Hetze aus der Mitte
Von Ulrich F. Opfermann
Die Weimarer Tagespresse war eng in die Politik eingebunden, nicht wenige Zeitungen waren Parteiorgane. Man könnte annehmen, dass die politisch-parlamentarischen Entscheidungen zur »Zigeunerbekämpfung« sich, journalistisch aufbereitet, dort an die Wählerschaft adressiert wiederfinden. Dem war nicht so, wie jedenfalls eine systematische Stichprobe in zehn digitalisierten Zeitungen ergibt, acht davon aus einem breiten bürgerlichen Spektrum, eine der SPD und eine der KPD.
Über die Verabschiedung des wegweisenden bayerischen »Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetzes« im Juli 1926 berichteten die Münchener Neuesten Nachrichten, wichtigste Tageszeitung in Bayern, mit keinem Wort. Ebenso wenig das SPD-Zentralorgan Vorwärts, das andererseits am Beschlusstag einen bemerkenswerten Beitrag brachte. Sein Thema war eine »Menschenklasse« und »Bettlerarmee« »aus allen möglichen Ständen«. Ethnische Unterscheidungen wurden nicht getroffen, diese ganze Population galt der Zeitung jedoch als »zigeunerhaft« und als äußerst unangenehme Belastung der Normalbürger. »Beutespähend« ströme sie morgens aus den Notunterkünften. »Erlösung« davon sei nur durch eine Konjunkturbelebung zu erwarten.
Hin- und hergeschoben
Im Anschluss an den preußischen Runderlass von 1927 gegen »Gewohnheits- oder gewerbsmäßige Verbrecher« kam es im Herbst 1928 bei Aachen zu einem deutsch-belgischen Grenzkonflikt. Mehrfach wurde eine größere Gruppe von Roma über die Grenze hin- und hergeschickt. Die Zeitungen berichteten. Den Grenzübertritt in den Regierungsbezirk Aachen verbot der regionale Polizeipräsident. Sein Sachwalter war ein junger Jurist und Regierungsassessor aus der Zentrumspartei, Hans Maria Globke, der spätere Mitautor und Kommentator der Nürnberger Gesetze (1935), die er bekanntlich ausdrücklich auch auf »Zigeuner« bezog. Die nationalliberale Kölnische Zeitung, das Hauptblatt in Köln, beschrieb die Grenzübertreter als ein »buntes Völkergemisch«. Sie träten in »Horden« auf und machten »zum Schrecken der ganzen Bevölkerung« durch ständige Diebstähle den Grenzraum unsicher. Widerspruch kam von der Aachener Arbeiter-Zeitung der regionalen KPD. Mit der Abschiebung, erklärte das Blatt, werde »Freizügigkeit und Demokratie« entgegengehandelt. Es hob das Ethnizitätsthema auf die Klassenebene: Wer Geld und Besitz habe, der dürfe anders als »Zigeuner« »sich in jedem Land als Gast, als Globetrotter, als Reisender beschäftigen und untätig herumlungern.«
Etwa gleichzeitig reagierte der Aachener Anzeiger mit einem ausführlichen Beitrag des bekannten Journalisten Richard Nieburg auf den Entwurf eines »Zigeunergesetzes« im Volksstaat Hessen, das dann 1929 verabschiedet wurde. Mit deutlich antisemitischem Anklang sah Nieburg in der Roma-Minderheit, die »seit 15 Jahrhunderten unstet und flüchtig durch alle Länder irrt«, zum einen »den Stamm Kains« und zum anderen den »Ahasver unter den Völkern«, aber auch die »indischen Paria auf Europas Landstraßen« und »Nomaden inmitten der hochentwickelten europäischen Zivilisation«. Sie ernähre sich »durch Rosstäuscherei, durch Wahrsagerei, Bettelei, Diebstahl und durch Musik«, falle durch »ständige Messerstechereien« auf und sei im Weltkrieg von Fabrik- und Landarbeit weggelaufen. Das Gesetz bezwecke zu Recht, »mit festen Wohnungen« – gedacht war an eine Unterbringung in Lagern – »die Zigeuner mit Gewalt von ihrem Nomadenleben abzubringen«, wenn es auch leider nicht möglich sei, feststehende Messer zu verbieten.
Immer wieder publizierten die Zeitungen ausführliche, ethnologisch getönte Texte von renommierten bürgerlichen Verfassern. Häufig ging es darin um zivilisatorisch zurückgebliebene, kontrastkulturelle ost- und südeuropäische Roma. Damit einher gehe eine mangelhafte Bereitschaft zur nationalen und ethnischen Abgrenzung. Das habe ein »phantastisches Völkergemisch, Bulgaren, Griechen, Juden, Armenier und Zigeuner« ergeben, ein »Gemisch von Russen, Bulgaren, Griechen, Armeniern, Juden, Tataren, Zigeunern«, von »Pomaks (bulgarisch sprechende Muslime), (…) Juden, (…) Kutzowlachen (Bewohner der Walachei) in Negerkralen, (…) muselmanischen Zigeunern«.
»Zigeuner«, Juden, »Neger«
Schnittmengen zwischen »Zigeunern« und Juden waren ein wiederkehrendes Motiv. So bemerkte der Bühnendichter Herbert Eulenberg 1920 in der Kölnischen Zeitung in Betrachtung des bekannten Schauspielers Joseph Kainz, dieser sei in seinen Auftritten »aus Jüdischem und Zigeunerhaftem zusammengegossen«. Er komme eben aus Ungarn, für Eulenburg offensichtlich ein Land der Artmischungen, die Artkomponenten jeweils fest verankert in Physis und Psyche. Das Zentralorgan der christlich-sozialen Antisemiten in der DNVP, Das Volk, propagierte 1928 mit den Worten des »Turnvaters« Friedrich Ludwig Jahn »Staat und Volk in eins«, insofern fehle staatenlosen »weltflüchtigen Zigeuner(n) und Juden« Entscheidendes. Im Vorwärts fand der Leser 1930 eine »Zigeunergeschichte« vom ostjüdischen »Schankwirt Moische Igel« des kulturlinken Autors Alexander Sacher-Masoch. In »feinziselierter Prosa«, so der Vorwärts, ließ darin der Verfasser den als »großer Halsabschneider und gerissener Rosstäuscher bekannten« Wirt einem »Zigeuner« ein Pferd abkaufen, wurde dabei von diesem hinters Licht geführt und verkaufte das Pferd mit dem gerade gelernten Trick gleich weiter.
Auf derartige Beiträge war der Vorwärts-Leser gut vorbereitet. 1929 sagte Sacher-Masoch es dort so: »Der Zigeuner ist heute wie vor Jahrhunderten: Triebkraft und ungebrochen in seinen Instinkten«, das sei Ausdruck vollkommener »Rassereinheit«. Es handle sich hier um ein Volk, das »keine Entwicklung kennt«, um einen kollektiven »geborenen Ausbeuter«, der es »seit jeher verstanden« habe, »auf Kosten anderer zu leben«. »Alles, was wir ihnen an Unmoral, Grausamkeit, Gewinn- und Genussucht mit Recht zuschreiben«, das sei für »Zigeuner« »Ziel und Lebensinhalt«. »Er lügt um der Lüge willen, dem Zwange eines Urinstinktes nachgebend, der sich durch die Jahrhunderte seines Wanderlebens rein und ungebrochen vererbt hat.« »Zigeuner« seien fähig, »jedes Verbrechen im Dienste ihrer von Aberglauben durchsetzten Phantasie zu begehen«. Man sei »durch Welten getrennt« von diesen Menschen. Es existiere ein »kaum überbrückbarer Abgrund«. Die massive Kriminalisierung und deren genetische Ableitung brachte der Vorwärts gleich zweimal. Mit ihm druckten auch die konservativen Münchener Neuesten Nachrichten den Beitrag Sacher-Masochs.
1932 erklärte sich der Vorwärts aus Anlass eines angeblichen Raubüberfalls noch wieder grundsätzlich. Das Ereignis werfe »ein grelles Licht« auf die »düstere und unheimliche Romantik des Zigeunerischen, die noch immer wie ein Überrest aus ferner Vergangenheit in unsere moderne Zeit hineinragt«. Ob heute autofahrend oder als eleganter Geigenvirtuose unterwegs, diese »Fremdlinge unter uns« seien »eben noch echte Primitive geblieben«. »Die Wildheit ihres Blutes lässt sich nicht ausrotten, sondern bricht immer wieder durch.«
Neben der Gleichsetzung mit Juden stand die mit den auf niedrigster Entwicklungsstufe eingeordneten »Negern«. Immerhin seien angesichts der »prachtvollen Gebisse der Zigeuner, Neger und anderer Völker ohne Zahnpflege« (Dortmunder Zeitung, 1927) die Primitiven aufgrund typischer Biomerkmale leicht zu erkennen. Die Kölnische Zeitung ließ dazu 1930 den Völkerpsychologen, Balkanologen und »Zigeunerforscher« Martin Block zu Wort kommen.
Block konstatierte einen die Sinne reizenden »besonderen Rassegeruch« dieses »Naturvolks« von urzeitlichen »Jägern und Sammlern«, dieser »zähen Rasse«. Dabei sei zu beachten, »je höher eine Kultur, unter der sie als Gastvolk leben, (…), desto parasitischer wirkt sich ihre Lebensform aus, desto mehr fühlt man sie als Schmarotzer am Volkskörper«. Block dankte der Weimarer Politik dafür, »dass das Gesetz ihnen nicht mehr erlaubt, in solch großer Zahl wie eine Heuschreckenplage durch die Lande zu ziehen«. Im Vorwärts konstruierte auch er 1932 eine Parallele zur jüdischen Minderheit. Ein »König« sei es, der – wie in dem bekannten Phantasma die Weisen von Zion – das »durch geheimnisvolle Bande zusammengehaltene ›Weltreich‹« der »Zigeuner« regiere.
Deutsche Kultur in Gefahr
Die DVP-nahe Kölnische Zeitung warnte 1923 mit dem Blick auf Ungarn vor kulturellen Gefahren. Dort hätten die »Zigeuner« die Tanzmusik an sich gerissen, und bewirkten nun mit ihrer Musik als »zersetzendem Element« den Untergang der guten alten Volksmusik. Das Volk der DNVP vertrat 1926 einen ähnlichen Kulturpessimismus. Eine große Gefahr für die Volksgemeinschaft drohe durch »Neger und wilde Völker«, denen die beliebten »Schiebetänze« »abgeguckt« seien. So tanzend lebe sich dann in »Bordelluft« »niedrigste Genusssucht« aus. Zudem sei im Literaturwesen eine Gefahr für den Bestand der Hochkultur zu beobachten. »Eine neue Ethik« vergifte die Frauen durch »eine entsetzliche und widerliche Zigeunerliteratur«, die zu allem Unglück auch noch »von deutscher Frauenhand geschrieben« sei.
Einen Höhepunkt in der Zuordnung zu den »Primitiven« erreichte die Kölnische Zeitung 1924. Sie beschrieb die Lebensweise von Menschenaffen als ein »unstetes Zigeunertum«. Damit sonderte sie das »Zigeunertum« ganz aus der menschlichen Biologie aus und ordnete es zeitlich noch vor Jägern und Sammlern einer animalischen Vorstufe der Menschwerdung zu.
Dominiert dabei die enge, auf die Biologie bezogene »Zigeuner«-definition, so findet sich daneben auch die weite mit soziographischem Inhalt und ihrer Abgrenzung gegen die mittleren und höheren Stufen der Gesellschaftspyramide. Im Juni 1919 war die Bergische Volksstimme, eine Tageszeitung im Industriegebiet zwischen Rhein und Ruhr, noch in der Hand der Mehrheitssozialdemokratie. Dort wetterte ein SPD-Reichstagsmitglied, Funktionär des Bergarbeiterverbands, gegen eine feindliche Fraktion in seiner Gewerkschaft, eine »wahnsinnige Zigeunerbande, Spartakisten, Bolschewisten usw.« Auf dem späteren Höhepunkt der Aktivitäten nationalistischer Freikorps kehrte das Blatt, jetzt als KPD-Zeitung, die Beschimpfung um und bezog sie auf Freikorpssoldaten. 1930 griff sie sie ins Allgemeine gewendet und auf »Proleten« bezogen auf, um damit eine Gemeinsamkeit der sozialen Lage und zugleich kleinbürgerliche Abgrenzungsbedürfnisse zu beschreiben: »In Leverkusen, in der ›schönen Gartenstadt‹ mit der ›gesunden Finanzlage‹ und einem ›christlich und sozial‹ denkenden Bürgermeister (…), werden die exmittierten Proleten ganz weit draußen untergebracht. Das Auge der Spießbürger und die (…) Herzen der wohlbestellten Verwaltungsbürokratie können es nicht ertragen, ständig die Not und das Elend der Proletarierfamilien vor Augen zu haben. Wie Zigeuner gedenkt man die Proleten über die Stadtgrenze abzuschieben. Das Stadtbild darf nicht verschandelt werden.«
Die Wahrnehmung der Minderheit war in der Bergischen Volksstimme 1929 über das »Nomadisieren« hinaus auch um Erklärungen bemüht: »Zigeuner« seien »Opfer sozialer Rückständigkeit und religiöser Vorurteile, Überbleibsel aus dem finsteren Mittelalter – auch heute noch« und »allen Schikanen der Behörden (…) wehrlos ausgesetzt«. Es handle sich »in Wirklichkeit« um »ein harmloses Völkchen, das ein elendes Leben fristet«, wiewohl es auch mit »tüchtigen Ackerbauern, Handwerkern und Händlern« aufwarten könne.
Einen aufs äußerste verkürzten, genetisch deterministischen Erklärungsansatz bei der Zuschreibung von Verhaltensweisen stellt die Blutmetapher dar. Sie trat im Kontext von »Zigeuner«-Beschreibungen ständig auf. So etwa in der Rezension einer Carmen-Rolle, wenn ein Verfasser zu einer nicht der Minderheit angehörenden Darstellerin 1923 anmerkte, dass »das Wesen dieser Zigeunerin (…) ihrem Blut doch fremd« bleibe, oder wenn zwei Musiker aus der Minderheit 1930 zwar als »modern und sauber gekleidet« beschrieben wurden, jedoch »in allen Bewegungen und besonders im Geigenspiel das leidenschaftliche Blut dieses rätselhaften Volkes« verraten würden. Hans Leip, Textdichter von »Lili Marleen« und Träger des Preises der Kölnischen Zeitung, fasste sich 1924 in Betrachtung einer Gruppe von Akteuren in einem »Seeräuberroman« kurz: »Es ist Zigeunerblut im Geschlecht«. Das konnte in einem bürgerlichen Blatt Auslöschungsphantasien auslösen. K. R. Neubert, ein in vielen Zeitungen anzutreffender multithematischer Autor, berichtete 1929 in der Dortmunder Zeitung aus dem österreichischen Burgenland: Er habe sich in einer Roma-Ansiedlung unter »Zigeunerbürgern« – für ihn eine Kuriosität – aufgehalten. Das Verbleiben an einem festen Ort sei nur auf »Zwangszivilisierung mit u. a. Fingerabdruckverfahren, Fotografieren und Identitätskarten« zurückzuführen. Aber es würden doch noch »Jahrzehnte der Ordnung, (…) Jahrzehnte straffer Disziplin« fehlen. Daher: »Es schüttelt uns« beim Blick in die »Hütten«. Und: »Das Betteln steckt ihnen (…) im Blut. (…) diese Vererbungserscheinungen sind auszumerzen!«
Ständig wurde die Minderheit in den kleinen Meldungen angeführt. Hier war das Gesamtprogramm der »Zigeuner«-Abwertung nicht möglich. Mit der Suggestion einer weit überdurchschnittlichen Kriminalität beschränkte die Presse sich auf diesen Punkt. Parallel dann dazu in Anzeigen und Rezensionen im scharfen Kontrast nahezu täglich faszinierende »Kunst-Zigeuner« und »Zigeunerweisen« auf theatralischen und musikalischen Bühnen, in Filmen und im Rundfunk.
Nur äußerst selten las man in der Zeitung etwas über Pogrome an der Minderheit. Nur zwei Fälle fanden sich. Einmal ging es in Prozessberichten, die in mehreren Zeitungen zu finden waren, um ein 1928 sich ereignendes, als »Blutbad« qualifiziertes Verbrechen in der Slowakei. Eine Gruppe von Nicht-Roma mit dem Bürgermeister an der Spitze hatte während einer Dorfkirmes einen Überfall auf eine »Kolonie« der Minderheit verübt, es gab acht Tote und zahlreiche Schwerverletzte. Die bürgerlichen Zeitungen, der sozialdemokratische Vorwärts und die Bergische Volksstimme der KPD waren sich in der Verurteilung der Taten einig, wenngleich das Organ der evangelisch-reformierten Antisemiten in der DNVP, Das Volk, und die wirtschaftsliberale Kölnische Zeitung Schuldumkehr betrieben: Die Opfer hätten von Diebstählen und Prostitution gelebt und Widerspruch ignoriert. Daher die zwar überschießende, aber nachvollziehbare Wut der Dorfbewohner. Der Textumfang fiel sehr unterschiedlich aus. In den bürgerlichen Blättern handelte es sich um kleinere Meldungen, während der Vorwärts umfangreicher berichtete. »Weiße Bestien vor Gericht« hatte die Bergische Volksstimme der KPD ihren Großbeitrag überschrieben, auf den ein Bericht aus den USA folgte: »›Stirb, schwarzes Schwein!‹ Grauenhafte Szenen bei der Lynchung eines Negers«.
In einem zweiten Fall ging es ebenfalls um einen schweren Übergriff 1929 in einem slowakischen Dorf. Ein Dorfrichter hatte auf der Suche nach einem Dieb eine von ihm für schuldig erklärte junge Frau aus der Minderheit ausgepeitscht, deren Mutter niedergeschlagen, die bewusstlose Tochter mit Helfern an einen Baum gebunden, einen Scheiterhaufen errichtet und angezündet. Nur die Bergische Volksstimme berichtete und erinnerte »an die brutale Lynchjustiz«, wie sie »in USA von entmenschten Horden immer wieder an Negern verübt« werde. Nur in diesem Blatt findet sich eine über ein moralisches Urteil zu den Pogromen hinausgehende Kontextualisierung der Ereignisse als Ausdruck einer rassistischen Struktur. So dort 1929 auch bei einem größeren Beitrag »Die Kältekatastrophe in Westeuropa«, der erstens über den »Kältetod eines invaliden Obdachlosen« in einem »Wien ohne Kohlen und Wasser« berichtete und zweitens über eine »Zigeunergruppe«, die in Polen erfroren sei.
Bis in die Arbeiterbewegung
Auffällig ist, dass wie in der Normsetzung so auch in der Tagespresse die rassistische Perspektive auf die Minderheit anders als noch eine Generation zuvor über die bürgerlichen Kreise hinaus in der organisierten Arbeiterbewegung einen festen Platz hatte. Die Weimarer Sozialdemokratie warb mit Hilfe der Symbolfigur »Zigeuner« um Zugehörigkeit zur Mitte und um Zuspruch auch von rechts. Zu »Zigeunern« als Wählern hielt man dagegen nachdrücklich Abstand. So veranschaulicht es ein Nachbericht im Vorwärts nach den letzten demokratischen Wahlen im Juli 1932. »Die dunkelhäutigen Bewohner unserer vorstädtischen Wagenburgen« seien als Wähler überflüssig. Sie seien nicht allein schreib- und leseunkundig, sondern auch politische Analphabeten, vom Ankreuzen überfordert. Von der äußeren Erscheinung solle man sich nicht täuschen lassen: Die »Eltern aufgedonnert«, die Kinder »schmutzig« und wie »aus dem Kraal entwichen«. Was diese »Preußen-Zigeuner« könnten, das sei, sich in die Schlangen vor den Arbeitsämtern einzureihen, wo sie sich frecherweise »wie jeder andere auch« »ihre Stempel und das Geld« holten. Damit umgehen, das könnten sie nicht. Es teilten nämlich »alle Rigos ihre Schillinge in einen Groschen für Brot und neun für Tabak«. Häme, Misstrauen und ein abwertender kleinbürgerlicher Blick von oben nach unten.
Bei alldem gab es dennoch in dieser Zeitung schon auch, wiewohl als Rarität, Reminiszenzen an ein universalistisches, sozialistisches Selbstverständnis. So, wenn Max Dortu (i. e. Karl Neumann), ein Sozialist zwischen den Parteien der Arbeiterbewegung, 1930 den Lesern eine kleine Geschichte aus Spanien offerierte, in der eine Gitana einen Streik in einer Tabakfabrik (siehe Georges Bizets Zigarettenarbeiterin Carmen aus der gleichnamigen Oper) anführte, der mit kürzerer Arbeitszeit und höherem Lohn endete: »Jedes Mädel steckt sich hinters Ohr den roten Stern der Freiheit«, »die Nelke – wie sie leuchtet.« Und: »Genossinnen von Granada, wir gratulieren von ganzem sozialistischem Herzen! Adjes und Adios.«
Anders und gefährlich
Die politische Agenda der Weimarer Mitte-Parteien und die Beiträge der sie stützenden Presse zeigen an, dass man sich in der Frage der Notwendigkeit einer »Bekämpfung des Zigeunerunwesens« durch die zwölf Jahre hindurch weitgehend einig war. Man vertrat und verbreitete, dass es sich bei der ethnischen Kerngruppe der »Zigeuner«-Population um eine in ihren Hauptmerkmalen homogene »rassisch« andersgeartete rückständige Bevölkerung handle, damit aber um etwas prinzipiell anderes als bei der kulturell und zivilisatorisch herausragenden Menschheit oberhalb eines insofern insgesamt zweifelhaften Proletentums. Es handle sich um ein Kollektiv von Gefährdern der inneren Ordnung und Sicherheit. Um diese ethnische Minderheit herum sammle sich eine Mischung von Menschen »nach Zigeunerart«. Ihnen allen sei möglichst schon vorbeugend entgegenzutreten. Politik und Medien arbeiteten dazu ein eingeführtes Klischeerepertoire der Stigmatisierung ab, in vorgeblicher Sachkenntnis und durchweg in mittlerer Tonlage ohne demonstrative Hassausfälle. Inhaltlich lag man in einem breiten Konsens bis weit rechts außen und im Dissens mit links außen.
Politik und Medien widersprachen fundamental jeder staatsbürgerlichen und menschenrechtlichen Gleichheit. Sie bekräftigten, festigten, erweiterten und aktivierten ein insbesondere in den Mittelschichten und der Oberschicht vorhandenes faschistoides Potential. Die Haltung der zeitgenössischen Mitte als Weimarer Nationalismus/»Patriotismus« demokratischer Zuordnung zu qualifizieren, wäre eine völlig deplazierte Beschönigung. Auf der wilhelminischen Sondergesetzgebung aufbauend entstand erneut ein undemokratisches und pränazistisches Sonderrecht. Es wurde nach 1933 weiter radikalisiert und genozidal auf die Kerngruppe der Roma zugespitzt, ohne dass die akademischen Bevölkerungsplaner und Rassenhygieniker dabei »Mischlinge« und andere »Asoziale« aus dem Blick verloren hätten.
»Rassismus« und »Antiziganismus« kamen als Begriffe im Weimarer politischen Diskurs nicht vor. »Antisemitismus« war für viele Sprecher und Hörer positiv konnotiert. Der Oberbegriff »Rassismus« als Schlussfolgerung aus einer Exklusionspolitik gegenüber Minderheiten kam erst in der Endphase der Weimarer Republik auf. Der der KPD verbundene Bertolt Brecht arbeitete seit 1932 an dem antirassistischen Stück »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe«. Er wandte sich damit, wie er ausdrücklich sagte, gegen »Rassismus«, und der linke Publizist und Sexualforscher Magnus Hirschfeld machte 1933/34 den neuen Begriff zum Titel eines Buchs, das jedoch erst posthum 1938 in London erscheinen konnte. Der Terminus »Antiziganismus« im Sinne von gegen Roma gerichtete Haltungen entstand zwar bereits in den 1920er Jahren in der Sowjetunion, gelangte aber nicht über die Sprachgrenze. Im französischen Sprachraum tauchte er unabhängig von dieser Vorgeschichte in den 1970er Jahren, im deutschen Sprachraum erst in den 1980er Jahren auf.
Ausnahme KPD
Die kulturliberale, auf die Verfassungsgebote bezogene Kritik an rassistischem Sonderrecht war in Weimar randständig, und innerhalb einer linken Arbeiterbewegung blieb sie weitestgehend auf die KPD und ihr Nahestehende beschränkt. Einerseits erfuhren dort partikulare Minderheiten mit geringem gesellschaftlichen Gewicht, Regionalismen, Ethnizismen, erst recht deren Überhöhungen durch nationalistische Heimatszenen, Folkloristen oder Ethnologen wenig Aufmerksamkeit, da man klassenorientiert in der Absicht handelte, die großen Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Andererseits ging es im Fall der »Zigeuner« aus kommunistischer Sicht um Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Armut und damit um Grundfragen der Lebenswelt aller arbeitenden Menschen. Verweise auf die Minderheit als fröhliche »Arbeitsverweigerer« und schädliche »Asoziale« wurden verstanden als gegen die Arbeiterschaft als Ganzes gerichtete Konstrukte ihrer Opponenten im Sinne einer Rassifizierung tatsächlich sozioökonomischer Problemlagen. Die würden mit dem »Zigeuner«-Thema nur überdeckt. Die Marginalisierung der »Zigeuner« bewirkte Solidarität. 1931 erschien im Malik-Verlag mit einem Cover von John Heartfield der Jugendroman »Ede und Unku« der Kommunistin jüdischer Herkunft Grete Weiskopf (Pseudonym: Alex Wedding). Darin ging es um die Freundschaft eines Berliner Mädchens aus der Sinti-Communitiy mit einem Arbeiterjungen aus der Mehrheit. »Ede und Unku« war in der Buchproduktion der Weimarer Republik thematisch einzigartig.
Soweit Menschen aus der Minderheit unter den gegebenen Bedingungen – dazu gehörte die eingangs beschriebene Proletarisierung von Familien – ein politisches Interesse an Veränderung entwickelten, waren sie in oder bei der KPD zu finden, der einzigen Partei, für die bislang in deutschen Quellen zu diesem Zeitpunkt ein Mitgliedschaftsinteresse von Roma zu entdecken ist. Dafür wie auch für den ebenfalls KPD-orientierten antifaschistischen Widerstand aus der Minderheit nach 1933 gibt es einige Beispiele.¹ Leider hat das bis heute kaum Eingang in die fachliche Literatur finden können. Nach der Erklärung muss man nicht lange suchen, sie liegt auf der Hand.
Anmerkung:
1 Vgl. Ulrich F. Opfermann: Zu Widerspruch und Widerstand aus der Roma-Minderheit gegen NS-Bewegung und NS-System in der Rhein-Ruhr-Region, in: Interkultur Ruhr, 8.5.2020, https://interkultur.ruhr/notiz/zu-widerspruch-und-widerstand-aus-der-roma-minderheit-gegen-ns-bewegung
Ullrich F. Opfermann ist Historiker. Er ist Mitglied der Gesellschaft für Antiziganismusforschung sowie im Verein Rom e. V. und hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Roma und Sinti vorgelegt. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 28. Februar 2024 über die bundesdeutsche (Nicht-)Aufarbeitung des Völkermords an den Sinti und Roma: »Kein genozidales Motiv«. Teil 1 der Serie erschien in der Ausgabe vom 15. März 2025.
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