Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 20.03.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Antiimperialismus

»Der Sozialismus hat eine Schlacht verloren, nicht den Krieg«

Der Kapitalismus kann die sozialen und die Umweltprobleme auf dem Planeten nicht lösen. Und er birgt Krieg als scheinbare Lösung für Krisen in sich. Ein Gespräch mit Marcelo Colussi
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Chiapas, Mexiko, 31. Dezember 2023: Zapatisten feiern den 30. Jahrestag des Aufstandes ihrer Guerilla

Was war das Motiv für Ihr im vergangenen Jahr veröffentlichtes Buch »Vamos por el Socialismo« (Vorwärts zum Sozialismus)?

Es soll deutlich machen: Wir haben mit der Konterrevolution in den sozialistischen Ländern Europas eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg. Und es soll daran erinnern, dass sozialistische Revolutionen möglich sind. Das zeigten die Beispiele in Russland, China, Vietnam, der Demokratischen Volksrepublik Korea, Kuba und Nicaragua.

Nach der Niederlage von 1989 und der Öffnung Chinas zum Markt verkündeten die Ideologen des Neoliberalismus das Ende der Geschichte, es gebe nur noch die Wahl zwischen Kapitalismus und Kapitalismus. Leider ist es der Rechten weltweit gelungen, den Diskurs so zu bestimmen, dass jeder, der heute noch Begriffe wie Revolution, Klassenkampf oder Ausbeutung in den Mund nimmt, scheinbar ins Museum oder zu den Dinosauriern gehört. Da will das Buch gegensteuern.

Warum sind nach Ihrer Auffassung nicht nur Sozialismus, sondern wie es im Buch heißt, auch eine »kommunistische Welt« weiterhin notwendig?

Das ergibt sich einfach aus dem Zustand des Kapitalismus. Nach UN-Zahlen haben nur 15 Prozent der Weltbevölkerung vollständigen Zugang zu einer Basisversorgung. Es gibt eine Überproduktion an Nahrungsmitteln, doch täglich sterben 20.000 Menschen an den Folgen von Hunger. Täglich verlassen mindestens 3.000 Menschen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ihre Heimat und versuchen, in den reichen Zentren des Nordens Zuflucht zu finden. Der Kapitalismus kann die sozialen und die Umweltprobleme auf dem Planeten nicht lösen. Die Aufteilung der Welt in die industriell entwickelten Länder Europas und Nordamerikas und die Länder des Südens als deren Kolonien und Lieferanten von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften entspricht seiner Natur. Allerdings führt die neoliberale Version des Kapitalismus, die ihren Anfang 1973 in der Diktatur von Augusto Pinochet in Chile nahm, auch im globalen Norden zu größerer Ungleichheit, Marginalisierung und Privatisierungen.

Außerdem birgt Kapitalismus immer Krieg als scheinbare Lösung für kapitalistische Krisen in sich: gegenwärtig der NATO-Krieg gegen Russland in der Ukraine und der im Nahen Osten. Auf beide schaut die Welt, aber es gibt global 54 kleine und große Kriege. Sie bedeuten Maximalprofite für die Waffenkonzerne. Die Rüstungsindustrie macht pro Sekunde einen Umsatz von 70.000 US-Dollar. Und die Gefahr eines dritten Weltkrieges oder einer atomar geführten Auseinandersetzung wächst weiter.

Ist das Bild vom gutgenährten Fabrikbesitzer auf der einen Seite und vom hungernden Arbeiter auf der anderen nicht überholt?

Nein. Die grundsätzlichen Mechanismen, die im 19. Jahrhundert zur Entstehung der sozialistischen Arbeiterbewegung in Europa führten, sind im wesentlichen so geblieben, wie sie sind. Das Privateigentum an Produktionsmitteln, an Grund und Boden sowie die Kontrolle der Technologien durch wenige Eigentümer und durch das Finanzkapital – daran hat sich nichts Entscheidendes geändert. Richtig ist, dass durch die Entwicklung des Kapitalismus Teile der Arbeiterklasse vor allem in den entwickelten Ländern ökonomisch bessergestellt wurden. Die Einkommensunterschiede zwischen einem Arbeiter im Norden und einem im Süden der Welt sind sehr groß.

Oft heißt es, im Sozialismus sei es nicht besser gewesen. Wie sehen Sie das?

In den sozialistischen Ländern waren Grundbedürfnisse wie Bildung, Gesundheit, ein Dach über dem Kopf und Arbeit im wesentlichen gesichert und Grundrechte. Es gab in allen sozialistischen Ländern große Erfolge gegen Unterernährung und Analphabetismus – auch zum Beispiel in Nicaragua nach der Revolution von 1979.

Was führte dann zum Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Europa?

Die Geschehnisse zwischen 1989 und 1991 waren in meinen Augen ein erfolgreicher Putsch des Imperialismus und westlicher Geheimdienste wie der CIA, bei dem sie sich solcher Personen wie Boris Jelzin bedienten. Es gab innere Faktoren wie eine starke Bürokratie und eine Bürokratenklasse, die weniger geleistet hat als die arbeitende Bevölkerung, aber besser lebte. Das hat die Entwicklung beschleunigt. Die Menschen in der Sowjetunion sind nicht auf die Straße gegangen, um die Errungenschaften des Sozialismus zu verteidigen.

Nicht vergessen werden darf aber die Aggression von außen. Alle sozialistischen Staaten lebten in einem Zustand der permanenten Bedrohung, in einer Art Kriegszustand. Der faschistische Überfall auf die Sowjetunion 1941 war der schlimme Höhepunkt. Ähnliches passierte in China, oder denken Sie an die monströse Blockade gegen Kuba seit mehr als 60 Jahren und die Aggression gegen das sozialistische, sandinistische Nicaragua in den 1980er Jahren. Oder die Aggression gegen Vietnam, mit 400.000 Tonnen Napalm und über einer Million Toten.

Sie erwähnen in Ihrem Buch mehrfach, dass die Volksrepublik China seit 1990 auf Marktöffnung setzt. Ist sie heute kein sozialistisches Land mehr?

Ich widerspreche der Behauptung, dass die ökonomische und technische Entwicklung Chinas und die Bekämpfung der Armut in den letzten Jahrzehnten Resultat der Öffnung zum Kapitalismus oder gar kapitalistischer Methoden sind. Sie sind Resultat des Weges, den die Volksrepublik seit 1949 geht.

In Guatemala lebt die Mehrheit der Bevölkerung in Armut und extremer Armut, aber Sozialismus ist für die Mehrheit der Menschen sicher keine Alternative. Mit wem wollen Sie hier zum Sozialismus kommen?

Das gilt nicht nur für Guatemala. Das Problem ist, dass nicht nur die sozialistische Bewegung, sondern auch die Arbeiter- und Bauernbewegungen seit 1989 ohne einen positiven Bezugspunkt dastehen. Zu analysieren ist, welche Versuche es bisher in Lateinamerika gab, wie zum Beispiel durch Wahlen in Guatemala mit Jacobo Árbenz in den 1950er und in Chile mit Salvador Allende in den 1970er Jahren. Beide wurden weggeputscht, obwohl zumindest der erste nicht einmal sozialistisch war. Bewaffnete Versuche waren in Kuba und Nicaragua erfolgreich, in Guatemala und El Salvador nahe am Sieg. Interessante Modelle sind heute die »BRICS plus«-Staaten, obwohl sie keine sozialistischen Ziele verfolgen, sondern sich eher zusammenfinden in der Ablehnung des Kapitalismus westlicher Prägung.

Nach dem Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela 1999 kamen mehrere fortschrittliche Regierungen in Lateinamerika an die Macht. Wie analysieren Sie heute die Lage?

Mitten im Meer des Neoliberalismus gewann der nationalistisch eingestellte Militär Hugo Chávez 1999 die Wahlen. Er war zunächst nicht Antiimperialist, sondern gegen Korruption, entwickelte sich aber nach links. Die Bolivarische Revolution war ein sozialer Prozess von oben nach unten.

Die fortschrittlichen Regierungen in Bolivien, Ecuador, Brasilien, Argentinien, jetzt in Honduras, Kolumbien, Mexiko und anderen Staaten haben gemeinsam, dass es nirgendwo einen Umsturz der Eigentumsverhältnisse gab, keine sozialistische Revolution, keine Agrarreformen und Verstaatlichungen im großen Stil. Multinationale Unternehmen können weiter ausbeuten. Im Falle Venezuelas gelang es nicht, die Abhängigkeit vom Erdölexport zu vermindern. Sozialismus ist dort also eher in Anführungszeichen zu sehen, dennoch machten diese Entwicklungen Hoffnung. Es konnten soziale Verbesserungen durchgesetzt werden. Weil diese Länder aber die bürgerlich-kapitalistischen Spielregeln mitspielen, sind ihnen Grenzen gesetzt. Vielfach verkehrte sich alles wieder ins Gegenteil.

Sie widmen in Ihrem Buch den Erfahrungen Kubas und der zapatistischen Bewegung in Mexiko jeweils ein eigenes Kapitel. Welche sozialen Erfolge und welche Probleme hat die Kubanische Revolution?

In Kuba gibt es seit der Revolution keinen Hunger, keine Unterernährung, keine Kinderarbeit, alle Kinder gehen in die Schule, es gibt keine Straßenkinder. Ich zitiere in meinem Buch Fidel Castro, der sagte, in dieser Welt lebten 200 Millionen Kinder auf der Straße, keines von ihnen lebe in Kuba. Es gibt jetzt eine schwierige wirtschaftliche Lage, und es ist für viele Kubaner nicht einfach, das tägliche Leben zu meistern, aber das ist kein Vergleich zum Beispiel zur Situation in Guatemala, wo die Hälfte der Kinder chronisch unterernährt ist. Hinzu kommen die Milliardenschäden durch die US-Blockade.

Probleme gibt es wie in allen anderen sozialistischen Ländern: Machismo, Rassismus, Autoritarismus, das Weiterleben kapitalistischer Ideen und Verhaltensweisen, Korruption und Bürokratie. Kuba ist nicht perfekt, aber es geht seinen Weg. Hier greift aber auch täglich die Propagandamaschine des Kapitalismus, es gibt Auswanderung, aber die Zahlen werden übertrieben.

Was fasziniert Sie am Zapatismus?

Die Basisdemokratie und die direkte Volksmacht, die die Zapatistas in ihren Gemeinden durchgesetzt haben. Das ist etwas völlig anderes als die verlogene Demokratie, die uns der Kapitalismus als einzig wahre verkaufen will. Die Zapatistas standen aber von Anfang an stark unter dem Druck der Armee und in letzter Zeit unter dem von Drogenbanden.

Wie beurteilen Sie den Zustand der antikapitalistischen Bewegungen?

Viele Bewegungen sehe ich in der Krise. Es gibt zugleich aber Ansätze der Reorganisierung und des Fortschreitens sozialistischer Bewegungen. Es ist immer gut und richtig, sich in seiner täglichen Politik an den Klassikern der Arbeiterbewegung zu orientieren, aber ein paar Dinge waren im 19. Jahrhundert noch nicht so klar. Machismo, Patriarchat und Rassismus sollten wir stärker bekämpfen und thematisieren, als es die Arbeiterbewegung in der Vergangenheit getan hat. Die Erfahrungen in den sozialistischen Ländern haben gezeigt, dass das nicht per Gesetz überwunden werden kann. Ein anderer Aspekt ist die Frage des Umweltschutzes und der Kampf gegen den Klimawandel. Wobei letzteres ein gewaltiger Euphemismus ist, es handelt sich um eine Klimakatastrophe. Der Kapitalismus kann sie nicht regeln, und der Sozialismus kann sie nicht automatisch bewältigen. Da sind konkrete Maßnahmen und Anstrengungen nötig.

Interview: Thorben Austen, Quetzaltenango/Guatemala

Marcelo Colussi (geb. 1956 in Rosario, Argentinien) studierte in seiner Heimat Psychologie und Philosophie. Er lebte in Nicaragua während der sandinistischen Revolution ab 1979, in El Salvador und in Venezuela, wohnt und arbeitet heute in Guatemala. Er schreibt regelmäßig in Onlinemedien wie Prensa Latina de Cuba oder Rebelión . Colussi hat mehrere Bücher zu politischen Themen sowie Erzählungen veröffentlicht. 2024 erschien in Mexiko sein Band »Vamos por Socialismo« (Vorwärts zum Sozialismus). Das Buch ist vollständig auf spanisch im Internet zu lesen

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