Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 24.03.2025, Seite 12 / Thema
DKP

Was tun in nichtrevolutionären Zeiten?

Heute wäre Robert Steigerwald 100 Jahre alt geworden – die von ihm mitentwickelten strategischen Überlegungen sind weiter nützlich
Von Manfred Sohn und Patrik Köbele
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In seinem Element: Der marxistische Philosoph Robert Steigerwald (1925–2016) mischte sich engagiert in die strategischen Debatten der DKP ein

Geboren am 24. März 1925, Großmutter väterlicherseits Mitbegründerin der KPD, Großvater unter den Faschisten in Knast und KZ geworfen, Mutter aus einer in Frankfurt am Main bekannten sozialdemokratischen Familie, als junger Mann erst in der SPD, später in der KPD und, als sie unter Konrad Adenauer 1956 erneut verboten wurde, Rausschmiss beim Rundfunk, wo er als Redakteur arbeitete, anschließend fünf Jahre Knast in Westdeutschland.

Mit dem Erkämpfen der Legalität durch die Gründung der Deutschen Kommunisten Partei (DKP) im Jahre 1968 wurde Robert Steigerwald gemeinsam mit seinem Genossen und Freund Willi Gerns in Hunderten von öffentlichen Streitgesprächen, oft in den überfüllten größten Hörsälen westdeutscher Unis, das Gesicht der DKP. »Während unserer Tätigkeit beim Parteivorstand hatten wir eine gemeinsame Wohnung in Düsseldorf. Und wenn wir abends nicht zu Veranstaltungen unterwegs waren, haben wir gern bei einem Gläschen Rotwein zusammengesessen und über die aktuellen politischen Entwicklungen oder grundsätzliche Fragen der Strategie und Taktik unserer Partei gebrütet.«¹

Willi Gerns selbst bemerkte einmal, bei ihm würde man ein Stück Steigerwald finden und umgekehrt. So manche Debatte über Dokumente der Partei, auch programmatische, wurde abends fortgesetzt, das Diktiergerät, berichteten amüsiert diejenigen aus der Parteizentrale in Düsseldorf, die das dann in die Druckfassung brachten, wurde manchmal im Satz gewechselt. Der eine hatte ihn begonnen, der andere führte ihn zu Ende.

Problem der Übergänge

Das Wirken der beiden als strategische Köpfe der DKP in den Jahren zwischen der Konstituierung der Partei im Jahre 1968 und dem Sieg der Konterrevolution in der DDR im Jahre 1989 war geprägt von der Spaltung Deutschlands in den größeren kapitalistischen und den kleineren sozialistischen Teil, der schließlich vom Westen annektiert wurde. Die DKP wuchs zwar nach der Überwindung der Illegalität schnell auf rund 50.000 Mitglieder zu ihren besten Zeiten heran und war der Anker für eine ebenfalls Zehntausende von Mitgliedern zählende Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) und die mit bis zu 5.000 Mitgliedern damals stärkste studentische Organisation, den Marxistischen Studentenbund Spartakus (MSB), kam aber bei bundesweiten Wahlen niemals über die Prozentgrenze hinaus, blieb also im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland marginalisiert – bis heute.

Ihre Aufgabe sahen die beiden daher darin, eine »revolutionäre Strategie in nichtrevolutionären Zeiten« zu entwickeln.² Relativ kurz nach der deutschen Konterrevolution, im Jahre 1993, schrieben die beiden anlässlich des 25. Gründungstages der DKP rückblickend auf die gesamte Entwicklung der DKP-Programmatik von 1968 bis 1989: »Die Kernfrage, um die es dabei geht, war und bleibt das Problem der Übergänge, des Herankommens an die grundlegende gesellschaftliche Umwälzung. Für die Beantwortung dieser Frage hat die DKP Anregungen aus der internationalen kommunistischen Bewegung aufgegriffen und zugleich mit ihrer Arbeit befruchtend auf die programmatischen Überlegungen der kommunistischen Parteien anderer Länder eingewirkt. Das gilt auch für solche Fragen wie die Aufarbeitung der Veränderungen, die sich unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Struktur und Lebensweise der Arbeiterklasse vollzogen haben, die Schlussfolgerungen, die aus der heutigen Dramatik der Friedensfrage zu ziehen sind, für neue Aspekte der Aktionseinheits- und Bündnispolitik und andere. Neben Leistungen gibt es auf programmatischem Gebiet Defizite und auch Fehleinschätzungen. Von besonderem Gewicht dafür scheinen uns falsche Beurteilungen der internationalen Kräfteverhältnisse und ihrer Entwicklungstendenzen zu sein. Die Stärke des realen Sozialismus wurde überbewertet, die Vitalität des entwickelten Kapitalismus unterschätzt. Wir hielten es allerdings für einen Fehlschluss, wenn man die Tatsache, dass die programmatische Orientierung der DKP bisher nicht zum Erfolg geführt hat, auf diese Defizite zurückführen wollte. Noch weniger begründet wäre unserer Überzeugung nach die Schlussfolgerung, die Suche nach Übergängen und heranführenden Orientierungen im Kampf um das sozialistische Ziel durch die unmittelbare Aufgabenstellung der sozialistischen Revolution, oder gar die Beschränkung auf Reformen im Rahmen des Kapitalismus ersetzen zu wollen. Für das eine fehlen alle Voraussetzungen, das andere führt nicht über den Kapitalismus hinaus.«³

Antimonopolistischer Kampf

Von den oben erwähnten Hunderten von Veranstaltungen war mehr als die Hälfte angefüllt mit heftigen Debatten um die »antimonopolistische Demokratie« – oft auch gegen Vertreter der nach 1968 ins Kraut schießenden verschiedenen, sich kommunistisch oder revolutionär nennenden Gruppen, denen diese Strategie zu lasch, zu wenig revolutionär schien. Das ging bis dahin, dass Teile der damaligen Jungsozialisten um ihren späteren Vorsitzenden Gerhard Schröder sich als »antirevisionistisch« verstanden und damit meinten, die DKP und die ihr nahestehenden Teile der Jusos hätten Marx revidiert und seines revolutionären Elans beraubt – weil eben die DKP nicht mehr die sozialistische Revolution, sondern die »antimonopolistische Demokratie« als das unmittelbar nächste Ziel ihres Kampfes auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

Beim Rotwein in der Düsseldorfer Zweier-WG Gerns/Steigerwald war nun alles mögliche entstanden – aber nicht die Grundlage dieser Strategie. Sie hatte weit tiefere Wurzeln. Wer nach ihnen graben will, muss sich vertraut machen mit der Lenin’schen Imperialismus-Analyse. Die Entwicklung vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus, vom Manchester-Kapitalismus zum Imperialismus hatte, so erkannte Wladimir Iljitsch Lenin als einer der ersten Theoretiker des Marxismus, weitreichende Auswirkungen. Der Imperialismus sei, analysierte er 1916, von seiner inneren Logik das höchste und zugleich letzte Stadium des Kapitalismus. Steigerwald bestand darauf, dass sich daran strukturell nichts geändert habe. Nach dem Imperialismus kann nichts mehr kommen. Er ist das Ende des kapitalistischen Entwicklungsprozesses, egal wie lange sich dieses elende Ende noch hinzieht.

Das wohl einflussreichste, in mehreren Auflagen erschienene Buch von Gerns/Steigerwald war das über die »Probleme der Strategie des antimonopolistischen Kampfes«. Bevor dort auf mehreren Seiten die Frage beantwortet wird, »Warum kämpfen wir um eine antimonopolistische Demokratie?«⁴ weisen beide darauf hin, dass Lenin in seinem Kampf gegen den »linken Radikalismus« als einer »Kinderkrankheit im Kommunismus«⁵ auch als Schlussfolgerung aus den Veränderungen im Kapitalismus auf die Entwicklung der Fähigkeit pochte, »sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mit den nichtproletarischen Massen zu verbinden«⁶.

Wie tief die beiden in diesen Lenin’schen Gedanken eingedrungen waren, macht vielleicht folgender historischer Rückgriff deutlich: »In den Revolutionen von 1905 bis 1907 und vom Februar 1917 kämpfte die Arbeiterklasse des zaristischen Russlands für bürgerlich-demokratische Rechte und Freiheiten des Volkes unter den durch den Übergang zum Imperialismus entstandenen realen Möglichkeiten des Hin­überwachsens der bürgerlichen-demokratischen Revolution in eine proletarische Revolution. In dieser komplizierten Periode der Klassenauseinandersetzung wurde von Lenin aus dem Studium des konkreten Verlaufs des revolutionären Prozesses die Idee von der zunächst möglichen Errichtung einer revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft entwickelt. Ihr wesentlicher Inhalt bestand in der Entwicklung einer bestimmten Form der politischen Übergangsherrschaft, die zeitlich und auch ihrem ökonomischen Wesen nach zwar nach der Diktatur der Bourgeoisie, jedoch noch vor der erst zu entwickelnden vollen politischen Macht der Arbeiterklasse liegt. An ihr sollten unter Führung der Arbeiterklasse auch alle anderen gesellschaftlichen Kräfte beteiligt sein, die der konkreten revolutionären Entwicklung ihr Gepräge geben, an ihr aktiv teilnehmen.

In seiner Arbeit ›Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll‹, die in der Periode des Übergangs von der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution zur sozialistischen Oktoberrevolution 1917 geschrieben wurde, bezeichnete Lenin diese mögliche Übergangsstufe der politischen Macht auf dem Weg zum Sozialismus auch als Staat der revolutionären Demokratie. Er verband damit tiefgehende progressive Veränderungen in der politischen, ökonomischen und sozialen Struktur der Gesellschaft. Das Klassenwesen dieser revolutionären Demokratie charakterisierend schrieb Lenin: ›Das ist noch kein Sozialismus, aber schon kein Kapitalismus mehr. Das ist ein gewaltiger Schritt zum Sozialismus, ein derartiger Schritt, dass man – die Erhaltung der vollen Demokratie vorausgesetzt – von diesem Schritt schon nicht mehr ohne seine unerhörte Vergewaltigung der Massen zum Kapitalismus zurückkehren könnte.‹«⁷

Das Ringen um diese Zwischenwelt – noch kein Sozialismus, aber schon kein Kapitalismus mehr – ist der eigentliche Inhalt der »antimonopolistischen Strategie«. Wer sie angreift, so Steigerwald in Dutzenden von erregten Debatten der 60er und 70er Jahre, greift nicht nur die DKP an – er greift Lenin an, und da hörte für ihn der Spaß auf.

Das ist der tieferliegende Grund, weshalb die DKP im Kern bis heute an dieser damals von Gerns und Steigerwald auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse hin konkretisierten strategischen Grundlinie festhält. Sie hat ihre Wurzeln eben weder in der Zeit der Systemkonkurrenz von BRD und DDR noch in den spezifischen Bedingungen der von Illusionen angefüllten kurzen Reformära der Regierungszeit von Willy Brandt nach 1969 – diese strategische Grundlinie wurzelt viel tiefer und ist bis heute aktuell.

Selbstkritisch haben Gerns und Steigerwald in einer Reihe von Gesprächen nach 1989 angemerkt, dass ihnen in den damaligen ideologischen Gefechten dieses Grundsätzliche zuweilen gegenüber den konkreten Ausprägungen der Grundlinie weggerutscht sein mag. Die Programme der DKP aus den 1970er Jahren etwa haben zum Teil so detailverliebt die Vorteile einer »antimonopolistischen Bundesrepublik« Deutschland beschrieben, dass man hätte meinen können, die Regierungsbeteiligung von Kommunisten beginne in Reichweite zu rücken. Und zuweilen hat sich die DKP in den damaligen Kämpfen zu sehr darauf gestützt, dass jenseits der Elbe ja schon ein sozialistisches Weltsystem entstanden sei, das den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus auch im davon westlich gelegenen Teil Europas erleichtern würde. Aber Lenins revolutionäres Konzept der Bündnisse proletarischer mit nichtproletarischen Massen war eben bekanntermaßen siegreich ohne ein sozialistisches Weltsystem an Russlands Seite, war siegreich trotz der Messer der antisowjetischen Kräfte von London über Washington bis Berlin an der Kehle. Das Konzept der antimonopolistischen Demokratie wie die Selbstkritik nach 1989 beinhalten wichtige Lehren auch für unsere heutigen Kämpfe.

Dialektischer Materialismus

Bevor wir aber zu diesen heutigen praktischen Fragen kommen, in die sich Steigerwald, lebte er noch, mit Verve hineingeworfen hätte, müssen wir mit ein paar Zeilen dem Missverständnis vorbeugen, Steigerwald wäre allein der theoretische Begründer tagespolitischer Forderungen und Losungen gewesen. Er war weit mehr. Er war – und ist es für ein paar Menschen bis heute – der Orientierungspunkt in ganz grundsätzlichen Fragen weit über tagespolitische Schlachten hinaus. Er war »der« Philosoph der DKP und der Marx-Engels-Stiftung, deren Vorsitzender er viele Jahre war, und hat viele von denen geprägt, die damals im SDAJ- oder MSB-Alter waren und die bei der »Partei Marx« geblieben sind – anders als diese unsäglichen Kretschmanns und Trittins, die als Revoluzzer gestartet waren und heute nur noch schäbige olivgrüne Profitförderer für die Rüstungsindustrie sind.

Sehr gründlich hat sich Steigerwald in die Fragen der Naturwissenschaften hineingefressen und nach 1989 beispielsweise gegen die damals aufkommende grün-alternative Romantik angekämpft, die einen Gegensatz von Mensch und Natur konstruierte, der, so Steigerwald, weil er philosophisch grundfalsch angelegt war, langfristig zum Scheitern verurteilt sei: »Während jedoch die außereuropäischen Materialisten weitaus unbefangener mit dem dialektischen Materialismus umgehen, hat der hiesige naturwissenschaftliche Materialismus doch recht vehement Position gegen die marxistische Philosophie bezogen. Wir haben es, wo von Natur die Rede ist, nie mit dieser selbst, mit Natur an sich zu tun. Stets treffen wir nur auf bereits vom Menschen veränderte Natur. (…) Vielleicht (…) ein kleines Gedankenexperiment: Ihr fragt jemanden, was Natur sei, und sagt, es ginge jetzt nicht um Blumen und Wiesen, Wälder und dergleichen, sondern ganz einfach um Natur ›an sich‹. Der jemand wird ein wenig nachdenken und dann sagen: ›Na, die Welt um mich herum‹. Ihr fragt weiter: ›Auch Deine Familie?‹ Er: ›Nein, die nicht.‹ ›Aber was denn sonst?‹ Er, wenn er sich genügend ausdrücken kann: ›Also, die Natur außer dem Menschen‹.«⁸

Gegen diese Position hat Steigerwald, der sich in den letzten Jahren zunehmend auch mit der Untergrabung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Imperialismus befasst hat, auf Friedrich Engels fußend immer darauf gepocht, dass die Menschen eben nicht von der Natur getrennt sind, sondern Teil dieser und jeden politischen Schritt aus dieser Einheit denkend heraus gehen müssen, wenn sie philosophisch und politisch nicht im Sumpf enden wollen. Die richtige Betrachtung naturwissenschaftlicher Fragen – und praktisch also der sogenannten Umweltfrage – war ihm wohl auch deshalb ein Anliegen, weil sie eine Verbindung zu den Grundüberlegungen der antimonopolistischen Strategie hatten und haben: »Nicht nur zu Systemfragen gibt es im Volk durchaus Stimmungen der Angst und Sorge vor Problemen der Ökologie, vor Rüstung und Krieg. Das reicht weit über die Arbeiterklasse hinaus, das wären echte Bündnispositionen für den gemeinsamen Kampf. Und man kann diese Ängste und die zu ihrer Beseitigung nötigen Aufgaben miteinander verbinden: Die Rüstung gefährdet nicht nur den Frieden, sie ist der größte Ressourcenverschwender überhaupt. Der Kampf gegen diese und für ökologische Lösungen – von damit verbundenen weiteren Möglichkeiten zunächst abgesehen – wäre von größter Bedeutung. Und gerade auf diesen Feldern ist jene Jugend aktiv, die wir so schmerzlich in den Organisationen der Arbeiterklasse vermissen. Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, dann muss der eben zum Propheten gehen. Wirkliche antikapitalistische Kräfte, sie müssen dort wirken. Es ist auch zu bedenken, dass sich hier Bündnisfragen von erheblicher Breite stellen: Welches Potential ist es, das das Getriebe der Banken, der Medien, der Wissenschaft, der Technik am Leben erhält? Das reicht weit über die Arbeiterklasse – wie man sich auch definieren mag – hinaus, und es wird keinen wirklichen Fortschritt in unserem Lande geben, wenn es nicht zu Bemühungen für den gemeinsamen Kampf kommt, die auf die Breite der Probleme und die Weite des in Fragen kommenden Potentials orientieren.«⁹

Ebenso grundsätzlich hat er sich in seinen letzten Lebensjahren auch mit den damals verstärkt wieder aufkommenden rassistischen Ideologien befasst. Das hat eine erschreckende Aktualität. Am 14. Februar hat die Junge Freiheit – so etwas wie ein Selbstverständigungsorgan der AfD – zum 80. Geburtstag von Thilo Sarrazin auf einer ganzen Seite die jetzt erschienene kommentierte Neuauflage seines vor 15 Jahren erschienenen Bestsellers »Deutschland schafft sich ab« in einem Interview mit Sarrazin gefeiert – mit solch liebdienernden Fragen wie »Sind Sie nicht … so etwas wie der ›Vater‹ der AfD?«.

Steigerwald warnte vor 15 Jahren also zu Recht: »Der ideologisch-politische Rabauke Sarrazin könnte sich zur Führungsfigur des Rechtspopulismus und Neonazismus unseres Landes entwickeln. (…) Wir haben also allen Grund, uns mit derlei Erscheinungen ernsthaft zu befassen. (…) Schon einmal wurden in unserer jüngeren Geschichte Scharlatane nicht ernst genommen. (…) Demagogie muss man ernst nehmen, und man muss ihr eben auch mit Ernst, das heißt mit Wissenschaft, entgegentreten. (…) Sodann muss, das ist kein schönes Geschäft, das sogenannte Material, das Sarrazin ausbreitet, von der Sache her widerlegt werden.«¹⁰ – und das tut er dann, sich vor allem die biologistisch daherkommenden rassistischen Stereotype Sarrazins vorknöpfend.

Ob nun zu Sarrazin, zu bevorstehenden Debatten um den VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, der sich mit dem 1935 immer bedrohlicheren Faschismus befasste, oder zu anderen damals wie heute aktuellen Fragen des Klassenkampfes – Steigerwalds Überlegungen mit zu Rate zu ziehen, ist schlicht und ergreifend nützlich für unsere heutigen Kämpfe.

Historischer Optimismus

Angesichts der drohenden Doppelkatastrophe von Krieg und Klimakrise und angesichts einer Entwicklung, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Deutschland zu einer drastischen Absenkung des – wo noch vorhanden – Wohlstands und damit zusammenhängender politischer Verzweiflung, aber auch zu politischen Suchbewegungen führen wird, sind die auf Lenin fußenden Überlegungen von Steigerwald möglicherweise aktueller, als sie es zu seinen Lebzeiten waren.

Dreierlei bleibt auf jeden Fall zu Robert Steigerwalds Hundertstem: Zum einen die feste Überzeugung, sich von keinen noch so hektischen tagespolitischen Wendungen davon abbringen zu lassen, sich Zeit und Muße zu erkämpfen, um sich mit grundlegenden philosophischen, naturwissenschaftlichen und strategischen Grundsatzfragen zu befassen. Das verbindet sich zweitens – und stützt ihn – mit einem unerschütterlichen historischen Optimismus und einer positiven Einstellung zu den Kämpfen unserer Zeit, wie zum Beispiel im Schlussabschnitt seiner »Materialistischen Philosophie – eine Einführung für junge Leute«: »Es ist schon eine großartige Sache, dass es – erstmals in der Geschichte menschlichen Denkens – möglich geworden ist – durch den Materialismus möglich geworden ist! –, Philosophie zugleich auf wissenschaftlicher Grundlage und massenverständlich zu entfalten.«¹¹ Und drittens – und wieder damit verknüpft – zeigt sein ganzes Leben, dass er und seinesgleichen, also wir, die ihm folgen, sich weder durch Knast noch durch »Gezetere«, wie er es an dieser Stelle nennt, vom Kurs auf den Sozialismus abbringen lassen.

Anmerkungen:

1 Willi Gerns: Der Beitrag Robert Steigerwalds zur Herausarbeitung der Strategie des Kampfes um antimonopolistische Übergänge auf dem Weg zum Sozialismus. In: Hermann Kopp/Lothar Geisler (Hg.): Denkanstöße, Hommage an Robert Steigerwald. Essen 2015, S. 17

2 So der Titel des Buches: Willi Gerns: Revolutionäre Strategie in nichtrevolutionären Zeiten, Essen 2015

3 Willi Gerns/Robert Steigerwald: Zur Entwicklung der DKP-Programmatik (1968–1989). In: Heinz Stehr/ Rolf Priemer (Hg.): 25 Jahre DKP – eine Geschichte ohne Ende. Essen 1993

4 Willi Gerns/Robert Steigerwald: Probleme der Strategie des antimonopolitischen Kampfes. Frankfurt am Main 1977, S. 45

5 Ebd., S. 30

6 Ebd., hier Lenin zitierend

7 Ebd., am Schluss Lenin zitierend

8 Robert Steigerwald: Naturwissenschaftlicher oder dialektischer Materialismus? In: Robert Steigerwald: Wirkliche und konstruierte Marxismusprobleme. Berlin o. J.

9 Robert Steigerwald: Ohne die Arbeiterklasse läuft nichts Wesentliches, aber mit ihr allein auch nicht. In: Ebd., S. 132f

10 Robert Steigerwald: Sarrazin ist eine Sumpfblüte – Was aber ist der Sumpf? Ebd., S. 252

11 Robert Steigerwald: Materialistische Philosophie. Eine Einführung für junge Leute. Essen 1996, S. 110

Zur Auswertung der verschiedenen Würdigungen, die zu Steigerwalds 100. Geburtstag erschienen sind, führt die Marx-Engels-Stiftung am Samstag, den 29. März 2025 von 15 bis 18 Uhr eine Videokonferenz »Robert Steigerwald zum 100.« durch. Interessenten bekommen die Zugangsdaten nach Anmeldung per E-Mail an marx-engels-stiftung@t-online.de.

Patrik Köbele ist Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei, Manfred Sohn Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (24. März 2025 um 13:37 Uhr)
    »Das Ringen um diese Zwischenwelt – noch kein Sozialismus, aber schon kein Kapitalismus mehr – ist der eigentliche Inhalt der ›antimonopolistischen Strategie‹. Wer sie angreift, so Steigerwald in Dutzenden von erregten Debatten der 60er und 70er Jahre, greift nicht nur die DKP an – er greift Lenin an, und da hörte für ihn der Spaß auf.« Dass der Verweis auf Lenin gar nichts bedeuten muss, wissen wir spätestens seit Gorbatschow. Wer die illusionäre »antimonopolistische Strategie« kritisiert, greift also Lenin an, so die trickreiche Argumentation. Dagegen heißt es in der KAZ Nr. 360, »Der 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und die antimonopolistische Strategie«: »Richtig ist, die Monopolbourgeoisie und die Finanzoligarchie als den krassesten Ausdruck des Klassenwiderspruchs in den Vordergrund zu stellen, deswegen ist auch der Ausdruck antimonopolistische Strategie gerechtfertigt. Falsch wird es, wenn damit vermittelt werden soll, dass die nichtmonopolistische Bourgeoisie auf unsere Seite gezogen werden könnte. Die nichtmonopolistische Bourgeoisie ist in einem imperialistischen Land wie Deutschland mit tausend Fäden mit dem Monopolkapital verflochten, zieht bei jeder Offensive des Monopolkapitals gegen die Arbeiterklasse mit und drängt üblicherweise auf noch härtere Gangart, da sie weniger Puffer hat als die Monopolbourgeoisie«.

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