»Sieh was ist. Frag wie es kam«
Von Holger Teschke
»Ich weigere mich Masken zu tragen / Mich suche ich / Ich will nicht dass ihr mich nachäfft. / Ich suche unser Gesicht / Nackt und veränderlich. / Nicht Tränen nicht alle Wetter / Waschen die Larven uns ab / Kein Feuer kein Gott wir selber / Legen uns ins Grab.«
Dieses Gedicht Inge Müllers habe ich zum ersten Mal im »Poesiealbum 105« gelesen, das Bernd Jentzsch 1976 herausgegeben hat. Es traf mein Lebensgefühl in der DDR der 1970er Jahre unmittelbar und auf unvergessliche Weise. Ich trug das schmale Album mit dem Bild eines blauen Harlekins auf dem Umschlag lange mit mir herum und versuchte, mehr über diese Dichterin zu erfahren. Aber die Auskünfte blieben spärlich. Dann erschien 1985 die Auswahl »Wenn ich schon sterben muss« von Richard Pietraß im Aufbau-Verlag, die deutlich machte, dass Inge Müller eine der wichtigsten deutschsprachigen Dichterinnen ihrer Generation war. In einem kurzen Vorwort von 1968, gedacht für eine früher geplante Ausgabe, hatte Heiner Müller geschrieben: »Ich habe die Gedichte, die in diesem Band abgedruckt sind, mehr als einmal gelesen, manche waren mir fremd, einige ärgerlich, verstanden habe ich viele erst nach dem freiwilligen Tod der Frau, die sie geschrieben hat in dreizehn Jahren neben mir (…). Dokumente eines tapferen Lebens, gegen das ihr Tod nichts beweist.« Ihre Biographin Sonja Hilzinger, die 2002 auch die erste große Ausgabe der Gesammelten Texte Inge Müllers herausgab, nannte sie in ihrer 2005 erschienenen Biographie »Das Leben fängt heute an« eine »Dichterin, die um ihr Leben schrieb«. Wer war die Frau, deren Gedichte bis heute einzigartig in der Landschaft der deutschsprachigen Nachkriegslyrik stehen?
Verschüttet
Inge Müller wird am 13. März 1925 als Tochter von Elsa und Hubert Meyer, die beide im Ullstein-Verlag arbeiten, in Berlin geboren. Sie geht auf eine Mädchenschule in Lichtenberg und von 1940 bis 1941 auf die Städtische Handelsschule, wo sie ihr Reifezeugnis ablegt. Von 1942 bis 1943 muss sie zum Reichsarbeitsdienst in die Steiermark, wo sie zuerst in der Landwirtschaft und später als Straßenbahnschaffnerin in Graz arbeitet.
Von 1943 bis 1944 ist sie als Sekretärin und Stenotypistin in den Berliner Solvay-Werken angestellt und wird am 8. Januar 1945 mit 19 Jahren zur Wehrmacht einberufen. In dem Gedicht »Brief einer Wehrmachtshelferin« beschreibt sie den Schock dieser Erfahrung: »Mein Kleid bringt die Post zurück / Ich komme vielleicht nicht wieder / Pflicht und Soldatenglück / Ich hasse Soldatenlieder. // Die Uniform auf mir und ein Gewehr / Eine Gasmaske und zwei Decken / Ich seh mich im Spiegel nicht mehr / Vorm Tod kann man sich nicht verstecken.«
Im April 1945 wird Inge Müller als Luftwaffenhelferin zu einer Flakbatterie nach Heinersdorf kommandiert. Als die Rote Armee die nordöstlichen Bezirke Berlins zu erobern beginnt, zieht sich ihre Batterie nach Mitte zurück. Am 23. April werden Weißensee und Lichtenberg von sowjetischen Einheiten erobert. Bei einem Luftangriff der Wehrmacht auf Lichtenberg kommen Inge Müllers Eltern ums Leben. Sie selbst wird in der Schwedter Straße im Prenzlauer Berg von einem einstürzenden Haus verschüttet. Drei Tage liegt sie unter den Trümmern, zusammen mit einem Schäferhund. Diese Erfahrung wird sie in ihren Gedichten und Prosatexten später immer wieder wachrufen: »Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich / Wir haben das Haus getragen / Der vergessene Hund und ich. / Fragt mich nicht wie / Ich erinnere mich nicht. / Fragt den Hund wie.« ( Unterm Schutt III)
Am 8. Mai 1945 kapituliert das Oberkommando der Wehrmacht. Inge Müller läuft durch das zerstörte Berlin nach Lichtenberg und findet in den Trümmern ihres Wohnhauses die Leichen ihrer Eltern. Als sie mit einem Handwagen zurückkommt, um die beiden Toten auf einen Friedhof zu bringen, fehlt an der rechten Hand ihrer Mutter der Ringfinger. In ihrem Prosafragment »Jona« erinnert sie sich an das letzte Gespräch mit ihrem Vater:
»Vater: Deine Einberufung ist endgültig, Jona. Hier ist der Gestellungsbefehl. Die Reklamation ist abgelehnt. Jona : Ich geh nicht zur Wehrmacht. Was soll ich da? Ein Gewehr rühr ich nicht an, nie. Und wenn ich einen Soldaten lieben will, es könnte ja sein, dann liebe ich ihn, aber nicht ein ganzes Regiment. Zum Soldatenliebchen geb ich mich nicht her. Vater: Der Führer braucht Soldaten. Jona: Ich hab mich nicht freiwillig gemeldet. Ich gehe nicht. Vater: Das ist kindisch. Glaubst du, uns ist es recht ? Du bist unsre einzige, für dich haben wir gearbeitet, gespart und verzichtet, dass du es einmal besser hast. Das Schicksal will es so, wir können nichts machen. Jona: Aber ich. Wenn ihr mich abliefern wollt wie ein Fünfmarkstück zur Silbersammlung mit einer Träne vorm Führerbild, versuch es. Ich weiß, ihr meint es gut. Und ich sehe, ihr habt Angst, alle haben Angst. Ich auch. Und weil ich Angst habe, hab ich den Mut und geh nicht. Ich lauf weg und verstecke mich.« ( Jona-Fragment )
Inge Müller ist nicht weggelaufen und hat das Grauen des Krieges bis zuletzt als Flakhelferin erlebt. Nach Kriegsende arbeitet sie zunächst als Trümmerfrau bei Räumungsarbeiten in Lichtenberg, später als Transportarbeiterin bei Siemens-Plania. Im Sommer begegnet sie dem drei Jahre älteren Kurt Lohse wieder, den sie bei der Flakbatterie kennengelernt hat. Beide heiraten im November 1945 und finden eine Wohnung, ein Jahr später wird ihr Sohn Bernd geboren. Um diese Zeit beginnt Inge Müller, ihre Kriegserlebnisse aufzuschreiben, zuerst als Prosa, später auch in Gedichten: »Ich sah die Welt in Trümmern / Noch hatte ich nichts von der Welt gesehn / Ich sah den Tod und die Gewalt / Noch eh ich jung war, war ich alt / und wusste, ohne zu verstehn.«
Aufbruch
Die Ehe zwischen Inge Meyer und Kurt Lohse hält nur zwei Jahre und wird im Oktober 1947 wieder geschieden. Zu unterschiedlich sind Interessen und Temperament. Inzwischen hat sie den 21 Jahre älteren Herbert Schwenkner kennengelernt, Ökonomischer Direktor des » Zirkus Busch«, der schon im Herbst 1945 seinen Spielbetrieb wieder aufgenommen hatte und später zum Staatszirkus der DDR wird. Die beiden heiraten im Januar 1948 und Inge Schwenkner reist mit ihrem neuen Mann auf Gastspielen mit. Sie fühlt sich beim »fahrenden Volk« wohl, und einige Gedichte über diese Zeit sind voller Leichtigkeit: »Neu ist alles; Hell und bunter / Als je die Sommerwiese war / Und der Pirol im Frühling – / Dass ich mich jetzt erinnere an sie / Und keine schwarze Wolke / Macht die Farben grau und trägt mich / Unerbittlich mit sich / Nirgendwohin.« ( Neu ist alles )
Ein Jahr später wird Schwenkner, Kommunist seit 1920, Direktor des Friedrichstadt-Palastes und zieht Ende 1951 mit Inge und ihrem Sohn Bernd in die Waldsiedlung Lehnitz bei Oranienburg. Häftlinge aus dem nahen Konzentrationslager Sachsenhausen haben sie für Offiziere der Wehrmacht errichten müssen. Die neue Regierung stellt die Häuser nun Funktionären und prominenten Künstlern zur Verfügung. Ihre Nachbarn sind Else und Friedrich Wolf. Der aus dem Moskauer Exil zurückgekehrte Arzt und Dramatiker, Vater von Konrad und Markus Wolf, ermutigt die junge Frau zum Schreiben. Sie wird Volkskorrespondentin für die Märkische Volksstimme und berichtet über Lesungen und Ausstellungseröffnungen.
Ein Beitrag über die Diskussion auf einer Gemäldeausstellung im Kraftwerk Klingenberg im Juli 1949 zeigt, wie offen und genau Inge Schwenkner die Meinungen der Werktätigen zu den ausgestellten Kunstwerken wiedergab: »Auf die Frage : ›Warum gefällt Ihnen dieses Bild nicht?‹ (Titel: Arbeiter in der Gießerei) erwiderte ein Arbeiter dem Maler des Bildes: ›Ich kann mir nichts darunter vorstellen. Ich sehe zwei Männer, die gießen. Was ist daran schön? Die Gestalten sind unwirklich, und ich verstehe den Sinn des Bildes nicht.‹ (…) Auf die Bemühungen des Malers, ihm klarzumachen, was er sich bei der Gestaltung des Bildes gedacht habe und was es ausdrücken sollte, erwiderte er nur lakonisch: ›Nee, wissen Sie, es interessiert mich nicht, was Sie sich dabei gedacht haben, sondern was ich mir dabei denke, wenn ich es ansehe, und ich kann mir eben nichts dabei denken. Ich möchte ein Bild sehen, das mich freut, und kein Bilderrätsel.‹« Es wird deutlich, auf wessen Seite die Sympathien der Berichterstatterin liegen. Diesen unbestechlichen Realismus sollte Inge Müller auch in ihrem späteren literarischen Schreiben behaupten.
Bald beginnt sie neben Kinderrevuen für den Friedrichstadt-Palast auch Kurzprosa und Sketche zu schreiben. 1953 wird sie Mitglied in einer »Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren« und lernt dort Heiner Müller kennen. Die beiden verlieben sich, und Müller, der in Berlin keine eigene Wohnung hat, zieht mit in das Haus in Lehnitz. Herbert Schwenkner willigt in dieses Arrangement zunächst wohl ein, um seine Frau nicht zu verlieren. Trotz der bald auftretenden Spannungen entstehen in dieser Zeit Liebesgedichte, die Inge Müller gelöst und voller Hoffnungen zeigen. Inge und Heiner wollen miteinander arbeiten und leben, und der Horizont der Möglichkeiten scheint weit zu sein: »Wenn morgen früh im Dämmerlicht / Der Star vom Dachrand schreit / Bleibt dein Gedicht und mein Gedicht / Wir und die Nacht sind weit.«
Mann gleich Mensch?
Im Juni 1954 wird die Ehe der Schwenkners geschieden, ein Jahr später heiraten Inge und Heiner Müller. Sie arbeiten gemeinsam an der Szenenfolge »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« nach John Reeds Reportage über die Oktoberrevolution in Russland für die Volksbühne, an dem dokumentarischen Hörspiel » Klettwitzer Bericht« aus dem Lausitzer Braunkohletagebau sowie an den Stücken »Der Lohndrücker« und »Die Korrektur«, die 1958 am Maxim-Gorki-Theater Premiere feiern. Bei all diesen Texten wird auch Inge Müller als Mitautorin genannt. Beide erhalten ein Jahr später dafür den Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste.
Ab 1957 beginnt Inge Müller ein Tagebuch zu führen, das zeigt, wie weit ihre Interessen und ihre Lektüre in diesen Jahren reichen: von Hebbels Tagebüchern über Goethes »Faust« und Büchners »Woyzeck« bis zu Texten von Gertrude Stein, Brecht und Beckett, Adorno und Simone de Beauvoir. Im November 1957 notiert sie im Tagebuch: »Unsere Liebe nährt sich so stark in unserer Seele, dass unsere Körper zueinander finden müssten und der Seele Nahrung geben. Dreigeteilt: Mein Mann, mein Kind, mein Schreiben – keins ist vor dem anderen, keins? Wenn es entschieden ist, werde ich gesund sein oder sterben.«
Im November 1959 ziehen Inge und Heiner Müller in eine gemeinsame Wohnung am Kissingenplatz in Pankow, wo sie an ihrem Hörspiel »Die Weiberbrigade« schreibt, das im November 1960 vom Rundfunk der DDR produziert und gesendet wird. Das Stück basiert auf Material, das sie 1957 auf der Großbaustelle »Schwarze Pumpe« in der Lausitz gesammelt hat. Es erzählt die Geschichte einer Frauenbrigade, die sich auf der Baustelle gegen männliche Vorurteile mit Einfallsreichtum und Humor zur Wehr setzt. Heiner Müller wird 1969, nach ihrem Tod, auf Grundlage dieses Hörspiels seine »Weiberkomödie« schreiben, die 1970 in Magdeburg uraufgeführt und noch im gleichen Jahr an der Berliner Volksbühne von Fritz Marquardt inszeniert wird. Das Schlusswort gehört der Arbeiterin Emma Kaschiebe, die das Fazit der Komödie mit den Worten zieht: »Ihr Frauen, hoff’ ich, habt bei uns entdeckt / In einem Mann ist auch ein Mensch versteckt.«
Die Katastrophe
Heiner Müller arbeitet seit 1956 an seinem Stück »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« nach einem Motiv aus der gleichnamigen Erzählung von Anna Seghers. Im Winter 1959 beginnt der junge Regisseur und Brecht-Schüler B. K. Tragelehn mit den Proben an der FDJ-Studiobühne der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst. Viele Szenen dieser Komödie, die die Entwicklung der Landwirtschaft in der DDR von der Bodenreform bis zur Kollektivierung ebenso kritisch wie humorvoll beleuchtet, werden während der Proben neu und weitergeschrieben, so dass den Kulturfunktionären vor der Premiere kein endgültiges Manuskript vorliegt. Das Stück wird nach der Uraufführung im September 1961 von Vertretern von SED und FDJ als »antikommunistisch, dekadent und konterrevolutionär« gebrandmarkt. Heiner Müller wird aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkommt. Tragelehns Vertrag mit dem Theater der Bergarbeiter in Senftenberg wird umgehend gekündigt, er selbst zur »Bewährung in der Produktion« in den Braunkohletagebau Klettwitz geschickt.
Das Manuskript des Stücks soll nach der Premiere Vertretern des Kulturministeriums übergeben werden. Inge Müller schreibt es noch in der Nacht ab und rettet es so vor dem Verschwinden. Aber auch sie gehört nun zu den politisch Verfemten. Für sie sind diese Repressionen nach den anfänglichen Erfolgen zu viel. Im Oktober 1961 versucht sie, sich das Leben zu nehmen, wird aber noch rechtzeitig gefunden und gerettet. Obwohl sie bei der Inszenierung der »Umsiedlerin« offiziell nicht als Mitarbeiterin genannt wurde, darf ihr Name als Bearbeiterin von Ewan MacColls »Rummelplatz« am Maxim-Gorki-Theater nicht im Programm erscheinen. Durch die Aufführungs- und Veröffentlichungsverbote gerät die Familie in finanzielle Not, die nur durch Arbeiten unter Pseudonym und Zuwendungen von Freunden wie Ruth Berghaus, Paul Dessau und Peter Hacks gemildert wird. Trotzdem gibt sie ihre Hoffnung auf einen veränderbaren Sozialismus nicht auf: »Aufwachen Aufstehen / Der erste Schritt ins Ungewisse / Jeden Morgen / Ums Geld? Um eine andre / Veränderbare / Um alle Welt.«
Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt im Winter 1961/62 arbeitet Inge Müller an Stückfassungen von Walentin Katajews »Wer kennt schon Konsk?« und Wiktor Rosows »Unterwegs« für das Deutsche Theater, die beide erfolgreich aufgeführt werden. 1965 kann sie erste Gedichte in der Anthologie »Neue Texte« im Verlag Neues Leben veröffentlichen. Aber die Traumata des Krieges und die Verzweiflung über die politische Entwicklung in der DDR holen sie immer wieder ein.
Am 3. Dezember 1965, kurz vor dem 11. Plenum des ZK der SED, erschießt sich Dr. Erich Apel, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats und Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR, in seinem Büro im Haus der Ministerien. Grund dafür sind die im neuen Wirtschaftsabkommen zwischen der Sowjetunion und der DDR festgelegten erhöhten Reparationszahlungen sowie das Ende des von ihm mit entworfenen »Neuen Ökonomischen Systems«, das ein Leistungsprinzip in die sozialistische Planwirtschaft einführen sollte. Inge Müller kannte Erich Apel aus dessen Zeit als Leiter des Amts für Literatur und schrieb nach seinem Tod das Gedicht: »Für E. A.«, in dem es unter anderem heißt: »Der Schlusspunkt wie Wladimir / Und nichts gesagt vorher / War da keiner? Was du trugst war mehr / Als wir 45 planten, taten, trugen / Ist alle Welt aus allen Fugen«.
Leise und unerträglich
Auch die Zunahme der Spannungen zwischen Ost und West im Kalten Krieg und in den Stellvertreterkriegen weltweit beschäftigt sie zusehends. Inge Müller hat nach 1945 erlebt, wie die Forderung »Nie wieder Krieg!«, die in vielen Sprachen an den Ruinen auf dem europäischen Trümmerfeld stand, bald wieder verblasste. Nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki folgten schon vier Jahre später die ersten Atomwaffentests der Sowjetunion. Dann die Kriege in Algerien, Korea und Vietnam, der Einsatz von Napalm und Agent Orange gegen die Zivilbevölkerung, die Zunahme des Wettrüstens, das auch Europa mehrfach an den Rand eines dritten Weltkriegs brachte. Die Bilder dieser neuen Kriege erinnern Inge Müller immer wieder an das Grauen, das sie selbst durchlebt hat und nicht vergessen kann. Und so schreibt sie auch über Vietnam: »Die Angst zwingt zum Wegsehen. / Wir bluten aus den leicht vergessnen nie vergessnen / Uralten Wunden / Das letzte Gefecht ist / Das erste. Die Schreie verbrauchen die Luft«. (Vietnam). Und in einem anderen Vietnam-Gedicht fordert sie: »Sieh was ist. Frag wie es kam.«
Nach der »Umsiedlerin«-Affäre wird für Inge Müller auch ihre Beziehung zu Heiner Müller immer schwieriger. Während sie die vernichtende Kritik und die gezielten Isolierungsversuche persönlich nimmt, kann er sich den Kampagnen und Verunglimpfungen schreibend entziehen. »Im Grunde bin ich da unberührt durchgegangen«, lautet einer seiner späteren Kommentare. Abgesehen davon, dass manche seiner Texte aus dieser Zeit eine andere Sprache sprechen – ihm gelingt es dennoch, die Erfahrung von Verrat und Vergessen in einer Reihe von Stücken wie »Philoktet« oder »Der Horatier« produktiv zu machen, während sich Inge Müller zusehends auf die schonungslose Selbstbefragung im Gedicht zurückzieht. Sie kämpft bis zuletzt um ihre Liebe und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, aber sie ist nicht bereit, dafür immer weiter Kompromisse zu machen. In dem Gedicht »Hinter der Pappfassade« bringt sie ihr poetisches und politisches Credo auf eine Verszeile: »Die Wahrheit, leise und unerträglich.«
In der Nacht zum 1. Juni 1966 nimmt sich Inge Müller das Leben. Heiner Müller findet sie bei seiner Heimkehr morgens um drei Uhr tot in der Küche ihrer Wohnung. Ein halbes Jahr später wird er diesen Moment in dem Prosatext »Todesanzeige« beschreiben, den er erst 1975 veröffentlicht. Ihr Tod wird auch später in seinen Stücken und Gedichten immer wieder eine Rolle spielen und in Texten wie »Hamletmaschine« oder »Verkommenes Ufer« wird sie als Wiedergängerin in den Rollen von Elektra, Medea und Ophelia ihre Stimme erheben: »Gestern habe ich aufgehört mich zu töten (…) Ich zerstöre das Schlachtfeld, das mein Heim war. Ich reiße die Türen auf, damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt.« (Hamletmaschine / Das Europa der Frau )
In ihren Gedichten hat Inge Müller sich weniger pathetisch verabschiedet. Eines ihrer letzten hat einen lakonischen und gleichzeitig fast gelösten Klang: »Wenn ich schon sterben muss / Will ich noch einmal / Mit euch durch den Wald gehen / Und vorbei am See in Lehnitz / Irgendwo; noch einmal möchte ich sehn: / Himmel / Berge / Meer / Arbeiter und Landstreicher / Äcker und Großbauplätze / Städte am Morgen und bei Nacht / (…) Da werd ich viel zu glücklich sein / Zum Sterben.«
Holger Teschke arbeitet als Autor und Regisseur in Berlin und auf Rügen. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt über die US-Präsidentschaftswahlen am 9. November 2024: The Golden Age of America.
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Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (15. März 2025 um 23:28 Uhr)Schon als 12-jähriger in den 80-igern war mir klar, dass die DDR an ihrer Bräsigkeit ersticken würde. Dass es faule Äpfel wie diese bis heute tätige West-Propaganda-Schranze Biermann gab, ist doch normal, liegt in der perversen Natur des Menschen und ist absolut keine Rechtfertigung dafür, aufrichtige und wache Künstler:innen und Intellektuelle solch massiver Repression auszusetzen, dass jedes kreative, die Leute tatsächlich ansprechendes Wirken verunmöglicht wird, sogar z.B. in der hier beschriebenen Totalität des Suizids. Auch wenn ich bereits damals in der Schule »Gruppenräte« oder »Freundschaftsräte« als dem sozialistischen / kommunistischen Gedanken in ihrer realen, institutionellen Ausprägung schädlich identifiziert, mied wie die Pest, war es entgegen der heute weit verbreiteten Narrative in den 80igern sehr wohl möglich, diese Auffassungen breit zu diskutieren. Durch diverse Besuche in den offiziell volkseigenen, tatsächlich SED-eigenen, damit staatseigenen Betrieben bei »Patenbrigaden« u.ä. wurde schon für diesen 12-jährigen offenbar, dass die DDR mit ihrem von Weltmarkt und Schutzmacht erzwungen de-facto-Staatskapitalismus (mit starkem Sozialstaatsprinzip, was dann die Propagandafassade zur Rechtfertigung des Sozialismus-Begriffs darstellte), ohne Leistungsprinzip nicht würde überleben können. Dass es dann so schnell gehen würde, war auch für mich nicht vorstellbar, aber grundsätzlich war dieser Weg vorgezeichnet und so offensichtlich, dass sogar Kinder dies erkennen konnten. Wie krass kann mensch eigentlich verkacken?! Interessant in dem Artikel daher auch, dass das Grab der DDR also bereits 1965 zusammen mit dem für Dr. Apel geschaufelt wurde. Sie haben damals also einen Quasi-Kapitalismus mit wenig gezuckertem Zuckerbrot und ganz ohne Peitsche versucht. (Die Leute haben sich dann natürlich trotzdem gegenseitig gepeitscht; halt nicht zwecks Steigerung der Konkurrenzfähigkeit wie meist heutzutage, sondern zwecks Austragung persönlicher Animositäten.)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (13. März 2025 um 20:08 Uhr)Ja, der Sozialismus in der DDR hat auch Opfer gekostet. Dieses weinerliche Ausgraben derjenigen, die dazuzurechnen sind, hängt mir zum Halse heraus. Jedenfalls so lange, bis auch derer anständig gedacht wird, die sich buchstäblich dafür totgeschuftet haben, dass dieses kleine Ländchen wachsen und gedeihen konnte. Dass deren Anstrengungen möglichst übermenschlich groß blieben, dafür hat man westlich von Elbe und Werra fleißig gesorgt. An die Opfer, die das gekostet hat, wird heute schändlicherweise mit keinem Wort erinnert. Sie passen einfach nicht ins Bild, auch wenn es viel, viel mehr sind als jene, die unberechtigt in Strudel gerissen wurden, in die sie nicht hineingehört hätten. Die Selbstgerechten in der alten BRD zeigen auf Opfer in der DDR. Wie viele sie davon selbst mit auf dem Gewissen haben, es kümmert sie nicht. Und die Opfer in ihrem eigenen Land erst recht nicht.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (13. März 2025 um 11:30 Uhr)»Am 23. April werden Weißensee und Lichtenberg von sowjetischen Einheiten erobert.« Ich dachte spontan: Warum schreibt der Autor »erobert« und nicht befreit? Schon hier ahnt der Leser Schlimmes, und die Befürchtung wird auch bestätigt. Kaum ein positives Wort über den fortschrittlichsten Staat, der je auf deutschem Boden existierte. Statt dessen ein Strickmuster, das leider in sehr vielen Artikeln finden ist: fragwürdige, destruktive Werke wie »Rummelplatz« oder »Die Umsiedlerin« werden praktisch nie kritisiert. Auf der anderen Seite werden Kulturfunktionäre der DDR um so härter dämonisiert. Diese hatten angeblich nichts besseres zu tun, als ständig Intellektuelle zu drangsalieren. So entsteht ein einseitiges Bild über die Kulturpolitik der DDR. Man könnte aber den Spieß umdrehen und sagen: Walter Ulbricht und Erich Honecker hatten es auch nicht leicht mit solchen Intellektuellen. »Auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 prangert Erich Honecker ›schädliche Tendenzen und Auffassungen‹ unter den Künstlern an. Namentlich nennt er Stefan Heym, Heiner Müller, Wolf Biermann und Werner Bräunig« (MDR, 26.1.2022).
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Leserbrief von Peter (15. März 2025 um 13:46 Uhr)Hinterher ist es leicht, klüger zu sein. Vielleicht wäre es für die DDR und den Sozialismus besser gewesen, wenn Walter Ulbricht und Erich Honecker ›schädliche Tendenzen und Auffassungen‹ nicht angeprangert, sondern einen nachdenklichen und selbstkritischen Dialog mit Stefan Heym, Heiner Müller, Wolf Biermann, Werner Bräunig u.a. geführt hätten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in H.-J. R. aus Berlin (13. März 2025 um 16:34 Uhr)Und wieder mein Dank an Franz S. für die klare antirevisionistische Beurteilung. Dabei stelle ich mir schon längere Zeit allerdings die Frage - da das Sein das Bewußtsein prägt - ob der Tribut an die Marktwirtschaft »freiheitlich« kulturell und somit eine ideologisch kleinbürgerlich-intellektuelle Richtung erfährt?
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