Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 20.03.2025, Seite 16 / Sport
Lucha Canaria

Integration auf der Matte

Lucha Canaria, der kanarische Ringkampf, ist nicht nur Ausdruck der Tradition, sondern hilft auch im Alltag migrantischer Jugendlicher
Von Frederic Schnatterer
Fotos der Vereinshistorie.jpg
Die Ahnentafel des CL Guanarteme

Eine flüchtige Begrüßung per Handschlag, dann greift die Linke ans aufgekrempelte Hosenbein des Gegners. Als der Pfiff des Unparteiischen ertönt, folgt die Rechte ans Shirt des Gegenübers, sucht ein Stück des ultraresistenten Stoffs, packt zu. Die Oberkörper gebückt, Schulter an Schulter, beginnt der Kampf, zunächst barfuß tänzelnd, bis Souleymane Ndiaye seinen Gegner wie aus dem Nichts mit einer eleganten Beinbewegung auf die mit einer Plastikplane ausgelegte Matte wirft. Punkt für den Club de Luchas Guanarteme, der heute in der zweiten gesamtkanarischen Liga gegen Unión de Antigua von der Insel Fuerteventura antritt.

Ndiaye kommt aus dem Senegal. Seit etwas mehr als einem Jahr kämpft der heute 18jährige für Guanarteme in der Hauptstadt von Gran Canaria, Las Palmas. Hierher, nach Spanien, kam er mit einem Boot, das nur wenig seetauglich war. Bis zur Volljährigkeit wohnte Ndiaye in einem Auffangzentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Ein Mitbewohner erzählte ihm von der Lucha Canaria – und nahm ihn mit zum Training. Seitdem ist er fester Bestandteil des Teams. Ein Landsmann von Ndiaye, der wie er per Boot auf die Kanaren geflohen ist, gehört heute ebenfalls zum Aufgebot von CL Guanarteme.

Ndiaye ist groß und breit gebaut, sein Körper muskulös. Beste Voraussetzungen für die Ausübung der Lucha Canaria. Der Kontaktsport, der auch kanarischer Ringkampf genannt wird, geht auf die ursprüngliche Bevölkerung der Kanarischen Inseln zurück. Diese, heißt es, trugen etwaige Streitigkeiten in der Gemeinschaft auf ritualisierte Weise im Kampf aus. Mit der Kolonisierung des Inselarchipels vor der Westküste Afrikas durch das kastilische Königshaus, die Anfang des 15. Jahrhunderts begann, wurden große Teile der ursprünglichen Bevölkerung ausgerottet. Die wenigen Überlebenden wurden zwangsassimiliert.

Der kanarische Ringkampf überlebte – wenn auch zunächst ohne festgelegtes Regelwerk. Besonders in den 80er und 90er Jahren erlebte der Sport einen Aufschwung, erzählt Bayanor Pérez. Er ist selbst Mitglied beim CL Guanarteme, auch wenn er heute nicht Teil der zwölfköpfigen Mannschaft ist. Doch die Globalisierung und damit einhergehend der Siegeszug von Fußball, Basketball und Co. führten dazu, dass die Vereine immer größere Nachwuchsprobleme für den Traditionssport bekamen. Nun seien es Kämpfer wie Ndiaye, die der Lucha Canaria wieder zu neuem Schwung verhelfen. »In letzter Zeit wird die Lucha Canaria wieder beliebter, gewiss auch wegen der Migranten, die zu uns kommen«, sagt auch der Präsident des Klubs, Domingo Gutiérrez. Auch zu den »Terreros«, wo die Kämpfe traditionell ausgetragen werden und die heute immer öfter an kleine Arenen erinnern, kämen wieder mehr Menschen.

Radio MSH

Der CL Guanarteme – der Name kommt von der Bezeichnung für Oberhäupter der Canarios, also der ursprünglichen Bevölkerung der Insel Gran Canaria – ist bei weitem nicht der einzige Klub, der Geflüchtete in seinen Reihen hat. Wie José Antonio Caballero, Vorsitzender des kanarischen Verbands der Lucha Canaria, gegenüber der Nachrichtenseite Canarias Ahora erklärte, kämpften heute in fast allen Vereinen Migranten mit. Der bekannteste von ihnen ist wohl Mamadou Cámara aus Mali, der 15jährig mit dem Boot von Mauretanien auf die Kanareninsel Teneriffa gekommen war. Heute ist er einer der populärsten Kämpfer der obersten Kategorie des kanarischen Ringkampfs und Idol vieler Jugendlicher, gerade solcher mit Migrationserfahrung.

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Auf der Matte: Kämpfer des CL Guanarteme in gelbem Trikot und blauen Shorts

In den vergangenen Jahren stieg die Migration aus westafrikanischen Ländern wie Senegal, Mali oder Guinea auf die Kanarischen Inseln stark an. 2024 markierte dabei den bisherigen Höhepunkt, 46.843 Personen erreichten das Inselarchipel per Boot. Auch wenn die Zahlen in den ersten Monaten dieses Jahres wieder zurückgingen – die unterfinanzierten Institutionen auf den Kanaren sind mit der Anzahl Geflüchteter oft überfordert. Das wirkt sich insbesondere auf die Minderjährigen unter den Migranten aus. Die Autonome Gemeinschaft Kanaren ist derzeit für fast 6.000 unbegleitete Minderjährige verantwortlich – und damit für mit Abstand die meisten in ganz Spanien. In den vergangenen Wochen kochte der Streit um die Verteilung der Kinder und Jugendlichen auf die Autonomen Gemeinschaften auch Festlandspaniens hoch. Eine nachhaltige Einigung ist, insbesondere wegen der Blockadehaltung rechtsregierter Regionen, bisher nicht in Sicht.

Die Kanarischen Inseln, die von der Regionalpartei Coalición Canaria und dem postfranquistischen Partido Popular regiert werden, verlängerten erst Ende Februar einen bereits zuvor ausgerufenen Notstand wegen der Situation der unbegleiteten minderjährigen Migranten, die sich in der Obhut der Inselgruppe befinden. Damals erklärte Regierungssprecher Alfonso Cabello, das sei notwendig, da die Aufnahmezentren zu 123 Prozent ausgelastet seien. Die Zentren werden mehrheitlich von privaten Trägern und NGOs betreut und kommen ihrer Aufgabe, die Minderjährigen darauf vorzubereiten, mit 18 Jahren für sich selbst sorgen zu können, nur in den seltensten Fällen nach.

Bevor Ndiaye bei Guanarteme begann, war er noch nie in den Ring gestiegen, auch wenn es im Senegal eine mit dem kanarischen Ringkampf vergleichbare Kontaktsportart gibt. Bemerkbar machte sich das bei seinen Kämpfen an diesem Sonnabend nachmittag nicht. Im Gegenteil, trotz seiner Größe und Muskelmasse ist der 18jährige erstaunlich agil, die meisten Runden gehen an ihn. Als er nach seinem letzten Kampf langsam eine Runde um das Rund im »Terrero« des Klubs dreht, werfen ihm einige der Zuschauer Münzen zu. Traditionell wird die Wertschätzung für den Luchador so ausgedrückt.

Am Ende des Kampfes steht ein knapper Zwölf-zu-elf-Sieg des Heimteams gegen Unión Antigua von der Nachbarinsel. In der Gruppe A der zweiten Kategorie der Männer belegt der CL Guanarteme in der Tabelle einen der vorderen Plätze. Die in gelbe Trikots mit blauer Kragenpartie und blaue Shorts gekleideten Spieler klatschen die des anderen Teams ab, Kämpfer für Kämpfer. Im Anschluss treten sie in die Mitte des Kreises, fassen ihre Kollegen um die Schultern, schwören sich einmal mehr ein und lassen sich von den Zuschauern für ihre Leistung feiern.

Ndiaye steht mitten unter seinen Mannschaftskollegen. Man kann ihm die Freude über den Sieg seines Teams und den Anteil, den er selbst daran hatte, ansehen. Doch, auch das macht er an diesem Nachmittag deutlich, für ihn als Migranten, der noch minderjährig die gefährliche Fahrt über den Atlantik auf die Kanarischen Inseln überlebt hat, geht es um noch mehr. Für seinen Spracherwerb sei der Klub extrem wichtig, erzählt der 18jährige in einem eher brüchigen Spanisch. »Wenn ich im Training mal etwas nicht verstehe, wiederholen sie die Anweisung ganz langsam nur für mich.« Viel wichtiger sei jedoch das Zwischenmenschliche. Ohne die Lucha Canaria, erzählt Ndiaye, hätte er wohl die meiste Zeit im Auffangzentrum für die Geflüchteten totgeschlagen – mit nur wenig Kontakt zur Außenwelt und vor allem zur kanarischen Gesellschaft. »Hier habe ich Freunde gefunden.«

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8. Mai