Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 08.03.2025, Seite 12 / Thema
8. März

Heftig umkämpft

Die Geschlechterpolitik von Weimar bis in die Nachkriegszeit. Mit einem Blick auf die Arbeiterbewegung
Von Sabine Kebir
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Für die Kommunistinnen und Kommunisten war klar: Keine Befreiung der Frau ohne eine Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung. Dass in der Sowjetunion bereits erreichte Fortschritte wieder zurückgenommen wurden, wurde aber lieber ausgeblendet (Berlin, 20.5.1928)

Schon vor der Machtübertragung an die NSDAP griffen die Nazifaschisten nicht nur die politische Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung an, sondern versuchten auch, die allgemeine Emanzipationsbewegung der Frauen und der Gruppen zu stoppen, die heute unter der Bezeichnung LGBTQ gefasst werden. Eine durch den Ersten Weltkrieg verursachte Männerknappheit hatte besonders in den Städten zu einer Erosion der traditionellen bürgerlichen Moral geführt. Viele Frauen, die in der Arbeitswelt unentbehrlich geworden waren, konnten keine Ehemänner finden, mochten aber auch nicht mehr auf eine eigene Sexualität verzichteten. Mit der Naziherrschaft mehrten sich schlagartig Stimmen, die diesen angeblich stark von Juden beeinflussten »Kulturverfall« geißelten und für eine Rückkehr zum konservativen Frauen- und Familienbild plädierten.

Die schon früh mit den Faschisten sympathisierende Dichterin Josefa Berens-Totenohl bezeichnete die Weimarer Republik als eine »Zeit der Fäulnis und der Verderbtheit unseres Kulturlebens durch fremdrassige jüdische Kunst und Literatur«. Und weiter: »Es war eine Zeit der Verfälschung aller Werte, eine Zeit, in der das Heldentum des Mannes als Dummheit bezeichnet wurde, und in der die Mutter verlacht wurde, die noch die Beschwernis vieler Kinder auf sich nahm. (…) Wer sprach damals von der Mutter? Wer von der Bäuerin? Dem Bauern? Wer sprach von der ganzen elementaren Volksschicht? O ja, man sprach schon davon, aber man machte den Arbeiter zum Proleten, den Bauern zum Tölpel.« Es habe aber gerade unter den Frauen auch »Dichterinnen« gegeben, »die nicht teil hatten an der Verseuchung«, wie Agnes Miegel¹, Lulu von Strauß und Torney², Ina Seidel³, deren Werke »wesenhaft im lebendigen Acker des Volkes« stünden, »als hätte es nie eine Zeit der Seuche gegeben«.⁴

Befreite Sexualität

Die »Seuche« war jedoch auch von Frauenstimmen geprägt worden. Die Texte von Erika Mann, Irmgard Keun, Vicky Baum, Mascha Kaléko, Marie­luise Fleißer, Elfriede Brüning und anderen zeigen, dass in der Weimarer Republik gerade auch junge Frauen über alle Erscheinungsformen der Sexualität diskutierten und schrieben. Nicht nur bei Heterosexuellen hatten sich neue Lebensweisen herausgebildet, die, anders als in vorherigen Epochen, nicht mehr nur ein Privileg der Oberschichten waren. Das Recht auf befreite Sexualität war zur politischen Forderung der Arbeiterinnenbewegung geworden, die ihren Ausdruck unter anderem im Kampf um die Legalisierung der Abtreibung fand. Das gegen den Paragraphen 218 gerichtete Stück »Cyankali« hatte der Arzt und Dramatiker Friedrich Wolf verfasst, der auch Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) war. Es erzielte 1929 einen sensationellen Theatererfolg, der von der kommunistischen, der sozialdemokratischen und auch Teilen der bürgerlichen Presse emphatisch gefeiert wurde.

Dass es nicht nur um Abtreibung, sondern um einen breiteren Begriff sexueller Emanzipation ging, zeigt auch die zunehmende Einrichtung von Sexualberatungsstellen für Arbeiterinnen und Arbeiter, um die sich neben anderen Wilhelm Reich verdient machte. Dass die Akzeptanz von Homosexuellen in der Gesellschaft gewachsen war, ist belegbar durch die Existenz zahlreicher Schwulen- und Lesbenklubs, die sich zunächst in den vornehmeren Gegenden etablierten.⁵ Es gab zahlreiche Zeitschriften für Homosexuelle. Sie wurden jedoch schon 1932 nur noch unter dem Ladentisch gehandelt, weil Kioske, die sie ausstellten, von SA-Banden angegriffen wurden.⁶ Magnus Hirschfeld, Sexualforscher und Begründer der deutschen Homosexuellenbewegung, fühlte sich schon 1930 so stark bedroht, dass er von einer Vortragsreise nicht nach Berlin zurückkehrte. Sein Institut für Sexualforschung wurde am 6. Mai 1933 von Studenten gestürmt. Vier Tage später wurden die Bücher und Akten des Instituts samt einer Büste Hirschfelds bei der Bücherverbrennung vernichtet.

Sozialistischer Backlash

Einen geschlechterpolitischen Aufbruch hatte es auch in Russland gegeben. In den Jahren nach der Oktoberrevolution von 1917 herrschten in der Führungsriege Sowjetrusslands und später der Sowjetunion zweifellos utopische Vorstellungen von sexueller Emanzipation. Das Recht auf freie Liebe und auf eine Abtreibung in staatlichen Kliniken führte zu Auflösungstendenzen von Ehe und Familie. Schnell wurde offenbar, dass sich Väter oft frei von Verantwortung fühlten, weil der Staat bereitwillig materielle Verantwortung für die Kinder übernahm und allerorten Stellen für die Kinderbetreuung einrichtete. Im Interesse der Frauen und Kinder war es zweifellos notwendig, die dem Entwicklungsstand des Landes noch nicht entsprechende Geschlechterpolitik zu revidieren. Ihre Mitte der 1920er Jahre einsetzende schrittweise Rücknahme mündete 1936 allerdingsin ein Gesetzeswerk, das als Stalins sexueller »Thermidor« bezeichnet worden ist, weil es nicht nur die traditionelle Familie wieder zur Kernzelle der Gesellschaft machte, sondern auch Scheidungen extrem erschwerte, Abtreibung nur noch auf Grundlage der medizinischen Indikation erlaubte und Homosexualität erneut unter Strafe stellte.⁷

Im Gegensatz zum deutschen Faschismus blieb die Berufstätigkeit der Frau in der Sowjetunion jedoch selbstverständlich. Frauen mit hohen und mittleren Qualifikationen konnten sich einen persönlichen Emanzipationsspielraum schaffen. Wenn sich insgesamt aber Doppelmoral und Prüderie in der sowjetischen Gesellschaft breitmachten, lag dies auch daran, dass die Utopie der befreiten Sexualität nicht nur aus den Gesetzen, sondern auch aus dem kulturellen Horizont verbannt wurde. Werke der 1920er Jahre wie Fjodor Gladkows »Zement« oder das von Sergej Tretjakow unter Mitarbeit Bertolt Brechts geschriebene Drama »Ich will ein Kind haben«, in denen die Konsequenzen der vaterlosen Sowjetgesellschaft in komplexer Widersprüchlichkeit diskutiert wurden, gelangten nicht mehr in die Öffentlichkeit.

Die Rücknahme der mit dem Namen Alexandra Kollontais verbundenen Geschlechterpolitik der frühen Sowjetunion verunsicherte die deutsche Arbeiterinnenbewegung. Anna Seghers’ Abwendung von spezifischen Frauenthemen lässt sich teilweise auch damit erklären. Nie wieder schrieb sie eine feministische Erzählung wie »Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft« (1930), in der sich eine Frau im Protestzug gegen das Todesurteil für Sacco und Vanzetti bewusst wird, dass sie wieder einmal schwanger ist, und über den daraus entspringenden Sorgen das politische Ziel der Demonstration auszublenden beginnt.

Elfriede Brüning, die seit 1926 Feuilletons veröffentlichte, in denen es nicht nur um die Bedeutung der Berufstätigkeit von Frauen, sondern auch um Geschlechterkämpfe ging, wurde 1931 nicht in den BPRS aufgenommen. Sie musste sich ein Jahr lang mit Betriebsreportagen bewähren, in denen sie allerdings wieder auf Frauenrechte fokussierte. 1932 sei, laut Brüning, im BPRS immerhin noch über freie Liebe debattiert worden: »Wir waren ja auch für die freie Liebe, von der Ehe hielten wir nicht viel, aber dann ging die Diskussion, was soll sein, wenn Kinder kommen, dann muss man vielleicht doch aufs Standesamt gehen, also das wurde heftig diskutiert in unseren Kreisen.«⁸

Wilhelm Reich jedoch kritisierte die Rückschritte in der sowjetischen Sexualpolitik so heftig, dass er aus der KPD ausgeschlossen wurde. Die Partei hütete sich gleichwohl, einen Paradigmenwechsel öffentlich zu propagieren. Als Friedrich Wolf 1932 wegen angeblich vorgenommener illegaler Abtreibungen verhaftet wurde, musste er nach von der KPD organisierten Massenprotesten freigelassen werden. Auf einer darauf folgenden Großveranstaltung im Sportpalast erklärte er vor 15.000 Menschen seine Haltung zum Abtreibungsparagraphen und rief zur Wahl der KPD auf. 1932 erschien in der Büchergilde Gutenberg auch Walther Victors⁹ »General und die Frauen«. Dieses in expressionistischem Pathos abgefasste Buch über das bürgerliche Konventionen sprengende Liebesleben von Friedrich Engels und Schlussfolgerungen aus dessen Werk »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« wurden hier als »die neue Moral« von »übermorgen« gefeiert. Dass der Wandel der sowjetischen Geschlechterpolitik die große emanzipatorische Strömung in der damaligen deutschen Arbeiterbewegung nicht ganz abbremste, zeigte 1932 auch der Erfolg des Films »Kuhle Wampe«. Hier wurde die Erringung der politischen und der sexuellen Freiheit – ganz im Sinne Wilhelm Reichs – als miteinander verwobener Prozess gezeigt. Solcherart Kunstwerke trafen schon in der Weimarer Republik auf scharfe Zensurmaßnahmen.

Ein ebenfalls 1932 erschienenes, fortschrittliches Aufklärungsbuch von Margarete Kaiser, »Die Liebe als Kunst«, warnte bereits vor der Gefahr eines konservativen Rückschlags gegen erreichte Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter. Kaiser beharrte darauf, dass »Berufslosigkeit und mangelnde Pflege eine Verelendung« nicht nur bei jungen Männern, sondern auch bei jungen Mädchen hervorrufe. Sie warnte: »Man erhebt neuerdings die Stimme zugunsten einer Mädchenerziehung, die darauf bedacht sein soll, die körperliche und seelische Geschlechtseigenart des Mädchens wieder schärfer herauszuarbeiten und die weibliche Jugend wieder auf jenes bestimmte frauliche Wesen hin zu erziehen, wie es die bewährte Tradition so vieler Jahrhunderte hervorbrachte. (…) Die Generation, die das Glück hatte, eine neue höhere Mädchenschulbildung genießen zu dürfen, in der männliche und weibliche Lehrkräfte gleichberechtigt unterrichteten (…), diese Frauengeneration weiß zu schätzen, was sie da gehabt hat. (…) Wir entdecken, dass Dinge, die wir für naturgegeben und geschlechtsgebunden hielten, zum ganz erheblichen Teil auf unsere allgemeine Lebenshaltung und Lebensweise zurückzuführen sind.« Kaiser lehnte auch ab, der Frau »die Herrschaft des Gefühls« zuzuschreiben, Männer dagegen als vom Verstand dominiert anzusehen. Sie war überzeugt, dass die Überwindung der traditionellen Entgegensetzung von Gefühl und Verstand für beide Geschlechter notwendig und möglich ist, wie auch die Überwindung des Gegensatzes zwischen »Körper und Seele«, der in der Vergangenheit zu einer »Degradierung des Sexualerlebnisses« geführt habe.¹⁰

Grenzen der Reaktion

Der an die Macht gelangte Faschismus erhob die von Kaiser befürchteten Rückschritte zur Staatsräson. Die Geschlechterrollen wurden wieder polarisiert: Mutterschaft wurde zum wahren Beruf der Frauen erklärt. Mit ihrer Verdrängung aus dem Berufsleben wurde nicht nur versucht, die Teile der Bevölkerung umzuerziehen, die neue Lebensformen pflegten. Der sexual- und frauenpolitischen Emanzipationsbewegung wurden auch durch Verschärfung der Gesetzgebung Schranken gesetzt.

Doch wie bei jeder Restauration wurden zwar viele tragische Einzelschicksale erzeugt, aber die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen pluralen Lebensformen vermochten die Nazis nicht endgültig zurückzuschrauben. Sie konnten jedoch Tabus revitalisieren und harte Strafen verhängen, zum Beispiel für die von ihnen so bestimmte »Rassenschande«. Auch Prostitution, Abtreibung und Homosexualität wurden stärker kriminalisiert als in der Weimarer Republik. Die als legitim erklärte »arische« Heterosexualität sollte in eine patriarchale Familienform gelenkt werden, in der die Männer einer Erwerbsarbeit nachgehen und die Frauen Mann und Kinder im Haushalt umsorgen.

Als die Nazis an die Macht kamen, gingen sie sofort daran, die beruflichen Möglichkeiten von Frauen einzuschränken: Mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« wurden weibliche Beamte im April 1933 vom Dienst suspendiert, zwei Monate später entlassen. Auch wurden Frauen aus Berufsbereichen mit hohem Ansehen verdrängt. Man duldete keine Anwältinnen und Ärztinnen mehr. Ab 1935 war es Frauen auch verboten, eine zahnärztliche Praxis zu betreiben. Mit dem »Gesetz gegen die Überfüllung der Schulen und Hochschulen« wurde am 28. Dezember 1933 der Anteil der Studentinnen an deutschen Universitäten auf zehn Prozent begrenzt. Durch Verdrängung von Frauen aus dem Berufsleben sollte das Problem der Massenarbeitslosigkeit ebenso gelöst werden wie das der sinkenden Geburtenzahlen. Frauen, die den ihr zugeteilten Bereich der Familie mieden, wurden zu »Volksschädlingen« erklärt.

Aber diese Maßnahmen waren nur zum Teil erfolgreich. Bereits ausgebildete Frauen versuchten, berufstätig zu bleiben. Es waren eher die Unterschichten, für die die Ehe- und Kinderdarlehen verlockend waren.¹¹ Aus statistischen Angaben geht überraschenderweise hervor, dass die Erwerbsquote von Frauen, die 1925 bei 35,6 Prozent gelegen hatte, 1939 mit 36,2 Prozent sogar angestiegen war. Der erzwungene Mädchenarbeitsdienst mündete nicht immer in eine Versorgungsehe, sondern stimulierte wohl auch das Streben nach Selbständigkeit. Auch wurden für den angesteuerten Krieg die Frauen bald wieder als Vollarbeitskräfte benötigt. Durchgesetzt wurden vor allem Schranken für Bildung und Ausbildung von Frauen, denen faktisch nur minderqualifizierte Tätigkeiten offenstanden.

Verzerrtes Bild

Auch in der Weimarer Republik waren Frauen nur selten als Forscherinnen und Politikerinnen öffentlich in Erscheinung getreten. Im Faschismus blieb dies vor allem Künstlerinnen vorbehalten. Eine Frau wie die Regisseurin Leni Riefenstahl, die auch mit technischen Fähigkeiten hervorstach, war eine Ausnahme. Aber durch sie und andere Stars der Filmbranche blieb ein verzerrtes Bild der emanzipierten Frau präsent. Dass der offene Kampf um befreite Sexualität unmöglich war, hatte Konsequenzen für die Kunst. Goebbelsʼ Kulturindustrie kehrte zwar nicht zur alten Prüderie des Kaiserreichs zurück. Aber die Darstellung heterosexueller Verliebtheit, oft mit dem Beigeschmack falscher Koketterie oder schwüler Schlüpfrigkeit – als deren Sinnbild Zara Leander zu nennen ist –, war und bleibt Kitsch.

Perverse Apotheosen der faschistischen Geschlechterpolitik waren die rassistische »Lebensborn«-Kampagne und schließlich die allgemeine Ermunterung zur Zeugung außerehelicher Kinder im Krieg. Im Oktober 1939 verlautbarte Himmler: »Über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem, sittlichen Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden, von denen das Schicksal allein weiß, ob sie heimkehren oder für Deutschland fallen.«¹² Hier waren nicht mehr nur Frauen und Männer gemeint, die sich der »Lebensborn«-Idee zur Verfügung stellten, sondern das ganze Volk. Deutsche Soldaten, egal ob verheiratet oder nicht, durften im Heimaturlaub ohne Gewissensbisse mit deutschen Frauen sexuelle Erlebnisse haben.

Politiker und Intellektuelle, die aus dem sowjetischen Exil kamen, setzten in der frühen DDR die konservative sowjetische Geschlechterpolitik durch. Elfriede Brünig, die die Nazizeit in innerer Emigration überstehen musste, konnte ihre aus der Weimarer Republik beibehaltenen Überzeugungen der Verknüpfung von weiblicher Berufstätigkeit und befreiter Sexualität nur schwer durchsetzen, sie wurden sogar als »kleinbürgerlich« verunglimpft. 1950 konnte ihr Roman »Ein Kind für mich allein« nur im damals noch privaten Reclam-Verlag erscheinen. Obwohl das Buch kaum rezensiert wurde, war es über zehn Jahre ein unter dem Ladentisch gehandelter Bestseller.

Erst gegen Ende der 1950er Jahre wurde der Widerspruch zwischen Berufstätigkeit der Frau und staatlicher Bevormundung ihrer Sexualität in Literatur und Film überwunden. Die DDR gehörte zu den ersten Staaten, die Mitte der 1960er Jahre die Pille zur Verfügung stellten – und zwar kostenlos. 1968 wurde der die Homosexualität betreffende Paragraph 175 abgeschafft. 1972 fiel auch der Abtreibungsparagraph. Zugleich bekamen nichtehelich geborene Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz.

In der offiziellen Bundesrepublik blieb das konservative Geschlechtermodell erhalten. Berufliche und sexuelle Emanzipation waren lange Zeit Privileg von Frauen aus aufgeklärten bürgerlichen Schichten. Der Paragraph 218 besteht noch heute. Und wer versucht ist, AfD zu wählen, sollte wissen, dass ihr Programm von 2018 auf Seite 84 die angebliche »Diskriminierung der Vollzeitmütter stoppen« und zum Leitbild der traditionellen Familie mit möglichst viel Nachwuchs zurückkehren will. In dezenter Umfunktionierung eines antirassistisch gebrauchten Begriffs spricht sie sich auf Seite 87 für eine »Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene« aus und »gegen alle Versuche, Abtreibungen zu bagatellisieren, staatlicherseits zu fördern oder sie sogar zu einem Menschenrecht zu erklären«.

Anmerkungen:

1 Agnes Miegel (1879–1964), Ausbildung als Kinderschwester und an einer Landwirtschaftsschule. 1907 erschienene »Balladen und Lieder« begründete ihren Ruhm. 1913 erhielt sie den Kleist-Preis. Zunehmend wandte sie sich der Blut-und-Boden-Mystik zu, wurde Anhängerin der Nazis und schrieb Huldigungsgedichte für Hitler. Obwohl sie sich nie vom Engagement für die Nazis distanzierte, wurden in der frühen Bundesrepublik Straßen und Schulen nach ihr benannt.

2 Lulu von Strauß und Torney (1873–1956) veröffentlichte Gedichte, Novellen und Romane, die oft als Heimatkunst galten. Nach neuen Forschungen ist sie wahrscheinlich Autorin eines »Volkstestaments«, das 1941 vom Eisenacher »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« in Auftrag gegeben wurde. Sie starb in Jena.

3 Ina Seidel (1885–1974), Dichterin und Erzählerin. In ihrem 1930 veröffentlichten, fast 1.000seitigem Roman »Das Wunschkind« wird die Bedeutung biologischer Abstammung und völliger mütterlicher Hingabe hervorgehoben. 1932 wurde sie Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Wie Miegel und von Strauß und Torney gehörte sie zu den 88 Unterzeichnern des »Gelöbnisses treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler«. Sie publizierte auch noch in der BRD.

4 Josefa Berens-Totenohl: Die Frau als Schöpferin und Erhalterin des Volkstums. Jena 1938, S. 17. Totenohl (1891–1969) war Volksschullehrerin, Malerin, Autorin und ab 1932 Mitglied der NSDAP. Ihre Bücher hatte hohe Auflagen, einige wurden den Frauenorganisationen der Nazis zur Pflichtlektüre empfohlen.

5 1922 soll es schon ca. 100 meist nur notdürftig oder gar nicht getarnte Klubs für homosexuelle Männer und Frauen in Berlin gegeben haben, die oft von Polizeirazzien heimgesucht wurden. Vgl. Birgit Haustedt: Die wilden Jahre in Berlin. Dortmund 1999, S. 64 f.

6 Stefan Maiwald, Gerd Mischler: Sexualität unter dem Hakenkreuz. Manipulation und Verinnerlichung der Intimsphäre im NS-Staat. München/Wien 1999, S. 186

7 Siehe: www.mxks.de/files/SU/1989kbUdssrIFr.html (1.3.2025)

8 Tonbandgespräch mit Elfriede Brüning vom 6.8.2008, geführt von Wolfgang Herzberg und Sabine Kebir

9 Walther Victor (1895–1971), SPD-Mitglied, Autor und Redakteur, wegen illegaler Arbeit 1935 verhaftet, Emigration. 1947 in die sowjetisch besetzte Zone zurückgekehrt, nahm er Gegenpositionen zu Johannes R. Becher ein, weshalb seine Karriere in der DDR gebremst wurde.

10 Margarete Kaiser: Die Liebe als Kunst. Berlin 1932, S. 143–145 u. 60

11 Maiwald/Mischler (Anm. 6), S. 107 ff.

12 Zit. n.: ebd., S. 86

Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. Januar 2025 über die »Pionierin aus der Fremde«, Edith Anderson, eine US-amerikanische Kommunistin in Ostberlin

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