Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 15.03.2025, Seite 12 / Thema
Rassismus

Von wegen demokratisch

Gefährder von Sicherheit und Ordnung. Zum Antiziganismus in der Weimarer Republik (Teil 1)
Von Ulrich F. Opfermann
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Roma und Sinti wurden in der Weimarer Republik auf vielfältige Weise diskriminiert. Die Republik setzte die Politik des Kaiserreichs nahtlos fort (Grafik aus dem späten 19. Jahrhundert)

Die Geschichte der »Bekämpfung des Zigeuner­unwesens« ist in Westdeutschland erst Jahrzehnte nach den genozidalen Verbrechen an der Minderheit zu einem Forschungsthema geworden. Heute gibt es inzwischen einiges an Literatur zu den Jahren 1933 bis 1945. Die etwas ältere Zeitgeschichte dagegen wie auch die weiter zurückliegenden Zeitabschnitte sind noch weitgehend unbeleuchtet. Der folgende Beitrag beschränkt sich auf die staatlichen Entscheidungen und auf mediale Beiträge zwischen 1919 und 1933. Das geht nicht, ohne einen kurzen Schritt in deren Vorgeschichte zurückzugehen, um sie aus ihrem Zusammenhang erklären zu können. (jW)

Mit der Begründung eines deutschen Nationalstaats war dessen Bevölkerung – sozial, regional, konfessionell usw. vielfältig fragmentiert – zu einem »Staatsvolk«, zu einer »ethnisch« ausgewiesenen Einheit zu formieren, der zugedacht war, als »deutsche Nation« und als »Volksgemeinschaft« in die Konkurrenz der Staaten um einen mit jedem Mittel zu erringenden »Platz an der Sonne« einzutreten. Ein deutsch-völkischer Nationalismus stand auf dem Programm der Mehrheitspolitik, der Schulen und der nun aufkommenden Massenmedien. Ein Mittel zum Zweck war die entschiedene Abgrenzung gegen als bedrohlich dargestellte »fremde« Ethnizitäten wie Juden, Polen oder »Zigeuner«. Das schloss mit ein, sich der Diskussion der drängenden sozialen Frage zu entziehen, wie eine selbstbewusste sozialistische Arbeiterbewegung sie ansprach. Dort galt Gemeinschaftlichkeit aufgrund von Klassenzugehörigkeit, man verortete sich in einer Klassengesellschaft und strebte eine nichtnationalistische egalitäre und solidarische Gesellschaft an.

Was die Roma-Minderheit angeht, so orientierten Mehrheitspolitik und Staatsapparat umgehend auf deren rechtliche Ausschließung. Bereits im Jahr der Staatsgründung 1871 erschien in Bayern eine erste Ministerialvorschrift zu »herumziehenden Zigeunern« als Gefährdern der öffentlichen Ordnung. 1891 erließ der Bundesrat erste Anweisungen zur »Bekämpfung der Zigeunerplage«. 1899 wurde in der Polizeidirektion München eine reichsweite Erfassungsbehörde (»Zigeunerzentrale«) eingerichtet, die Personendaten sammelte. 1905 erschien im Auftrag des bayerischen Innenministeriums dann ein »Zigeunerbuch« für den Polizeigebrauch und den Buchhandel mit 3.350 Namen. 1906 vereinheitlichte und erweiterte eine preußische Ministerialanweisung die geltenden Bestimmungen zu einem ausgedehnten Regelwerk. »Ausländische Zigeuner« waren am Grenzübertritt zu hindern bzw. abzuschieben. Gegen »inländische Zigeuner« waren »vorbeugende« und »unterdrückende Maßnahmen« zu ergreifen. »Fürsorgeerziehung«, »Bestrafung umherziehender Zigeuner« und deren »polizeiliche Beobachtung« waren dabei Leitbegriffe. 1911 verabschiedete in München eine gesamtdeutsche »Zigeunerkonferenz« eine Denkschrift über die Bekämpfung der »Zigeunerplage«. Auch ihr ging es wie schon zuvor sowohl um »nach Zigeunerart herumziehende Personen« als auch um »Zigeuner im Sinne der Rassenkunde«, sozialdarwinistisch beschrieben als »auf der tiefsten Kulturstufe stehend«. Die »neueste Entwicklungsphase des deutschen Volkes« überfordere diese »fremde Rasse«.

Zwei bemerkenswerte Vorgänge stehen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs am Beginn der Republik: Ende April 1919 hatten in München in den letzten Tagen der bayerischen Räteregierung bewaffnete Arbeiter das Polizeipräsidium besetzt. Dabei wurden, wie die Münchener Neuesten Nachrichten und die Kölnische Zeitung berichteten, unter anderem »in stundenlanger Arbeit« »in der Zigeunernachrichtenstelle (…) alle Fächer ausgeräumt«. »Das ganze Material des Zigeunerüberwachungsdienstes des Deutschen Reiches« wurde mit vielen anderen Polizeiakten in den Hof geworfen, der Papierberg mit zwei Fässern Benzin übergossen und alles angezündet.

Ende Juli 1919 wurde in Weimar eine Reichsverfassung beschlossen. Im Grundrechtsteil hieß es als erstes, »alle Deutschen« seien »vor dem Gesetze gleich«, und nach der Gleichheit der Geschlechter kam der Satz, es seien »öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes« aufzuheben. Zwei Artikel danach dann ein weiterer grundlegender Merksatz: »Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Reiche. Jeder hat das Recht, sich an beliebigem Orte des Reichs aufzuhalten und niederzulassen, Grundstücke zu erwerben und jeden Nahrungszweig zu betreiben.« Einschränkungen würden eines Reichsgesetzes bedürfen.

Proletarisierung

Jeder Politiker konnte wissen, dass die Männer aus den Familien der Roma-Minderheit meist im Weltkrieg an der Front gestanden hatten, dass die Familienmitglieder deutsch wie andere Deutsche sprachen, dass sie »Deutsche« waren und ganz überwiegend auch die Staatsangehörigkeit eines der Bundesstaaten hatten. Eine Fortführung der wilhelminischen Bekämpfung des »Zigeunerunwesens« musste die Verfassung brechen.

Inzwischen hatte sich an der sozialen Lage auch der Roma-Minderheit einiges verändert. Als 1929 der Deutsche Städtetag für eine »reichsrechtliche Regelung des Zigeunerwesens« 176 Stadtverwaltungen zur Präsenz von »Zigeunern« befragte, ging es nur um die noch reisenden. Es zeigte sich dabei, dass viele Familien einen festen Wohnsitz vor allem in Arbeiterquartieren hatten und dass die Kinder in der Regel ordentlich die Volksschule besuchten. »Nur ganz vereinzelt«, so der Städtetag, beanspruchten Familien öffentliche Unterstützung.

Als 1927 in Köln die Polizei Zwangsausweise an rund 400 Zigeuner und Zigeunerinnen austeilte – über die Daten dafür verfügte sie offenkundig bereits – stellte sie fest, dass diese zum Teil seit vielen Jahren dort lebten. Hervorgehoben wurden die Pferdehändler unter ihnen. Entgegen dem Vorurteil hatten sie einen guten Ruf als »zuverlässige und sachverständige Pferdepfleger, die nach allgemeiner Erfahrung einen ehrlichen Handel betreiben«.

1931 beschrieb der Schriftsteller Joseph Roth in der Kölnischen Zeitung den sozialen Wandel am Beispiel Duisburgs. Er stieß auf Parallelen: »Das angeblich regellose Leben der Zigeuner (…) gerät zwischen die harten Klammern: Lohn, Arbeitslosigkeit, Bedarf und Verbrauch. Das Leben in romantischen Wohnwagen proletarisiert sich, (…) die Wohnwagen der Zigeuner unterscheiden sich nur durch die Räder von den elenden Behausungen vieler einfacher Arbeiter, die den alten Wagen die Räder abgenommen und die Bretterwände in den lockeren Boden gesteckt haben. (…) Der winzige Schrebergarten des sesshaft gewordenen Arbeiters trägt nicht viel mehr als das öde Lager, auf dem sich der Zigeuner niedergelassen hat.« Knapper dazu 1929 die der KPD nahestehende Arbeiter-Illustrierte-Zeitung: Die Angehörigen der Minderheit seien dabei, »sich mit dem Proletariat zu vermischen«.

»Das Wohlstandsgefälle zwischen den (Roma-)Familien war erheblich«, hat der Historiker Michael Zimmermann festgestellt. Viele Nochreisende waren mit bürgerlichem Habitus im bei aller Krise florierenden Weimarer Unterhaltungsgewerbe anzutreffen. In einer der beliebten »Zigeunerkapellen«, auf Varietébühnen, in der Artistik, vielleicht auch mit eigenem Zirkus oder mit einem mobilen Filmbetrieb war man nicht in einer ethnischen Sonderrolle, sondern als integrierte Größe in einem ausgesprochen multiethnischen Milieu unterwegs.

Prekäre Lebensbedingungen gab es nicht nur bei der Minderheit, sondern überall bei den unteren sozialen Schichten bis tief in die kleinbürgerlichen Mittelschichten hinein, und die Wohlhabenden waren in allen »ethnischen« Gruppen eine Minderheit. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Mangelernährung und Krankheit bestimmten den Alltag weiter Teile der Bevölkerung. Die kleinsten Wohnungen waren die am stärksten überbelegten. Manche Familien lebten im Wohnwagen, andere in Zelten, fast eine halbe Million war ohne Unterkunft. Die antisemitische Deutschnationale Volkspartei (DNVP) hatte dafür 1920 im preußischen Landtag eine völkische Lösung: »Will man unseren Volksgenossen genügend Wohnungen sichern, so mag man die vielen lästigen Ausländer in Konzentrationslagern unterbringen.« Das bezogen Völkische insbesondere auf »Nichtdeutsche« am sozialen Rand: auf »Ostjuden« und »Polacken« wie auch auf »Zigeuner«. Auf Stellplätzen, in Peripheriequartieren und im Arbeiterstadtteil sammelte sich eine ethnisch gemischte Bewohnerschaft, darunter auch Sinti und aus den östlichen Territorien migrierte Roma anderer Gruppenzugehörigkeit. Zum Lebensniveau dort in diesen Jahren nur ein Detail: 1923 wurden im Reich beschaupflichtig mehr als doppelt so viele Hunde geschlachtet wie im Jahr 1913.

»Bekämpfung der Zigeunerplage«

Die Beseitigung der »Zigeunerakten« und die Verfassungsgebote bei Begründung der Republik waren keine Vorzeichen einer künftigen demokratischen Duldungspolitik, und der Prozess einer sozialen Angleichung der Minderheit wurde von der hegemonialen Politik kaum rezipiert. Sie behielt die wilhelminische Perspektive bei.

Im Dezember 1922 erließ die Republik Baden einen detaillierten Erlass zur individuellen Erfassung aller »Zigeuner« und »nach Zigeunerart« lebenden »Landfahrer« und stellte sich damit ausdrücklich in die Kontinuität einer entsprechenden Verordnung von 1908. Wer älter als 14 war, hatte künftig eine Personalkarte mit Namen, Familienstand, Beruf, Geburtsdaten, Foto des Inhabers und Fingerabdruck mit sich zu führen. Fingerabdruckblätter und Personenkarten waren in der oberen rechten Ecke mit »Z« zu kennzeichnen. In Karlsruhe wurde dafür in Zusammenarbeit mit der Münchener Zentrale eine Landesregistratur eingerichtet. Personalausweise für jedermann wurden im Deutschen Reich erst 1938 eingeführt. Eine begleitende »Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« folgte der preußischen Vorschrift von 1906. Die Maßnahmen verantwortete Innenminister Adam Remmele, Staatspräsident, Kabinettschef und Mitglied der SPD seit 1894. Hinter ihm stand eine Koalition aus SPD, katholischem Zentrum und linksbürgerlicher Deutscher Demokratischer Partei (DDP).

1924 dehnte Reichsinnenminister Karl Jarres von der wirtschaftsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) die preußische Anweisung von 1906 auf das Reich aus. Hinter ihm stand eine Koalition der bürgerlichen Mitte aus Zentrum, DDP, Bayerischer Volkspartei (BVP) als regionaler Abspaltung des Zentrums und DVP.

Im Freistaat Bayern verlief die Entwicklung ähnlich. 1922 forderte dort die Bamberger Lokalbehörde ein »Landesgesetz« gegen »reichsdeutsche Zigeuner« und eine »Änderung der Reichsverfassung (…) durch Ausschaltung der Zigeuner und nach Zigeunerart umherziehenden Personen« ohne Wandergewerbeschein und mit unzureichenden Papieren. Sie seien in »Konzentrationslager« einzuweisen. Ausweise mit großem rotem »Z« wurden eingeführt. Der Polizeidirektion in der Landeshauptstadt München mit ihrem reichszentralen Zigeunernachrichtendienst war das nicht genug. Die vollständige »Austilgung« oder doch wenigstens eine »dauernde Verdrängung von der Landstraße« sei nicht zu erreichen, »solange nicht mit radikalsten Mitteln« vorgegangen werde. Erste bayerische Gesetzentwürfe dazu gab es seit 1922.

Im Juli 1926 trat unter dem Ministerpräsidenten Heinrich Held von der BVP das »Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen (Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz)« in Kraft, befürwortet von einer Regierung aus BVP, Bayerischer Mittelpartei als Landesverband der DNVP und Bayerischem Bauernbund (BB). Besonders wichtig dabei war dem Innenminister Karl Stützel (BVP) die Einführung von Zwangsarbeit in »Arbeitshäusern«, um »das Großstadtgesindel im Zaume zu halten«, das er in den drei sich überschneidenden Fallgruppen sah. Sie alle seien kollektiv »arbeitsscheu«, wie Graf Joseph von Pestalozza von der BVP erklärte. Wer davon im engeren Sinn »als Zigeuner anzusehen« sei, darüber ergebe »die Rassenkunde (…) Aufschluß«.

Ein »Personalausweis« für »Zigeuner und Landfahrer« wurde eingeführt. Ein Verdacht ermöglichte fortan als »vorbeugende Verbrechensbekämpfung« die Zwangsinternierung in »Arbeitsanstalten« durch die Polizei. Das war ein Vorgriff auf die spätere NS-Praxis polizeilicher Festnahmen mit anschließender außergerichtlicher Inhaftierung. Es habe »nicht mehr die Verfolgung begangener Straftaten, sondern die planmäßige Bekämpfung des Verbrechertums ohne Beziehung auf eine bestimmte Straftat« das »hauptsächliche Arbeitsgebiet der Polizei« zu sein, erklärte dazu ein Kommentator in der Juristischen Rundschau 1926. Zum Wesen der »Zigeuner« und ihrer Kultur hieß es dort, sie seien »von Natur aus gegen jede Arbeit«.

Noch nach 1933 in Kraft

Im Verfassungsausschuss stimmten BVP, Völkischer Block, Nationalsozialistische Gruppe und BMP/DNVP dem Entwurf zu, SPD und KPD lehnten mit unterschiedlicher Begründung ab. Wilhelm Hoegner von der SPD sprach von einem »Rückfall in den Polizeistaat«. Seine Partei hätte lieber ein bereits in Vorbereitung befindliches Reichsbewahrungsgesetz »gegen sicherheitsgefährliche Personen« gesehen. »Überflüssige Doppelarbeit« solle doch besser vermieden werden. Die KPD verurteilte im Landtag die außergerichtliche Zwangseinweisung. Die Gleichstellung der Arbeitslosen mit »arbeitsscheuem Gesindel« unter »Wer wirklich Arbeit will, der bekommt sie auch« sei, wie überhaupt das ganze Gesetz zur Absicherung von »Ruhe und Ordnung« gegen die Arbeiterschaft und die Bürger insgesamt gerichtet. Zur »Bekämpfung der Zigeuner« reiche, was es gebe.

Zustimmung zum Gesetz kam von außen, aus dem Polizeimilieu. Die Zeitschrift Deutsches Polizeiarchiv stellte klar, »ohne ein Ausnahmegesetz geht es nicht ab.« Sie empfahl die zwangsweise Ansiedlung in »Kolonien« zur Urbarmachung von Ödland, Zwangsarbeit in der Landwirtschaft und Zwangserziehung in Zigeunerkinderheimen.

Die kritischen Stimmen gegen das Gesetz waren in der Minderheit. Rechtliche Bedenken angesichts der Verfassungsvorgaben formulierte Hans von Hentig, als vormals rechtlicher Vertreter des Reichskanzlers Otto von Bismarck und späterer zeitweiser Unterstützer der KPD ein prominenter Rechtsanwalt, 1927 in der Juristischen Rundschau, der Hochschullehrer und Staatsrechtler Walter Jellinek in seinem Standardwerk zum Weimarer Verwaltungsrecht (1928) und die jungen Juristen Werner K. Höhne (1929) und Dimitros Karanikas (1931) in ihren Dissertationen zur deutschen Zigeunergesetzgebung.

Die polizeiliche Praxis ging disziplinierend über das Gesetz noch hinaus. Laut einer Klage der KPD im Reichstag 1927 wurde es unter dem Vorwand des Schutzes der Jugend »vor Vagabundage« auch gegen Kindergruppen der Roten Jungpioniere eingesetzt. Es blieb nach 1933 in Kraft.

Es hat eine interessante Nachgeschichte. Zwar wurde es als NS-Gesetz 1947 von den Alliierten aufgehoben, 1953 dann gleichwohl unter Wilhelm Hoegner, jetzt bayerischer Innenminister, als »Landfahrerordnung« neu aufgegriffen. »Zigeuner« war durch »Landfahrer« ersetzt, ein sprachkorrektiver Kniff, um nach den NS-Verbrechen Vorwürfen zu entgehen, und »die auffälligste Veränderung«, wie der Historiker Gilad Margalit betont hat. Angewendet wurde das Gesetz wie zuvor auf die Fallgruppen von 1926. Mit seiner Weimarer Jahreszahl galt es als verfassungskonform. Nachdem der Versuch gescheitert war, daraus eine Bundeslandfahrerordnung zu machen, wurde das Gesetz 1970 auch in Bayern zurückgezogen, da es keine nichtsesshaften »Landfahrer« mehr gebe. Was es tatsächlich zu diesem Zeitpunkt in Westdeutschland kaum mehr gab, waren die der »Landfahrerordnung« dienlichen, lange weitergenutzten NS-Zigeunerpersonenakten. Sie waren in den 1960er Jahren in den Kripobehörden fast vollständig vernichtet worden, nachdem sie als Beweismittel gegen Kripo-Beamte in NS-Prozessen aufgetaucht ­waren.

Ausweiszwang und Lager

Im März 1927 ging es im Freistaat Preußen in einem Runderlass des Innenministers Albert Grzesinski (SPD) gegen »gewohnheits- oder gewerbsmäßige Verbrecher« darum, die weiterhin geltende »Anweisung« von 1906 flächendeckend passgenauer umsetzen zu können. Grzesinski verband das mit der reichsweiten Einführung des Fingerabdruckverfahrens für »alle nichtseßhaften Zigeuner und nach Zigeunerart umherziehenden Personen«. Im November folgte ein Ausweiszwang für die Minderheit, gleich ob reisend oder nicht. Die Ausweise – mit dem roten Vermerk »Zigeuner« auf der Vorderseite – entstanden in der Polizeiverwaltung auf Basis der vorliegenden Daten und wurden von der Kripo ausgehändigt. Zwischen dem 23. und dem 26. November 1927 wurden mehr als 8.000 Menschen in Preußen in dieser Weise erfasst.

Im Volksstaat Hessen hatte 1925 der Minister für Arbeit und Wirtschaft Georg Raab (SPD) in einem Kabinett aus SPD, Zentrum und DDP die Unterbehörden in Erinnerung an großherzogliche Erlasse verpflichtet, »Zigeuner« weiterhin zu überwachen und ihnen die Wandergewerbescheine möglichst zu entziehen. Die Überwachung lag beim Innenminister Otto von Brentano di Tremezzo (Zentrum). Einen Gesetzentwurf gegen »Zigeuner und Landfahrer« nach bayerischem Vorbild hatte 1928 der sozialdemokratische Innenminister Wilhelm Leuschner, Vorsitzenden des hessischen Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) und später NS-Verfolgter, vorgelegt. »Die Zigeunerplage« war für ihn demnach eine »dauernde Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«. Ihr sei eine »einheitliche Bekämpfung« entgegenzusetzen, denn »trotz energischen Vorgehens« sei »eine Ausrottung des Übels bisher nicht möglich« gewesen. Dazu gehöre »in erster Linie das Fingerabdruckverfahren (…) einschließlich der Kinder über sechs Jahren«.

Im März 1929 wurde im hessischen Landtag das »Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens (Zigeunergesetz)« verabschiedet. Der KPD-Abgeordnete Konrad von der Schmitt charakterisierte es als »ein ausgesprochenes Ausnahmegesetz«, das gegen den Wesensgehalt der Verfassung verstoße. Es galt nicht nur Angehörigen der Roma-Minderheit. Die beigeordnete »Zentralstelle« in Darmstadt bekämpfte »Zigeuner und Landfahrer«. Sie sammelte Personendaten, die auch an die »Zigeunerzentrale« in München gingen. Vor dem Wandergewerbeschein stand nun eine gründliche erkennungsdienstliche Erfassung.

Die KPD hatte einen Passus zur Ansiedlung von »Zigeunern« gefordert, der abgelehnt wurde, aber im Spätsommer 1929 wurde am äußersten Rand von Frankfurt »in einer weiten Entfernung von irgendwelcher menschlichen Behausung« von der Stadt für in der Stadt wohnende Roma ein »Zigeuner-Konzentrationslager« angelegt. Eine Schule dort wurde den Bewohnern ausdrücklich verweigert.

Die Frankfurter NSDAP im Stadtrat verband ihre Forderung nach Ausweisung aus Frankfurt mit einer Grundsatzerklärung: »Wir Nationalsozialisten proklamieren (…) die Ungleichheit der Menschen. Denn es ist nicht alles gleich, was Menschenantlitz trägt.« Widerspruch gegen diese Art Lager kam von der KPD. Sie sprach für einen Dialog: Man solle »für die Unterbringung der Zigeuner aus Menschlichkeitsgründen im Einvernehmen mit den Zigeunern« sorgen.

In seinem Gesamtüberblick zur Vereinbarkeit der deutschen Gesetze und Verordnungen gegen Roma jeder Herkunft und gegen die ihnen Zugeordneten mit dem geltenden Reichsrecht kam Werner K. Höhne 1929 zu dem Ergebnis, »dass in sämtlichen deutschen Ländern sowie den Hansestädten Hamburg und Lübeck besondere Maßnahmen gegen die Zigeuner« existierten. Sie widersprächen nicht immer, aber doch zumeist der Reichsverfassung.

Zu einem reichseinheitlichen »Zigeunergesetz« im Sinne des weiten Zigeunerbegriffs oder auch allein gegen Roma gerichtet, kam es nicht. Es blieb auf der Reichsebene bei dem Paragraphen 361 des StGB von 1871. Er ermöglichte die Bestrafung von Landstreichern, Bettlern, Arbeitsscheuen, Prostituierten und Glücksspielern. 1930 legte der Reformausschuss des Reichstags zur Landstreicherei einen neuen Paragraphenentwurf vor. Die DNVP brachte dabei einen Passus ein, der »hauptsächlich gegen Zigeuner« gerichtet war. Es ging ihr um »Personen (…), die, ohne ein redliches Gewerbe auszuüben, aus Arbeitsscheu oder aus Hang zu ungeordnetem Leben bandenmäßig im Land umherziehen.« Sozialdemokraten und Kommunisten hatten erfolglos die Streichung verlangt.

Flächendeckende Diskriminierung

Als Fazit zu Weimar lässt sich festhalten, dass die Mehrheitspolitik – ein Spektrum von antidemokratischen und antisemitischen Nationalisten über Wirtschafts- und Kulturliberale, den politischen Katholizismus bis zu Sozialdemokraten – die Übernahmen aus der Kaiserzeit perfektionierte. Der staatliche Regelungsaufwand war enorm angesichts der geringen Größe der Minderheit. Für 1933 wird sie auf 20.000 sich über das Reich verteilende Personen geschätzt, das sind bei einer Gesamtbevölkerung von mehr als 65 Millionen nicht mehr als 0,03 Prozent, von denen wiederum selbst unter den Bedingungen des Delikte produzierenden Sonderrechts nur ein kleiner Teil normativ auffällig war.

Man fragt sich, wie insofern überhaupt in den Medien, in der Politik und in den Behörden von einer »zunehmenden Zigeunerplage« geredet werden konnte. Es liegt nahe, davon auszugehen, dass diese Bevölkerungsgruppe als symbolisches Mittel zum Zweck des Wahlerfolgs in Jahren desolater ökonomischer und sozialer Verhältnisse mit Höchstzahlen der Verelendung und der Abwendung von den traditionellen Parteien und sonstigen Agenturen der Politik eingesetzt wurde. Dem die Weimarer Jahre prägenden Zweifel an der Rolle des Staats als Garant von Ordnung und Sicherheit, an seiner Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Machteliten, an seiner Kompetenz bei der Steuerung sozioökonomischer Prozesse und bei der Lösung von sozialen Fragen ließ sich die Botschaft an das Wahlpublikum entgegensetzen, dass die Bürger, die fortwährend nach dem stärkeren Staat riefen, ihn und Inhalte rechter Politik auch in der ihnen vertrauten politischen Mitte finden könnten.

Ulrich F. Opfermann ist Historiker. Er ist Mitglied der Gesellschaft für Antiziganismusforschung sowie im Verein Rom e. V. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 28. Februar 2024 über die bundesdeutsche (Nicht-)Aufarbeitung des Völkermords an den Sinti und Roma: »Kein genozidales Motiv«

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