Unsterbliche Partien
Von Sören Bär
Boris Spasski verfügte über ein faszinierendes Talent und wurde bekannt, als er bereits im Alter von zehn Jahren eine Simultanpartie gegen den damaligen sowjetischen Champion Michail Botwinnik gewann. Geboren wurde er am 30. Januar 1937 in Leningrad. Sein Vater hatte die Familie verlassen, so dass seine Mutter ihn, seinen älteren Bruder Georgi sowie die jüngere Schwester Iraida in ärmlichen Verhältnissen aufziehen musste. So bot ihm das Schachspiel, das er mit fünf Jahren erlernte, eine Chance, den schwierigen Verhältnissen zu entfliehen. Während des Krieges wurde er in ein Heim in der Kirower Region evakuiert. Nach seiner Rückkehr trat er als Neunjähriger in die Schachsektion des Pionierpalastes ein und verbesserte sich unter Trainer Wladimir Sak und angespornt durch die Konkurrenz mit Mark Taimanow und Wiktor Kortschnoi – beide spätere WM-Kandidaten – schnell. Nachdem er 1948 Leningrader Nachwuchsmeister geworden war, erhielt er ein monatliches Stipendium von 1.200 Rubel, das über dem monatlichen Durchschnittslohn lag.
Im Alter von fünfzehn Jahren erhielt er mit Alexander Tolusch einen neuen Coach. Bei der UdSSR-Meisterschaft 1955, zugleich WM-Zonenturnier (ZT), gelang Spasski mit dem geteilten zweiten Rang die Qualifikation für das Interzonenturnier (IZT). 1955 war ein Erfolgsjahr für ihn, denn er avancierte zum U20-Weltmeister und qualifizierte sich beim IZT in Göteborg für das WM-Kandidatenturnier (KT) in Amsterdam 1956, wo er den dritten Rang teilte. Ihm wurde im Alter von 18 Jahren als jüngstem Spieler der Welt der Großmeistertitel verliehen. Der WM-Titel schien nur eine Frage der Zeit zu sein, doch in den Folgejahren scheiterte er oft im entscheidenden Moment.
Beim UdSSR-Championat 1958 unterlag er in der letzten Runde gegen den knapp drei Monate älteren Michail Tal. Der gewann den Titel und stieg mit Siegen im IZT, im KT und im WM-Kampf gegen Botwinnik 1960 zum Weltmeister auf. Ein ähnliches Szenario ereignete sich 1961, als Spasski im Stichkampf um die IZT-Teilnahme an Leonid Stein scheiterte. Tolusch empfahl ihm daraufhin Igor Bondarewski als neuen Trainer, um ihm eine Weiterentwicklung zu ermöglichen. Bondarewski, 1940 UdSSR-Meister, zeichnete sich durch hohe Arbeitsmoral aus. Spasski gewann bei der ebenfalls 1961 ausgetragenen 29. Meisterschaft erstmals den Titel. 1964 erreichte er endlich die Qualifikation für das IZT in Amsterdam, das er geteilt gewann. Im WM-Viertelfinale schlug Spasski sein Idol, den Esten Paul Keres, mit 6:4 und im Halbfinale Jefim Geller mit 5,5:2,5. Im Finale des Kandidatenturniers triumphierte er nach einer Niederlage in der ersten Partie noch 7:4 über Exweltmeister Tal. Doch im WM-Match 1966 konnte er die Verteidigung des Champions Tigran Petrosjan noch nicht brechen und verlor 11,5:12,5.
Für die Kandidatenkämpfe 1968 vorberechtigt, gab er wiederum allen Gegnern das Nachsehen. Es machte sich bezahlt, dass Spasski in seiner Jugend erfolgreich Leichtathletik betrieben hatte. Nach 5,5:2,5-Siegen im Viertelfinale gegen Jefim Geller und im Halbfinale gegen den Dänen Bent Larsen übertrumpfte er im Finale auch Kortschnoi mit 6,5:3,5 und durfte erneut Petrosjan herausfordern. Mit einem überzeugenden 12,5:10,5 im Match 1969 in Moskau setzte er sich die WM-Krone auf. Dann griff der US-Amerikaner Robert James Fischer mit einer sensationellen Erfolgsserie die sowjetische Hegemonie an.
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Spasski, der sich selbst als »faulen russischen Bären« bezeichnete, bereitete sich lieber physisch auf dem Tennisplatz auf das zum »Match des Jahrhunderts« hochstilisierte WM-Duell 1972 in Reykjavík gegen Fischer vor, als an seinen Eröffnungen zu arbeiten. Heute wird Spasski leider in erster Linie mit seiner Niederlage in diesem Match assoziiert. Spasski hatte zuvor von fünf Partien gegen den US-Amerikaner drei gewonnen und zwei remisiert. Auch bei der Schacholympiade 1970 in Siegen hatte er Fischer geschlagen und errang die Goldmedaille am ersten Brett.
Die WM 1972 wurde am 1. Juli in Fischers Abwesenheit eröffnet. Spasski befand sich seit dem 22. Juni vor Ort und wartete geduldig. Die auf den 2. Juli terminierte erste Partie wurde zweimal verschoben. Nach einer deutlichen Erhöhung des Preisgeldes traf Fischer erst am 6. Juli ein. In der schließlich am 11. Juli (!) ausgetragenen ersten Partie siegte Spasski. Fischer protestierte gegen die aufgestellten Fernsehkameras, trat zur zweiten Partie nicht an und verlor kampflos – 2:0 für Spasski. Fischer forderte nun die Austragung der dritten Partie in einem Hinterzimmer. Der kultivierte und joviale Spasski hätte legitim abreisen können, ging jedoch auf Fischers Psychospielchen ein und verlor erstmals gegen ihn und war danach nur ein Schatten seiner selbst. Nach weiteren vier Niederlagen lag er plötzlich 3,5:6,5 zurück. Spasski gewann nur noch die 11. Partie, verlor den Kampf 8,5:12,5 und den WM-Titel an Fischer. In der Sowjetunion fiel Spasski in Ungnade. Nach neunmonatiger Depression gewann er 1973 die gigantische UdSSR-Meisterschaft vor Anatoli Karpow und Kortschnoi. Nachdem Fischer seit dem Titelgewinn inaktiv war und Spasski im Viertelfinale 1974 Robert Byrne (USA) 5,5:2,5 geschlagen hatte, galt er wieder als aussichtsreichster Titelanwärter, doch er scheiterte im hochklassigen Halbfinale mit 4:7 an Karpow. 1977 gelangte Spasski noch einmal ins WM-Kandidatenfinale, verlor aber in Belgrad eine Nervenschlacht gegen Kortschnoi, der inzwischen in die Schweiz emigriert war. Einen letzten großen Erfolg feierte Spasski beim Superturnier in Linares 1983, als er ungeschlagen gewann und Weltmeister Karpow sowie den Schweden Ulf Andersson distanzierte.
Spasski führte drei Ehen, aus denen jeweils ein Kind hervorging. 1975 begann seine dritte Ehe mit Marina, einer Französin russischer Abstammung. Spasski zog mit ihr nach Frankreich und wurde 1976 französischer Staatsbürger, spielte jedoch weiter für die Sowjetunion. Nachdem er beim zweiten Match der Sowjetunion gegen den Rest der Welt 1984 nicht berücksichtigt worden war, wechselte er unter die französische Flagge. Nach 37 Jahren Ehe und der Scheidung 2012 kehrte er nach Moskau zurück, wo er am 27. Februar verstarb.
Boris Spasski schuf unsterbliche Partien. Seine glänzende Kombination aus der Partie gegen David Bronstein bei der UdSSR-Meisterschaft 1960 war sogar 1963 im James-Bond-Film »Liebesgrüße aus Moskau« zu sehen. In der Bundesliga spielte Spasski von 1980 bis 1990 für die Solinger SG, mit der er 1981, 1987 und 1988 Mannschaftsmeister wurde und 1990 den Europacup gewann. In der abgebildeten Partie gelang ihm eine geniale Schlusssequenz.
Gilles Andruet – Boris Spasski, Bundesliga 1987/1988, SV Koblenz – Solinger SG, Solingen 1987, Brett 2, Bogoljubow-Indisch
1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 Lb4+ 4.Ld2 Lxd2+ 5.Dxd2 d5 6.Sc3 O-O 7.e3 De7 8.Tc1 Td8 9.Dc2 Sbd7 (9...dxc4 10.Lxc4 c5 11.O-O Sc6 12.dxc5 Dxc5 13.Se4 De7 14.a3 Ld7 15.Ld3 h6 16.b4 Tac8 17.Db2 Le8 = geschah in Nikolic-Andersson in Nikšić 1983, wo auch Spasski mitspielte.) 10.cxd5 exd5 11.Ld3 Sf8 (Üblich wäre 11...b6 12.O-O Lb7 13.Tfd1 c5 =, aber das Ross strebt zum Königsflügel.) 12.Se2 c6 13.O-O Sg6 14.Sg3 Te8 15.Dc5 Dd8 (Weicht dem Damentausch aus, denn nach 15...Ld7 16.Dxe7 Txe7 17.Sf5! Lxf5 18.Lxf5 Se4 = gäbe es kaum Gewinnpotential.) 16.Sd2 Sh4 17.b4 a6 (17...Ld7 18.a4 b6 19.Dc3 Tc8 =) 18.a4 Ld7 19.Tb1 Sg4 20.Dc2 g6 21.b5 axb5 22.axb5 h5!? (Objektiv besser war 22...Dg5! 23.bxc6 Lxc6 24.Sb3 f5 25.Sc5 f4 26.exf4 Dxf4 =, doch danach kommt der schwarze Königsangriff kaum voran.) 23.bxc6 bxc6 24.Tfe1 (Der Anziehende befürchtete 24.Sb3 Df6! 25.Sc5 Lc8 26.Tb2! Sxg2! 27.Kxg2 h4 28.Se2? Txe3! -+ bzw. 28.h3! Sh6 29.Sh1 Lxh3+! 30.Kxh3 Df3+ 31.Sg3 Txe3! 32.Dd1 Df4, wenngleich er mit 33.Kg2! Tf3 34.Dc1! hxg3 35.Dxf4 Txf4 36.f3 Txd4 37.Th1 +/= die Attacke parieren konnte – am Brett unmöglich zu berechnen.) 24...Df6! 25.Sdf1?! (25.Te2 Ta3! 26.h3 Sh6 27.Tee1 Tea8!) 25...Ta3! 26.Te2? (26.Ted1 c5! 27.Lb5 Lxb5 28.Txb5 c4! 29.Txd5 Da6!) 26...c5! 27.dxc5? (27.Lb5! Lxb5 28.Txb5 cxd4 29.exd4 Txe2 30.Dxe2 Dxd4 31.h3 Se5 =/+) 27...Se5! -+ 28.Lb5 Df3!! (Spasski erzwingt das Matt: 29.gxf3 Sexf3+ 30.Kh1 Lh3! 31.Lxe8 Lg2#) 0:1.
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