An der Mauer
Von Holger Römers
Zwar wurden im Straßenradsport schon anderthalb Monate lang Wettkämpfe in sonnigeren Weltgegenden ausgetragen, doch für die meisten Fahrer und Fans markiert erst der Rennstart in Belgien den wahren Saisonauftakt. Am Sonnabend standen beim 80. Omloop Nieuwsblad (beziehungsweise bei dessen 20. Frauenrennen) sowie tags darauf beim 77. Kuurne–Brüssel–Kuurne erstmalig die gewohnten flandrischen Dorfstraßen und Feldwege auf dem Programm, die im Laufe des Frühlings noch diverse Kopfsteinpflasterklassiker prägen werden.
Die Ergebnislisten dieser Rennen lassen sich jedes Jahr wie Vexierbilder deuten: Vor allem der Omloop besitzt als erste europäische Veranstaltung der World-Tour-Kategorie großes Prestige – weshalb ein etwaiger Sieg jeden Fahrer freuen sollte. Wer später die Flandernrundfahrt und Paris–Roubaix gewinnen will, sollte nicht schon jetzt in Topform sein. Durchaus folgerichtig ist Mathieu van der Poel (Alpecin – Deceuninck), der die im April anstehenden Monumente mit fünf Siegen und drei Podiumsplätzen seit 2020 dominiert, noch gar nicht auf der Straße unterwegs, obwohl der 30jährige Niederländer die winterliche Cyclocross-Saison Anfang Februar mit seinem siebten WM-Titel in der Spezialdisziplin gekrönt hat.
Sein gleichaltriger Dauerrivale Wout van Aert (Team Visma – Lease a Bike) ging dagegen sowohl am Sonnabend als auch am Sonntag bei frischem, trockenem Wetter an den Start – um beim 2022 gewonnenen Omloop schließlich auf Platz elf zu landen und tags darauf als Vorjahressieger in Kuurne nur 75. zu werden. Will man diese Ergebnisse positiv deuten, so lassen sie dem Belgier wohl Hoffnung, bis zu den Kopfsteinpflastermonumenten Hochform zu erreichen und mindestens eins davon endlich zu gewinnen. Nachdem er am Sonntag mit einigen Attacken Energien verschleudert hatte, pilotierte van Aert immerhin den Kollegen Olav Kooij mustergültig auf die Zielgerade, wo der 23jährige Niederländer im Massensprint Platz zwei vor dem 31jährigen französischen Überraschungsdritten Hugo Hofstetter (Israel – Premier Tech) belegte.
Damit hat das von Verletzungen und Krankheit geplagte Team Visma bei den ersten belgischen Rennen weit mehr erreicht als die finanzstärkste Mannschaft im Peloton: UAE Team Emirates – XRG, dessen Superstar Tadej Pogačar nach dem Gesamtsieg und zwei Tageserfolgen bei der UAE Tour noch bis zu den Strade Bianche am kommenden Sonnabend pausiert, hatte beim Omloop kollektiven Favoritenstatus, musste sich jedoch mit Platz 42 und 43 für António Morgado beziehungsweise Jhonatan Narváez im Massensprint begnügen. Tim Wellens fuhr indes am Sonntag nach zwei Dritteln der 197 Kilometer langen Strecke zur neunköpfigen Ausreißergruppe des Tages vor, bevor er mit der Entscheidung in Kuurne schließlich ebensowenig zu tun hatte wie seine Kollegen.
Sieger wurde am Sonntag Jasper Philipsen (Alpecin – Deceuninck), nachdem er beim Omloop um Zentimeter vom 20jährigen französischen Geheimfavoriten Paul Magnier (Soudal Quick-Step) sowie vom vier Jahre älteren norwegischen Überraschungssieger Søren Wærenskjold (Uno-X Mobility) distanziert worden war. Was die beeindruckende Kombination aus Sieg und Podiumsplatz für die mittelfristigen Aussichten des 27jährigen Niederländers bedeutet, in Roubaix seine zweiten Plätze von 2023 und 2024 zu verbessern, sei dahingestellt. Beim ersten Monument des Jahres, bei Mailand–Sanremo in zweieinhalb Wochen, darf er als Vorjahressieger jedenfalls zu den Favoriten gezählt werden – sofern er dann nicht im Dienste van der Poels steht. Auch der dürfte sich jedenfalls freuen, dass Alpecin – Deceuninck in Belgien als stärkstes Kollektiv auftrat und durch perfekte Positionierung am Molenberg das Fahrerfeld des Omloops bis kurz vor der legendären »Mauer« von Geraardsbergen spaltete.
Ähnliche Dominanz bewiesen beim zwei Stunden später gestarteten Frauenrennen das Team FDJ – Suez, dem Demi Vollering seit Jahresbeginn angehört, sowie ihr früheres Team SD Worx – Protime, das ohne die Vorjahreszweite Lotte Kopecky angetreten war, aber mit Lorena Wiebes die zweite Topfavoritin stellte. Besagte Dominanz drückte sich freilich in der Bereitschaft aus, Nachführarbeit beharrlich zu verweigern und einen World-Tour-Sieg zu verschenken. Jedenfalls wuchs der Vorsprung einer fünfköpfigen Ausreißerinnengruppe auf 13 Minuten an, so dass zwei übrig gebliebene Nobodys den Sieg schließlich unter sich ausmachten. Bei der Podiumszeremonie freute sich die 27jährige Polin Aurela Nerlo (Winspace Orange Seal) nicht weniger über Platz zwei als die vier Jahre ältere Belgierin Lotte Claes (Arkéa – B&B Hotels Women) über ihren ersten Profisieg. Vollering wusste indes als Dritte, dass sie die Stärkste gewesen war, da sie an der »Mauer« alle Konkurrentinnen bis auf Puck Pieterse (Fenix-Deceuninck) abgehängt und diese dann im Sprint geschlagen hatte. Ob das Pokern der 27jährigen Niederländerin sich mittelfristig auszahlen und ihr ehemaliges Team sich künftig zur (anteiligen) Übernahme der Tempoarbeit nötigen lassen wird, werden kommende Rennen zeigen.
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