Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 19.03.2025, Seite 12 / Thema
Ökologie

Leben, nur um zu sterben

Vorabdruck Immer mehr Tierleben und immer weniger Arten. Wie die Herrschaft des Kapitals die lebendige Natur ruiniert
Von Ulrich Ruschig
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Tod nach Plan und Entsorgung im industriellen Maßstab: 2020 wurden in Dänemark aus Angst vor Corona Millionen Nerze geschlachtet und in Gräben abgeladen

In diesen Tagen erscheint im Papyrossa-Verlag das Buch »Wie kapitalistische Herrschaft die lebendige Natur ruiniert – Artensterben, Massentierhaltung und die Vergiftung der Welt« des Chemikers und Philosophen Ulrich Ruschig. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung des Autors das von ihm selbst leicht gekürzte Vorwort. Das Buch kann bestellt werden unter www.papyrossa.de (jW)

Mehr und mehr gerät die lebendige Natur unter die Herrschaft des Kapitals. Es erfasst die Lebewesen in deren Innerstem und modelt sie um, damit sie für den Zweck der Vermehrung des abstrakten Reichtums passen. Sichtbare Folgen der Unterwerfung der lebendigen Natur sind die Monokulturen der agrarindustriellen Plantagen und die Massentierhaltung. Doch auch Lebewesen, die für die Nutzung durch das Kapital nicht taugen, können dem Sog der den Globus erobernden kapitalistischen Produktionsweise nicht entrinnen. Diese verändert einschneidend und in einem in der Geschichte der Menschheit bislang nicht gekannten Maße die Lebensbedingungen auf dem Planeten. Vor solchem Zugriff können die Lebewesen bis in die entlegensten Regionen und bis in die Tiefen der Meere nicht sicher sein. Das Artensterben und das Zusammenbrechen von Ökosystemen sind Auswirkungen des Vordringens der kapitalistischen Produktionsweise.

Beide Phänomene, die Massentierhaltung (und nicht minder: die Monokulturen der agrarindustriellen Plantagen) und das Artensterben, scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben, scheinen ohne jeden inneren Zusammenhang zu sein. Auf den ersten Blick betrachtet sind sie einander schlicht entgegengesetzt: Das eine Mal wird die Anzahl der Lebewesen einer Art in einem die natürlichen Dimensionen sprengenden Ausmaß riesenhaft erhöht; das andere Mal verringert sich die Anzahl der Lebewesen einer Art in einem das Überleben derselben gefährdenden Ausmaß. Beiden Veränderungen eignet ein Gemeinsames: Die Anzahl der Einzelexemplare einer Art wird wider deren Natur, wider deren arttypische Häufigkeit und wider deren natürliche Lebensbedingungen verändert. Ergo hängen beide Phänomene doch zusammen; sie sind auf eine nicht auf der Hand liegenden Weise miteinander »verwandt«. Im Allgemeinen verweist »Verwandtschaft« auf eine gemeinsame Abstammung: Beide Phänomene rühren von ein und derselben Ursache, nämlich von dem auf die lebendige Natur zugreifenden Kapital, das eine solch seltsame Verwandtschaft dieser von ihm hervorgebrachten Phänomene stiftet. Eine direkte Verknüpfung beider gibt es in der Sphäre der agrarindustriellen Monokulturen. Dort ist das Artensterben die unmittelbare Folge.

Solche Verwandtschaft, schaut man näher auf die Phänomene, wird durch einen ins Auge fallenden Wesenszug charakterisiert. Die Lebewesen, seien es diejenigen in den agrarindustriellen Massenkulturen und in den Massentierhaltungsanlagen, seien es die immer weniger werdenden, vereinzelt übrig bleibenden Einzelexemplare von zum Aussterben verurteilten Arten, sie alle sind dem Tode geweiht. Anrührend und befremdlich, jetzt noch arttypisch sich verhaltende Lebewesen zu beobachten und währenddessen gewahr zu werden, dass, wenn die gerade beobachteten Exemplare gestorben sein werden, die Art insgesamt ausgelöscht sein wird. Ein solcher Anblick ist nicht nur mit dem Wissen verknüpft, dass jetzt, wo einzelne Lebewesen noch leben, die Art keine Chance zum Überleben hat, sondern auch damit, dass solche Beobachtungen unwiederbringlich verlorengehen und die Erinnerungen an bestimmte Arten den Menschen peu à peu entgleiten werden. Die dadurch ausgelöste Wehmut verweist darauf, dass es zur Daseinsweise des Menschen wesentlich dazugehört, zusammen mit einer durch die Evolution hervorgebrachten Vielfalt der Arten zu leben. Dass ein Lebewesen stirbt, gehört zum Verlauf des Lebens in Arten. Dass jedoch die Art selbst stirbt – und der Begriff »Artensterben« verweist auf das in Gehalt und Tragweite unterschätzte Skandalon –, dies ist die Folge des Zugriffs der kapitalistischen Produktionsweise auf die lebendige Natur.

Kalkuliertes Leben

In den Massentierhaltungsanlagen (und entsprechend in den agrarindustriellen Plantagen) ist das Leben der Lebewesen selbst, als ein solches und für sich betrachtet, nichts wert. Dieses Leben (etwa das eines einzelnen Masthähnchens) wird auf sein von vornherein feststehendes Ende hin planvoll ausgerichtet und darauf, dieses Ende kostengünstig, möglichst schnell und gar durch Pharmadoping beschleunigt zu erreichen, weil nur die toten Tiere zählen – als die zu verkaufende Ware »Hähnchenbrust«, die Profit verspricht. In der auf die Vermehrung des Profits zielenden kapitalistischen Produktionsweise ist das Leben dieser Tiere dem Zweck, aus diesen Tieren zu versilbernde Waren zu machen, untergeordnet, was nur durch das Aufhören des Lebens, die Tötung der Tiere, realisiert werden kann. Mithin wird der vom Kapital organisierte Tod der Tiere zum Zweck des Lebens dieser Tiere.

Das Leben der Hähnchen von der Art Gallus domesticus wird, verglichen mit dem der Artform angemessenen (arttypischen) Leben, radikal umgewandelt – zu einem künstlichen, auf dem Reißbrett des die Rentabilität kalkulierenden entworfenen Leben. Die zu riesigen Zahlen vermehrten Tiere sind überhaupt nur noch unter den extremen Bedingungen der Massentierhaltung lebensfähig. Ihre Lebenszeit wird – wider die Natur – begrenzt. Würden die Hähnchen älter als 50 Tage werden, zerbrächen ihre Knochen unter der Last des widernatürlich angemästeten Fleisches. Das wie in einem Korsett zwangsweise durchgeregelte Leben dieser Hähnchen gleicht einem Ritt auf der Rasierklinge. Das Kapital testet aus, wie weit entfernt von einem arttypischen Leben und von arttypischen Lebensbedingungen ein Leben möglich ist, ohne dass das System kollabiert. Bei dieser Methode von »trial and error« sind Abstürze nicht ausgeschlossen. Solcherart »Spielen« mit dem ansichseienden Zweck des Lebens von Gallus domesticus bedeutet, stets am Abgrund hin zum Tode der Tiere und gar der Art herumzuexperimentieren.

Obendrein ist in der Massentierhaltung der Tod ständiger Begleiter, und zwar während und solange die allermeisten Tiere noch leben. Die Konkurrenz der Kapitale erzwingt, mit optimiertem Materialeinsatz immer mehr Tiere auf immer geringerer Fläche zu halten. Das stellt den Managern die anspruchsvolle Aufgabe, das Leben von 20.000 Tieren (Beispiel: Hähnchen) auf engstem Raum zu organisieren, also die auf den Mastzweck ausgerichtete, diesen optimierende Ernährung der Tiere, eine die Abläufe im Betrieb nicht störende Entsorgung von deren Ausscheidungen, die Belüftung, Beleuchtung und Temperaturregelung in einer überfüllten Halle.

Verglichen mit industriellen Produktionsanlagen (zum Beispiel von Autos) ist eine Fleischproduktionsanlage (der Rohprodukte für das Endprodukt, die abgepackten Hähnchenbrüste und Hähnchenkeulen) prinzipiell instabil, weil die Grundlage für die überwiegend automatisierten Produktionsabläufe Lebewesen sind und weil Lebewesen ein prinzipiell nicht standardisierbares Substrat darstellen, anders als etwa Bleche in der industriellen Produktion. Deswegen erweisen sich die technisch hochkomplexen Massentierhaltungsanlagen als grundsätzlich störanfällig. Einige Tiere, die weniger robust sind als der die Standardabläufe dirigierende Durchschnitt, halten die harten Fleischproduktionsbedingungen nicht durch und verenden vorzeitig, bevor sie den geplanten Schlachttermin erreichen. Kann deren Verenden so arrangiert werden, dass es den Gesamtablauf nicht stört, entsteht für die Kalkulation lediglich das bilanztechnische Problem, die verendeten Tiere als Ausschuss, der freilich im Rahmen bleiben soll, einzurechnen.

Eingeplanter Tod

Ein gravierenderes Problem bereitet der durch das Lebewesensein bedingte Umstand, dass, wenn sehr viele Tiere bei recht geringen Abständen voneinander zusammengepfercht werden, die Infektionsgefahr unter ihnen sprunghaft steigt. Erkrankungen aufgrund von Bakterien- und Virenbefall grassieren unter den fernab ihrer natürlichen Lebensbedingungen gehaltenen Tieren. Auch dies zeigt an, dass, wenn Tierhaltung in einem kapitalistischer Rentabilität geschuldeten Maßstab, der das arttypische Verhalten der Tiere ignoriert, betrieben wird, die technisch-komplexen Anlagen prinzipiell nicht störungsfrei funktionieren können, weil die Grundlage für die technischen Abläufe Lebewesen sind, die nicht normiert werden können und die ein »untechnisches«, technischer Funktionalisierung widerstreitendes Element enthalten. Das Kapital versucht, diese »Störungen« mit immer avancierteren technischen Mitteln zu beseitigen oder zumindest gering, die Abläufe nicht behindernd, zu halten. Weiterentwickelte Tierpharmaka werden kontinuierlich, bei Bedarf auch höher dosiert, eingesetzt – unter Anwendung der Methode von »trial and error«.

Zuweilen kollabieren die Systeme, was kein zufälliges Unglück, sondern systemnotwendig ist, weil der kapitalistische, an Vermehrung des abstrakten Werts orientierte Zugriff auf die konkreten, jeweils besonderen und sehr spezifischen Artformen der Lebewesen erfolgt und dabei diese Artformen sukzessive ramponiert. Dann müssen auf einmal 20.000 Hühner, 30.000 Puten und 40.000 Nerze getötet werden, »gekeult« oder »notgeschlachtet«, wie die Manager sich ausdrücken. Ähnliches, nämlich dass der Tod ständiger, nicht abzuschüttelnder Begleiter des funktionierenden Betriebs ist, gilt für die Plantagen von Monokulturen im agrarindustriellen Sektor. Pflanzen, die stören, werden als »Unkraut« vernichtet. Pilze und Insekten werden mit Fungiziden und Insektiziden abgetötet, was, da es ein blendendes Geschäft für die Pharmaindustrie ist, noch effektiviert wird. Und die Vögel, ansonsten zusammen lebend mit Pflanzen und Insekten in intakten Ökosystemen, gibt es nicht mehr, weil das kapitalistische Wirtschaften deren Lebensgrundlagen dadurch massiv beeinträchtigt, wenn nicht gar ruiniert, dass es auf den agrarischen Flächen die profitable Ausweitung der Produktion von »Nutzpflanzen« forciert.

Die kapitalistische Unterwerfung der lebendigen Natur verknüpft das Leben eines Lebewesens mit dem Tod anderer, unter solchen Bedingungen »störender« Lebewesen. Durchgehend herrscht in der Massentierhaltung und in den agrarindustriellen Plantagen das bei Lichte besehen paradoxe Prinzip: Der Zweck des Lebens eines Lebewesens ist dessen Tod. Paradox ist dieses Prinzip, weil auf der einen Seite das Kapital das Leben bestimmter Lebewesen in historisch ungekanntem Ausmaße befeuert – mit der Ausweitung der Zahlen der Einzelexemplare, mit dem Pharmadoping – und weil auf der anderen Seite das Kapital mit der Tötung dieses so massenhaft erzeugten Lebens seine Produktivität erhöht. Wie dieses Paradoxon arrangiert und profitabel in Szene gesetzt werden kann, das ist die Aufgabe der kapitalistischen Manager.

Wie ein Vampir

Wenn nun der Zweck des Kapitals, das Nutzung und Unterwerfung der Lebewesen vorantreibt, für das Leben der gepeinigten »Kreaturen«, für deren Lebensbedingungen und für die Arten und Ökosysteme insgesamt bedeutet, dass er diesen Lebewesen zusammen mit der »Ausweitung« ihres Lebens zugleich deren Tod und zudem den Tod der ideellen Artformen bringt, dann muss in jenem Zweck selbst eine Anlage zu dem vorhanden sein, was er bewirkt. Folglich steckt in dem Kapitalverhältnis, konstituiert durch den Zweck, akkumulierbaren Mehrwert zu produzieren, ein Prinzip, das in den benutzten Lebewesen auch als ein den Tod stiftendes Prinzip wirksam ist, und zwar steckt es sowohl in dem Verhältnis des Kapitals zur lebendigen Arbeit als auch in dem Verhältnis des Kapitals zur lebendigen Natur.

Was ist nun der systematische Grund dafür, dass das Kapital einen Antrieb zu haben scheint, den von ihm Unterworfenen, der lebendigen Natur und der lebendigen Arbeit, den Tod zu bringen, so als ob es einen tödlichen Keim in sich berge, der alles, was in Kontakt mit ihm gerät, ansteckt? Mit dem Begriff des Werts als geronnener abstrakter Arbeit ist gesetzt, dass von jeder konkreten Arbeit, von jedem konkreten Gebrauchswert und von jedem konkreten Zweck abstrahiert wird. Die kapitalistische Produktionsweise macht die Herrschaft der abstrakten Arbeit (des Werts) über die konkrete, lebendige Arbeit gesellschaftlich wirklich. Diese Herrschaft über die lebendige Arbeit erzeugt ein ähnliches Paradoxon wie die Herrschaft über die lebendige Natur. Auf der einen Seite hat das Kapital das Interesse, das Leben der benutzten Arbeiter soweit zu gewährleisten, dass deren weitere Nutzung nicht in Frage gestellt wird, und insoweit auch zu befördern. Auf der anderen Seite gilt das Leben der Arbeiter nicht als ein solches und als ein für sich zu achtendes. Mittels der Produktion des relativen Mehrwerts erfolgt vielmehr der ständige Angriff auf dieses Leben und das Experimentieren via »trial and error«, wieviel die Gesundheit der Arbeiter auszuhalten vermag, ohne zu kollabieren.

Die Herrschaft des Kapitals über den Arbeiter charakterisiert Marx mit einer Metapher: Das Kapital sauge den Arbeiter aus wie ein Vampir sein Opfer. Die abstrakte Arbeit (der sich verwertende Wert, das Kapital) belebe sich »vampyrmäßig« durch das Einsaugen lebendiger Arbeit, wodurch sie, die abstrakte Arbeit, sich überhaupt nur am Lebendigsein erhalten könne. In der Metaphorik steht das ausgesaugte Blut für den Mehrwert, durch dessen Akkumulation das Kapital, das zunächst tote, vergegenständlichte Arbeit ist, zum doch recht agilen Leben befähigt wird. Solch »vampyrmäßige« Benutzung der lebendigen Arbeit schädige diese bis hin zu deren kurz- oder mittelfristigen Tod. Für die zur Herrschaft des Kapitals über die lebendige Arbeit analoge Herrschaft über die lebendige Natur lässt sich entsprechend formulieren: Das landwirtschaftliche Kapital belebt sich »vampyrmäßig« durch die Tötung von (allein in Deutschland) 668 Millionen Hühnern und Puten pro Jahr (im Jahre 2021), kann sich überhaupt nur so am Lebendigsein erhalten und lebt je mehr und je besser, desto mehr Geflügel es tötet.

Wie das Tier, so der Arbeiter

Warum nur ist die Lage für die lebendige Natur so düster, so dramatisch? Das Prinzip des kapitalistischen Produzierens trifft, wenn es sich die Lebewesen unterordnet, um diese für die Mehrwertproduktion sich zurechtzulegen, auf ein Moment des Eidetischen in diesen Lebewesen. Dieses Auftreffen erweist sich als eine Kollision zum Nachteil, mehr noch zum Schaden für die Lebewesen. Denn die beiden miteinander kollidierenden Seiten, der abstrakte Zweck der Wertvermehrung auf der einen und die konkrete, jeweils besondere ansichseiende Zweckmäßigkeit auf der anderen Seite, stehen in dem Verhältnis des Widerspruchs. Dieser Widerspruch, mit der bürgerlichen Gesellschaft in die Welt gesetzt, ist nicht auflösbar, wird gleichwohl vom Kapital profitabel genutzt, was ihn wiederum befeuert und zu fortschreitendem Prozessieren veranlasst. In jener Kollision behält der abstrakte Zweck, der die bürgerliche Gesellschaft beherrschende Zweck, die Oberhand; die Kosten der Kollision tragen die Lebewesen – ihre Artformen werden sukzessive ramponiert oder gar zerstört. Die Lebewesen können, wenn sie in der bürgerlichen Gesellschaft leben, dieser Kollision nicht aus dem Wege gehen, ob sie vom Kapital benutzt oder ob sie nicht benutzt werden. Dass sie so, wie es für ihre Art typisch ist, einfach leben könnten, das gestattet die Herrschaft des Kapitals in keinem Falle. Ihnen droht stets die Tötung durch die Gewalt der Eigentümer und durch die Macht der sie zuschanden machenden Lebensbedingungen.

Der Widerspruch zwischen dem Kapital und der lebendigen Natur ähnelt dem zwischen dem Kapital und der lebendigen Arbeit. Die Ähnlichkeit lässt eine Analogie vermuten; einer Analogie muss derselbe Logos zugrunde liegen. So kommen die vom Kapital unterworfenen Arbeiter darauf, dass ihnen und den vom Kapital unterworfenen Lebewesen etwas gemeinsam ist, nämlich das Beherrschtwerden durch die Macht der abstrakten Arbeit. Doch nicht nur in der unterwerfenden Instanz, dem Kapital, liegt das Gemeinsame, sondern auch darin, dass diese Instanz die Unterworfenen, die Arbeiter und die lebendige Natur, zurichtet, und darin, warum sie das tut. Ausgehend von der Erfahrung des Mitleidens, des Mitfühlens mit der vom Kapital gepeinigten »Kreatur«, werden die unterworfenen Arbeiter gewahr, dass es zur Daseinsweise des Menschen gehört, die Lebewesen als eidetisch konstituiert zu begreifen, mitnichten jedoch als seelenlose Ansammlungen von Molekülen.

Es ist gerade diese eidetische Konstitution, auf welche die »vampyrmäßige« Benutzung der Lebewesen zielt und welche letztere für das Kapital so attraktiv macht. Analoges gilt – cum grano salis – für die lebendige Arbeit. In der Folge wird es den Arbeitern unmöglich sein, gegen die Lebewesen die Partei des Kapitals zu ergreifen und eines Sinnes mit dem Kapital diese Lebewesen als Material, nach Gutdünken verfügbar für willkürlich gesetzte Zwecke, aufzufassen und dementsprechend zu behandeln. Im Gegenteil, aus dem Begreifen der Analogie entspringt die Einsicht, dass der Kampf der Arbeiter um ihre Befreiung von der Kapitalherrschaft den Kampf um die Befreiung der Natur von dieser Herrschaft einschließen muss. Beide Kämpfe sind folglich zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Nihilistische Sackgasse

Bürgerliche Philosophie, so steht zu vermuten, hat einen Anteil daran, was die die bürgerliche Gesellschaft prägende kapitalistische Produktionsweise, wenn sie die lebendige Natur für deren profitable Nutzung unterwirft, bei den Lebewesen, den Arten und den Ökosystemen anrichtet. Doch was genau heißt das, »einen Anteil haben«? Um dies zu beantworten, werden exemplarisch Texte von Descartes, Spinoza und Fichte zum Verhältnis von »Mensch« und »Kreatur« herangezogen. Es ist erstaunlich, wenn nicht erschütternd, wie inwendig »der Anteil« der Philosophen an der Unterwerfung der lebendigen Natur ist. Diese Texte sind bitterernst zu nehmen.

Descartes und Spinoza, die beide im 17. Jahrhundert lebten, hatten keine Ahnung vom Kapitalismus; Fichte, der anderthalb Jahrhunderte später lebte, hätte sich über die zu seiner Zeit in England rapide sich ausbreitende kapitalistische Produktionsweise kundig machen können, tat es aber nicht und verstand sie ebenso wenig wie seine idealistischen Vorgänger. Doch für alle drei gilt, dass sie, hochsensibel für den aufkommenden bürgerlichen Geist der Epoche, diesen, wie sie vermeinten, als Strom des Fortschreitens der Menschheit kundtaten und hochgestimmt propagierten. So kam es dazu, dass sie, mit diesem Strom schwimmend, innerste Motive für das, was die kapitalistische Produktionsweise mit den Lebewesen anrichtet, freilegten und bereits einen Begriff für die Unterwerfung der lebendigen Natur formulierten und wie Fichte gar glaubten, einen solchen lege artis abgeleitet zu haben, obschon sie definitiv keinen Begriff des Kapitalismus hatten, mithin nicht wussten, was die reelle Subsumtion der lebendigen Natur in der Konsequenz bedeutet: Artensterben und Massentierhaltung.

Erstaunlich ist diese antizipierende Auslotung des Geistes einer Epoche durchaus, vor allem, wenn man sich überlegt, wie überschießend die Darstellungen der Philosophen sind, überschießend die kapitalistische Wirklichkeit ihrer Zeit und überschießend ihre Kenntnisse der Naturwissenschaften ihrer Zeit. Descartes: Die Tiere sind Maschinen, seelenlos und bloßes Material für den Menschen. Dieser allein ist das Subjekt, das ohne Rücksicht auf die ihm prinzipiell äußerlichen Lebewesen seine Zwecke setzt und gegen sie durchsetzt! Spinoza: Die »gesunde Vernunft« weist den »eitlen Aberglauben« (zum Beispiel die Vorstellung von ideellen Artformen; U.R.) und die »weibische Barmherzigkeit« von sich – gerade darin liegt ihre »Tugend« – und dekretiert, Lebewesen »nach Belieben zu gebrauchen und so zu behandeln, wie es uns am besten paßt«! Fichte: Das Leben der Tiere als ein solches zu achten, ist im Staate kein möglicher Zweck. Nur der Tod der Tiere ist der Zweck des Lebens der Tiere!

Und so sind jene idealistischen Philosophen ganz und gar nicht verstaubt, noch weniger museal und mitnichten praxisfern. Unter der Tarnkappe des Idealismus tilgen sie gründlichst jegliche Reminiszenz an metaphysisch gegründete, ideelle Momente und erledigen dabei, auf der Seite der »Freiheit« sich wähnend, eine moralisch-praktische und politisch höchst bedeutsame Spezialaufgabe: die lebendige Natur für die kapitalistische Verwertung zurechtzulegen, mithin sie in einem theoretisch-grundsätzlichen Sinne zurechtzustutzen und Lebewesen so hinzustellen, als seien sie bloßes Material, a priori frei von ansichseienden Zwecken und folglich passives Objekt für das Agieren eines gar nicht hoch genug einzuschätzenden und zu rühmenden abstrakten Zwecks.

Die Idealisten Descartes, Spinoza und Fichte bereiten dem Positivismus den Weg. Sie nehmen den Lebewesen das, was diese wesentlich auszeichnet, das ihre ansichseiende Zweckmäßigkeit fassende eidetische Moment und sind dabei sich sicher, an der Front der Aufklärung und des Fortschritts zu marschieren. Sie vollenden, was mit dem Nominalismus begann, nämlich den Prozess der Entsubstantialisierung der Artformen. Sie rechtfertigen diesen Prozess, indem sie als dessen Ziel einen ideell überhöhten Weltgrund formulieren und diesen gar abzuleiten wähnen. Zu begreifen, dass dieser Prozess in Wahrheit in die Sackgasse nihilistischen Denkens samt der Verachtung der Einzelwesen gerät, ist von überragender Bedeutung. Ihm widerstreitet der biologische Artbegriff, der auf ein eidetisches, letztlich metaphysisch gegründetes Moment verweist. Ein solches Moment, das nicht in den von Physik und Chemie erkennbaren empirischen Sachverhalten aufgeht und das sich als konstitutiv für die vorfindlichen Lebewesen herausstellt, für nichtig zu erklären, dies kennzeichnet den zeitgenössischen Positivismus, der als die zur kapitalistischen Produktionsweise passende Weltauffassung entwickelt wurde. Der Ablehnung metaphysisch verorteter Begriffe im Felde der Philosophie korrespondiert die Vernichtung der Lebewesen und deren artspezifischer Lebensweise in der kapitalistischen Wirklichkeit. »Die nihilistischen Folgen einer solchen Ablehnung widerlegen die moderne Vorstellung von der straflosen Brandschatzung des Gegebenen. Es ist weder wesenlos noch wehrlos. Ob das erkannt wird oder nicht, ist von höchster Wichtigkeit nicht nur für das Schicksal der Philosophie, sondern hat intensivste Bedeutung auch und zuvörderst für das Schicksal der Menschheit.« (Karl Heinz Haag)

Ulrich Ruschig: Wie kapitalistische Herrschaft die lebendige Natur ruiniert – Artensterben, Massentierhaltung und die Vergiftung der Welt. Papyrossa-Verlag, Köln 2025, 176 Seiten, 20 Euro

Ulrich Ruschig schrieb an dieser Stelle zuletzt am 17. Dezember 2024 über Rechtfertigungen heutiger Kriegsvorbereitung und die Aktualität von Immanuel Kants »Zum ewigen Frieden«: »Moralisieren vs. Moral«.

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (26. März 2025 um 16:48 Uhr)
    Der Kapitalismus – völlig unabhängig davon, unter welchem nominalen Label agierend – basiert unabdingbar auf der permanenten und zunehmenden Dominanz der »Existenzweise des Habens« über die »Existenzweise des Seins« (Erich Fromm), der Absorption allen Lebens und Transformation zu toter Materie. Der Kapitalismus, als die vom Menschen erfundene feindlichste Existenzweise wider alles Leben, vermag nur zu bestehen durch die gewaltsame Aneignung der Energie aus allgegenwärtig und irreversibel zerstörten Lebens. Der »Motor« des Kapitalismus ist der Tod, der sich nur so lange »dreht«, wie es irgendwo noch etwas profitabel zu töten gibt. (Vgl. Erich Fromm (1976): Haben oder Sein)
  • Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (21. März 2025 um 02:38 Uhr)
    Wie das ganze in der Praxis hinter den nicht ohne Grund oftmals hohen, streng bewachten Mauern der industriellen, kapitalistischen Sklavenhaltungs-KZ und Massentötungsfabriken aussieht, kann und sollte sich mensch unbedingt z. B. via der Doku »Dominion« (Herrschaft) ansehen, zu finden auf Youtube und Co. Denn nur dadurch begreift sich erst, was mit Ausbeutung von Natur und Mensch gemeint ist, was das für qualitative und quantitative Dimensionen hat. Der Autor stellt in dem Vorwort exzellent den Zusammenhang her zur kapitalistischen – hier da es um leidensfähige Entitäten geht, bewusst in Anführungszeichen gesetzt – »Produktionsweise«. Was aber fehlt, ist die psychologische Feedback-Schleife. Vermutlich weil »Psyche/Seele« nach wie vor fälschlicherweise mit idealistisch-philosophischer Anschauung verbunden wird, obwohl (nicht nur) die menschliche Psyche in der Realität rein materialistisch ist: Jede einzelne Neurone im Hirn feuert aufgrund fester Naturgesetze, da regnet nicht magisch dreigefalteter »Geist« vom Himmel oder ähnlicher Schwachsinn. Ding ist aber, dass das Input eben mit dem Output zwingend zusammen hängt. D. h. z. B. dass es unmöglich sein wird, eine tatsächlich sozialistische und sukzessive kommunistische Gesellschaft zu bauen, solange wie aktuell etwa 98 Prozent der Leute kein Problem damit haben, ohne Not(wendigkeit) direkt oder indirekt Sklavenleichen oder ihre Menstruationsausscheidungen (aka Eier) zu fressen, also jährlichen, zig-milliardenfachen Massenmord zu begehen, weil sie das »Kapital« dafür haben, die Macht, selber andere, schwächere, auszubeuten. Mit solchen Ausbeutern lässt sich keine Freiheit für alle auf Basis der Vernunft (aka Kommunismus) schaffen. Daher hier ein sehr guter Anfang in der jw mit diesem Buchvorwort, diesen eklatanten Missstand anzugehen. Leider nur ein schwacher Kontrast zu der Vielzahl an kontraproduktiven, reaktionären, weil speziesistischen, Artikeln. Aber die Spezies Mensch hat ja die Fähigkeit dazuzulernen … angeblich.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (20. März 2025 um 09:37 Uhr)
    Leider thematisiert dieser Artikel nicht, wie Massentierhaltung bzw. Monokulturen in ehemaligen (z. B. DDR) und jetzigen (z. B. China) sozialistischen Staaten bewertet wird. Der Mensch wurde nicht mehr ausgebeutet, die Natur weiterhin. China z. B. importiert jedes Jahr – laut jW – immer größere Mengen an Schweinefleisch aus Massentierhaltung, gleiches gilt für Milch(produkte). Zu oft wird nicht betrachtet, wie sich hinter (scheinbar) sozialistischen Vorgängen bzw. Verhaltensweisen urkapitalistische Mechanismen verbergen. Das führt in die ideologisch-politische Sackgasse. Es gibt keine »sozialistische« Massentierhaltung, das beweist der Autor selber!