Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 25.03.2025, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Psychologie

Mauer im Kopf

Was haben die alten Römer jemals für uns getan? Eine ganze Menge, meinen Forscher der Universität Jena
Von Marc Püschel
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Ist man auf einer Seite dieses Zauns glücklicher? Rekonstruktion der Limes-Holzpalisaden bei Welzheim, Baden-Württemberg

Die DDR ist bis heute auf jeder statischen Karte Deutschlands zu sehen. Nach der Zerstörung der ostdeutschen Industrie durch die Treuhand sind es vor allem negative Statistiken wie die Arbeitslosenzahlen, anhand derer die alten Grenzen kenntlich werden. Auch psychologisch gibt es Unterschiede. Wer im Sozialismus aufgewachsen ist, hat in der Regel andere Werte und Überzeugungen als Westdeutsche. Polemisch ist oft die Rede von der »Mauer im Kopf«, die noch stünde.

Einem internationalen Forscherteam von Wirtschaftshistorikern und Psychologen zufolge prägt jedoch noch eine ganz andere Mauer die Deutschen. In der im Februar veröffentlichten Studie »Roma Eterna? Roman rule explains regional well-being divides in Germany« behaupten die Wissenschaftler rund um die Jenaer Professoren Michael Fritsch und Michael Wyrwich, dass die römische Herrschaft im Süden Deutschlands nicht nur heutige regionale Wohlstandsunterschiede erkläre, sondern sich sogar bis in die Gegenwart hinein auf die Persönlichkeitsmerkmale der dortigen Bevölkerung auswirke. Die Unterschiede lassen sich angeblich genau auf den Obergermanisch-Raetischen Limes (ORL) – den römischen Grenzwall, der die römischen Provinzen Germania Inferior, Germania Superior und Raetia schützte – zurückführen.

Der ORL wurde, auch wenn es erste Befestigungen seit der Niederlage der Römer im Teutoburger Wald im Jahre 9 n. u. Z. gab, vor allem unter dem Kaiser Mark Aurel (121–180) errichtet. Er verlief von Rheinbrohl (südlich des heutigen Bonn) zunächst landeinwärts nach Osten, dann ein Stück weit am Main entlang und weiter nach Süden bis etwa auf die Höhe des heutigen Stuttgarts, bevor er schließlich weiter nach Osten bis zum Kastell Eining nahe Regensburg an der Donau gezogen wurde. Der ORL hielt allerdings nur knapp über ein Jahrhundert, ab etwa 275 n. u. Z. gingen die Befestigungen wieder verloren, die Römer zogen sich an die Flüsse Rhein, Donau und Iller zurück.

Dennoch sei dieser Zeitraum prägend genug gewesen, um auch regionale Unterschiede im heutigen Deutschland erklären zu können. Südlich des Walls seien laut Studienergebnissen höhere Werte in Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung und damit verbundenen Persönlichkeitsmerkmalen aufweisbar. »Wir sehen darin einen psychologischen Langzeiteffekt des römischen Erbes in Deutschland – so wie Archäologen römische Ruinen ausgraben, vermuten wir, dass wir ein psychologisches Erbe in den Köpfen der Menschen sichtbar machen«, so Michael Fritsch von der Universität Jena. Die Römer haben zahlreiche technische Neuerungen wie Wassermühlen gebracht sowie eine öffentliche Infrastruktur mit Straßen, Märkten, Aquädukten etc. geschaffen. Dadurch sei ein wirtschaftlicher Langzeitvorteil entstanden, der sich auch psychologisch auswirke.

Für die Studie selbst wurden Daten von über 70.000 Menschen ausgewertet, die zu ihrer Lebenszufriedenheit befragt worden waren. Ausgewertet wurden die Umfragen nach dem Fünf-Faktoren-Modell, einem Schema in der Psychologie, das als ein Standardmodell der Persönlichkeitsforschung gilt. Es gliedert den menschlichen Charakter in fünf Aspekte: Aufgeschlossenheit, Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus), Extraversion (Geselligkeit), Rücksichtnahme und Kooperationsbereitschaft sowie Neurotizismus (emotionale Labilität).

Aus den vorliegenden Daten folgern die Psychologen, dass »die Bevölkerungen in den Regionen, die vor fast 2.000 Jahren von den Römern besetzt waren, signifikant höhere Werte für Extraversion, Verträglichkeit und Offenheit und signifikant niedrigere Werte für Neurotizismus als die Bevölkerungen in den nicht besetzten Regionen« aufweisen. Auch eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung sei in den Gebieten südlich des Limes festzustellen.

Der Studie gegenüber ist Skepsis angebracht. Nicht nur wird die Bedeutung des ORL überschätzt, denn ein »antigermanischer Schutzwall« war das Konstrukt nie. Historiker gehen heute davon aus, dass die kaum mannshohen Holzpalisaden, niedrigen Wälle und Gräben, aus denen ein großer Teil des Limes bestand, zur militärischen Abwehr größtenteils ungeeignet sowie für Migration durchlässig waren und eher als Zollgrenze fungierten. Auch das Kartenmaterial der Studie selbst weist Widersprüche auf, denn auch innerhalb des römischen Herrschaftsgebietes gibt es deutliche Differenzen. So weicht etwa das Saarland sowohl in der Lebenserwartung als auch in bezug auf die Persönlichkeitsmerkmale gegenüber den rheinischen Gebieten deutlich ab. Und in der Region Köln wiederum sind die Werte dies- wie jenseits des Limes ähnlich.

Die römische Herrschaft als entscheidendes Merkmal zu nehmen, erscheint angesichts dieser Differenzen insgesamt unplausibel – auch im Hinblick auf ganz Europa, schließlich ist etwa das alte römische Kernland in Süditalien heute eine der ärmsten Regionen des Kontinents. Der Aufbau der römischen Infrastruktur in Deutschland wiederum dürfte sich vor allem an günstigen geographischen Bedingungen orientiert haben, das Dreieck Rhein-Main-Donau ist leichter zu erschließen als etwa das deutsche Mittelgebirge. Daraus zu folgern, die römischen Straßen und Aquädukte wären der Grund für einen Jahrtausende anhaltenden Wirtschaftsvorsprung, ist aber ein Fehlschluss. Die Jenaer Studie dürfte eher der Versuch sein, im Wissenschaftsbetrieb mit einer aufsehenerregenden These hervorzustechen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (25. März 2025 um 13:24 Uhr)
    Was aufsehenerregend an der These der Jenaer Studie sein soll, ist mir ein Rätsel. Diese Studie ist an Plattheit nicht zu übertreffen. Wurden auch die Stammbäume der 70.000 Menschen, deren Datenwert abgeschöpft wurde, zurück bis in die römische Zeit des Limes verfolgt? Dem Artikel zufolge nicht. Den Verfassern der Studie ist auch entgangen, dass es eine sogenannte »Völkerwanderung« und Bürgerkriege im römischen Reich gegeben hat. Zitat aus https://www.altwege.de/roemer-und-kelten/roemer-in-germanien.html : » Fall des Limes – Rückzug auf die Donau-Rhein-Iller Linie, Aufgabe des obergermanisch-raetischen Limes: In der Vergangenheit nahm man an, dass die Römer durch den Alemannen-Sturm gezwungen wurden, das Gebiet östlich des Rheins und nördlich der Donau zu räumen. Bodenfunde legen aber nahe, dass dieser Vorgang Folge einer jahrelangen Entwicklung während der sogenannten Reichskrise des 3. Jahrhunderts mit einem Niedergang des Grenzlandes war; auch Bürgerkriege im Imperium scheinen eine Rolle gespielt zu haben. All dies führte schließlich in den Jahren ab 259/260 zur endgültigen Aufgabe des sogenannten Dekumatlandes und zur Rücknahme der römischen Militärgrenze an den Rhein und an die Donau.« Meine Empfehlung an die Wirtschaftshistoriker und Psychologen: Eine künstliche Intelligenz mit einer Metastudie zu Studien von Wirtschaftshistorikern und Psychologen beauftragen.

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