald Wiener und Joseph Beuys auf Cloots bezogen. Nun ist erstmals auch bei uns eine kleine Auswahl seiner Reden erschienen, von Tobias Roth schwungvoll übersetzt und kundig kommentiert. Sie kommen mit 230 Jahren Verspätung, aber vielleicht gerade zur rechten Zeit. Denn überall auf der Welt reckt die Nation erneut ihr hässliches Haupt. Und nichts war Cloots mehr verhasst als Nationalismus und Pfaffentum. Er begriff sich als Weltbürger und sprach stets für das gesamte »Menschengeschlecht«.
Bei den Reden blieb es nicht. Er forderte den Export der Revolution in andere Länder, auch mit militärischen Mitteln. »Lasst uns hart oder gar nicht zuschlagen; lasst uns überall oder nirgends zuschlagen.« Erstmal in Preußen und Österreich und – warum nicht? – demnächst in den Niederlanden. Nicht nur die zügige Hinrichtung Ludwigs XVI. forderte er, sondern auch die möglichst vieler anderer Herrscher. »Der Kopf eines Monarchen auf dem Schafott beschleunigt die Verjüngung der Welt.«
An der »Dechristianisierung« beteiligte er sich eifrig, denn »das größte Hindernis für meine Utopie ist die Religion«. Anders als fast alle anderen Aufklärer schonte er das Judentum. »Ich halte den Handel für den Hauptgrund dafür, dass sie nicht untergegangen sind«, heißt es schon in seinem »Brief über die Juden« (1782). Er schätzte, wie zuvor Gotthold Ephraim Lessing (»Die Juden«, 1754), die Weltlichkeit und Weltläufigkeit der vermögenden Juden. Das schloss die oft armselig lebenden Orthodoxen nicht ein, aber bewies doch mehr Großzügigkeit als, sagen wir einmal, Immanuel Kant oder Voltaire.
Doch je realpolitischer die Revolution wurde, desto mehr besann sie sich wieder auf Nation und Religion. Cloots geriet um 1793 ins Visier von Robespierre und seiner Gefolgschaft. Nicht nur Cloots’ Antinationalismus, auch sein Atheismus missfielen nun. In einem Schauprozess am 24. März 1794 verurteilte man ihn zusammen mit dem Materialisten Jacques-René Hébert und einigen von dessen Anhängern zum Tode und guillotinierte sie noch am selben Nachmittag. Dass Cloots gar nicht zu den Hébertisten gehörte, spielte keine Rolle mehr.
Thomas Carlyle schreibt in seiner Geschichte der Französischen Revolution (1837): »Rasch wurde dieses undefinierbare Allerlei zu einem Haufen zusammengeworfen. Schon mussten sie ihren letzten Weg gehen. Es half nichts. Auch sie mussten ›durch das Fensterchen blicken‹, auch sie mussten ›in den Sack niesen‹. Wie sie selbst es andern hatten angedeihen lassen, so geschah es nun ihnen. Die Sainte-Guillotine ist, so scheint es mir, schlimmer als die alten Heiligen des Aberglaubens. Ist sie eine menschenfressende Heilige? Cloots, der noch immer seinen geschliffenen Sarkasmus an den Tag legte, erbot sich, einen Scherz zu machen und dem Materialismus erbauliche ›Argumente‹ zu liefern: Er bat nämlich darum, als Letzter hingerichtet zu werden, ›um bestimmte Prinzipien zu begründen‹, die, denke ich, der Philosophie später nicht zum Vorteil gereicht haben.« Hier mag sich der konservative Carlyle irren. Allerdings trifft es zu, dass sich das Weltbürgertum nicht herbeiguillotinieren lässt.
Anacharsis Cloots: Reden aus der Revolution 1790–1793. Herausgegeben und aus dem Französischen von Tobias Roth. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2024, 203 Seiten, 15 Euro
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