Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 02.04.2025, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

Zu allem fähig

Aufklärer und Abenteurer, Liebhaber und Schriftsteller. Vor 300 Jahren wurde Giacomo Girolamo Casanova geboren
Von Arnd Beise
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Casanova war »ein materialistischer Schriftsteller, der in manchmal unschuldiger Aufrichtigkeit eine Epoche schildert, mit der er ganz eins gewesen ist« (Gemälde von Francesco Narici, 1760)

Von allen Filmen, die über das Leben des Giacomo Girolamo Casanova gedreht worden sind, ist »Il Casanova« von Federico Fellini, der im Dezember 1976 uraufgeführt wurde, sicher der bekannteste. Zehn Episoden aus dem Leben des berühmten venezianischen Abenteurers werden geschildert, ausgehend vom wilden Treiben des Karnevals in seiner Heimatstadt bis zum traurigen Dasein als verspottetes Relikt einer vergangenen Epoche in der Bibliothek des Schlosses zu Dux in Böhmen. Im Grunde verdankt sich der Film einem Irrtum. Fellini bekam das Angebot, einen Casanova-Film zu drehen, dachte vermutlich an dessen Ruf als unwiderstehlicher Verführer schöner Frauen und unterschrieb den Vertrag. Die »Histoire de ma vie«, Casanovas Memoiren, auf denen sein Weltruhm beruht, las Fellini erst hinterher. Und war entsetzt. Er fand das Werk »langweilig«, die »trockene Aufzählung einer Unmenge von Fakten«, eine »Bestandsaufnahme« in »statistischem Sinne«, fast schon eine »Art Telefonbuch«, »peinlich genau, grimmig, nicht einmal verlogen, dies alles hat bei mir nur ein tiefes Gefühl von Verärgerung, Befremden und Abscheu erregt«.

Infolgedessen beschloss er, einen Film zu drehen, der sich völlig fremd verhalten sollte »gegenüber dem Buch, Casanova, dem 18. Jahrhundert und allem, was über das Thema geschrieben worden ist«. Und in der Tat hat der Film mit dem historischen Casanova wenig zu tun; er heißt im Original zu Recht »Il Casanova di Federico Fellini«, im deutschen Sprachraum »Fellinis Casanova«. Sein Protagonist ist ein befremdliches Wesen, kaum ein wirklicher Mensch, sondern eine Art lebender Automat »mit Pawlowschen Reflexen, die ihn jedesmal wie eine simple Maschine in Bewegung geraten lassen, wenn er sich einer Frau nähert« (Thomas Koebner). Fellini wollte einen »Film über die Leere« machen: »keine Ideologie, kein Gefühl, keine Erregungen«. Er glaubte, »eine sehr gegenwartsnahe Einstellung zum Dasein zu bemerken, in diesem gläsernen Auge, das die Realität bloß überfliegt (…), ohne durch ein Urteil einzugreifen, ohne sie in einem Gefühl zu verarbeiten«. Der Held, ein Prototyp der oberflächlichen und ihrer selbst entfremdeten Zeitgenossen eines sinnentleerten Spätkapitalismus?

Gebräuche des Rokoko

Aber nicht nur Fellinis Kunstfigur kann als Paradigma heutiger Sozialtypen gesehen werden; der Sozialhistoriker Burkhard Brunn meinte vor gut einem Vierteljahrhundert¹, sogar im historischen Casanova einen Vorläufer eines gewissen postindustriellen sozialen Typus erkennen zu können, nämlich jenen des hedonistischen, der bürgerlichen Arbeitsmoral entfremdeten Konsumisten. »Zu Casanovas Zeit zerfiel die feudal-absolutistische Gesellschaft«, so fasste Brunn das Ter­ti­um Com­pa­ra­ti­o­nis, heute löse sich »die traditionelle Arbeitsgesellschaft auf, wenn auch die kapitalistische Wirtschaftsweise fortbesteht. (…) In den Metropolen haben wir es häufig mit hochmobilen, flexiblen, urbanen und lebenserfahrenen Dilettanten zu tun, deren Selbstbewusstsein nicht mehr darin besteht, einen einzigen Beruf auszufüllen, sondern jeder Aufgabe gewachsen zu sein. Sie fühlen sich wie Casanova ›zu allem fähig‹. Die zunehmende Verschuldung von jedermann zur Führung eines guten Lebens, häufiger Partnerwechsel und abnehmende Zahlungsmoral erinnern an die Gebräuche des Rokoko, das Arbeit geringschätzte: So entscheidet auch heute, ob man sich leisten kann, was up to date ist, woher die Mittel dazu auch kommen mögen. Es sind Anzeichen eines abenteuerlich werdenden Lebens.«

Für Brunn war Casanova weniger der große Verführer, den Fellini grandios danebenhauend zur »Fickmaschine« (Nicolaus Sombart) degradiert hatte, sondern der »soziale Abenteurer großen Stils«, ein »Aufsteiger«, der sein Leben dem Zufall überließ, getrieben von einer unbedingten Freiheitsliebe ebenso wie vom Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung. »Er wollte dazugehören, ohne sich zu binden, beliebt sein und unabhängig zugleich.« Er dilettierte und brillierte in allen möglichen sozialen Feldern, als Wissenschaftler und Unterhalter, als Unternehmer und Glücksspieler. Er improvisierte ein selbstverantwortetes Leben auf allen Gesellschaftsbühnen Europas, und er konnte es, weil er »Geistes- und Gefühlsgegenwärtigkeit, Lebenserfahrung, Bildung, Einfallsreichtum, Findigkeit und Respektlosigkeit« besaß, »die auch dem spätmodernen Abenteurer den beeindruckenden Auftritt sichern«.

Vor 300 Jahren, am 2. April 1725, wurde dem Schauspielerehepaar Gaetano Casanova und Zanetta Farussi, genannt La Buranella, ein Sohn geboren, der am 5. Mai in der Kirche San Samuele Profeta auf die Namen Giacomo Girolamo getauft wurde. Sein Zuhause war das Theatermilieu, das in der Karnevalsstadt Venedig, wo die Leute das halbe Jahr in Masken umhergingen, ungewöhnlich dominant war. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1733 lebte er bei der Großmutter Maria Farussi, da die Mutter oft mit ihrer Schauspieltruppe unterwegs war.

Befreiende Erkenntnis

1734 wurde der Neunjährige in ein Pensionat nach Padua gebracht. Begleitet wurde er von seiner Mutter, Giorgio Baffo, einem Freund des Vaters sowie Dichter und Freigeist, und seinem Vormund, dem Abbate Alvisio Grimani. Man fuhr auf einer Barke über den Brentakanal Richtung Padua. Am Morgen des 3. April 1734 erwachte der kleine Casanova und glaubte – durch die Luke seiner Kabine nur die Kronen der den Kanal säumenden Bäume sehend –, nicht das Schiff bewege sich, sondern die Bäume zögen an diesem vorbei. »Woher kommt es«, rief der Knabe, »dass die Bäume laufen?« Die Erwachsenen lachten und die Mutter korrigierte den Irrtum. »Ich begriff«, so der alte Casanova in seinen Memoiren, »dank meiner erwachenden, sich immer mehr entwickelnden und noch gar nicht voreingenommenen Vernunft, sofort den Grund der Erscheinung. ›Dann ist es also möglich‹, sagte ich zu meiner Mutter, ›dass auch die Sonne sich nicht bewegt und dass im Gegenteil unsere Erde von Westen nach Osten rollt‹. Meine gute Mutter entsetzte sich über diesen Unsinn, Abbate Grimani beklagte meine Dummheit, und ich stand da ganz verdutzt, traurig und dem Weinen nahe. Signor Baffo brachte mich wieder zu mir! Er schloss mich in seine Arme, küsste mich zärtlich und sagte: ›Du hast recht, mein Kind; die Sonne bewegt sich nicht, sei getrost! Brauche immer deine Vernunft und lass die Leute lachen!‹ Meine Mutter fragte ihn überrascht, ob er nicht recht bei Sinnen wäre, mir solche Ratschläge zu geben; der Philosoph antwortete ihr gar nicht, sondern fuhr fort, mir in Umrissen eine Erklärung zu geben, wie sie meinem einfachen und reinen Verstand angemessen war. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine wirkliche Freude kostete! Wäre Signor Baffo nicht gewesen, so hätte dieser Augenblick genügt, meine Erkenntnis zu erniedrigen; denn die Feigheit der Leichtgläubigkeit würde sich hineingeschlichen haben.«

So aber erwachte in dem Jungen der Aufklärer, der sich traute, selbst zu denken. Was der gebildete Baffo ihn dabei gleichsam en passant lehrte, ist die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung der Sinne für sich genommen nichts ist, sondern erst durch den sie interpretierenden Geist Bedeutung erhält. Für die Philosophen der Aufklärung war aber auch klar, dass der Geist nur auf der Grundlage der Sinneserfahrung urteilen kann, dass er »seine befreiende Wirkung auszuüben«, zuvor sozusagen »durch die Schule der Sinne gegangen« sein müsse (Hartmut Scheible).

Sinnlichkeit und Intellektualität, Vorurteilsfreiheit und Unerschrockenheit kennzeichnen den weiteren Lebensweg Casanovas. »Der Patriarch von Venedig erteilt mir die niederen Weihen.« – »Ich werfe das geistliche Gewand ab und ziehe den Soldatenrock an.« – »Ich gebe den militärischen Beruf auf und werde Geigenspieler.« – »Ich werde ein Taugenichts.« – »Ein großes Glück entreißt mich der Erniedrigung, und ich werde ein großer Herr.« – »Unordentlicher Lebenswandel« – »Ich gehe nach Cesena, um einen Schatz zu haben.« – »Ich werde fromm.« – »Bavois bringt mich zu meinem früheren Lebenswandel zurück.« – »Ich verliere im Spiel.« – »Ich komme wieder zu Geld.« Dazwischen Reisen nach Rom, Neapel, Korfu, Parma, Genf, Paris, München, Wien und immer wieder Affären, auch ernsthafte Liebesverhältnisse, Eheversprechungen.

»Die Liebe war ein sensualistisches Vergnügen, solange man Gelegenheit und nicht die Pocken hatte, noch alle Zähne im Mund, noch nicht fünf Kinder oder die Syphilis. Und war für Frauen und mittellose Damen die einzige Rentenversicherung, Schutz gegen Elend und Altersfolge, war Ausbildungsbeihilfe für die Kinder, seriöse Kapitalanlage. Kurzfristige Erhitzungen ergaben sich per Zufall, bei einer gemeinsamen Kutschfahrt, auf einem Ball, im Theater und auf der Straße, Verhältnisse jedoch wurden geplant: Casanova, penibler Chronist seiner Gesellschaft und Buchhalter aus Neigung, zitiert unzählige Briefe, in denen jungen Damen von alten Lords für die Dauer von mindestens drei Jahren ein monatliches Nadelgeld von x, plus Wohnung und Mobiliar, plus Kutsche und zwei Bedienten angeboten wurden, nicht gerechnet, aber selbstredend erwähnt, die großzügigen Geschenke, die bei beiderseitiger Neigung … Und nicht selten wurde eine Ehe daraus« (Elke Schmitter).

Kein Don Juan

Bei Casanova wurde nie eine Ehe daraus, aber er ließ die geliebten Frauen auch nie einfach sitzen. Jüngeren Frauen, die eine Zeitlang seine Geliebten waren, richtete er die Hochzeit mit einem Mann ihrer Wahl aus, zum Beispiel einem mittellosen Handwerker, der sich eine Familiengründung von sich aus nicht leisten konnte. Casanova »brachte also seine Geliebten, um ihnen Schande zu ersparen, unter die Haube und feierte oft die Heirat mit – nicht ohne ein letztes Mal ihre Liebe zu genießen« (Burkhard Brunn).

Casanova war kein Don Juan, also ein »Verderber« von Frauen, dessen »größtes Vergnügen« es ist, »eine Frau zu verführen und sie entehrt zurückzulassen«, wie es in dem Stück »El Burlador de Sevilla« (um 1619) des spanischen Mönchs Tirso de Molina heißt, dem Erfinder dieses spanischen Wüstlings: »Sevilla nennt mich lauthals den Spötter, und das größte Vergnügen, das es für mich geben kann, ist, eine Frau zu verspotten und sie ohne Ehre zu lassen.« Casanova dagegen liebte, und er wurde geliebt, und zwar nicht wegen seiner virilen Potenz oder seiner maskulinen Machtstellung, sondern wegen seines Einfühlungsvermögens, seiner Großzügigkeit, seiner Zärtlichkeit, seines Interesses an der Persönlichkeit seines Gegenübers. Er verführte Frauen, um ihnen zu Gefallen zu sein; und er ließ sich verführen, wartete stets das Signal der Angebeteten ab.

»Bei den Affären, die er kunstvoll inszeniert oder, die Gelegenheit beim Schopfe packend, improvisiert, geht es ihm immer um den gemeinsamen Lustgewinn. Sein Ehrgeiz ist es, schöne Erinnerungen zu hinterlassen – und mitzunehmen. Ohne Frauen wäre das Leben für ihn nicht lebenswert gewesen. Aber sie waren für ihn kein Lebenszweck, sie waren für ihn die unerlässliche Voraussetzung einer absoluten Glückserfahrung, die er immer wiederholen musste, um sich des letzten Sinnes des Lebens zu vergewissern« (Nicolaus Sombart).

Es ist bezeichnend, dass Casanova häufig früheren Geliebten wieder begegnete, ohne dass eine Missstimmung zwischen ihnen zu bemerken war. Manch ehemalige Geliebte schrieb ihm noch in hohem Alter Briefe nach Dux, wo Casanova seit September 1785 als Bibliothekar des Grafen Emanuel von Waldstein seine letzten Jahre verlebte. Nicht als zynischer Frauenverächter trat Casanova auf, sondern fast schon als Feminist. Er behandelte die Frauen »nicht als inferior. Er redete mit seinen Geliebten, er hörte ihnen zu, weil er neugierig war, er behandelte sie als Partnerinnen, d. h. er respektierte sie als Menschen und als Alternative des Mannes. (…) Er verstand die Liebe als ein Fest, das – wie ein Festmahl – aus verschiedenen – und natürlich überraschenden – Gängen besteht. Das erotische Stelldichein wusste er zu inszenieren. Es ging nicht um den formlosen Vollzug. (…) Er erlöste seine Geliebten von der Vorstellung, dass Sex Unterwerfung der Frau bedeutet – und vermittelte ihnen so ein Stück Freiheit! Ein Stück der Freiheit, die er auch selbst genoss. (…) Gewalt war Casanova zuwider und in der Liebe besonders« (Burkhard Brunn).

Casanova selbst bekannte: »Ich wollte geliebt werden, das war meine fixe Idee«; deswegen sei er nie übergriffig geworden und habe »nie eine Frau ohne deren Einverständnis geliebt«; und er versichert nicht unglaubwürdig, dass vier Fünftel seines Genusses darin bestünden, die Freude der Geliebten zu empfinden.

Grundsätzlich gleich

Natürlich legte er gelegentlich auch das Gebaren eines Libertins des 18. Jahrhunderts an den Tag. Einer unverschuldet in Not geratenen adligen Mutter und ihren Töchtern bot er Hilfe an, aber er wollte aus Liebe helfen und nicht aus Mitleid. Lange verweigerte die Mutter eine Annäherung zwischen Casanova und ihren Töchtern, von denen besonders die jüngeren nicht unempfindlich für die Huldigungen des Venezianers waren. Die älteste, bereits einem neapolitanischen Marchese anverlobt, beschloss dann aber ohne das Wissen der Mutter, die inzwischen im Schuldgefängnis saß, des Kavaliers Wunsch nach Liebe zu befriedigen, um die Ehre der Schwestern zu schützen:

»›Was werden Sie für uns tun, wenn ich mit Ihnen die Nacht im Bett verbringe?‹ / ›Ich werde Ihnen zwanzig Guineen geben und Sie alle bei mir wohnen und essen lassen, solange Sie nett zu mir sind.‹ / Ohne ein Wort zu sagen, begann sie sich auszuziehen. Sie kam in meine Arme, nachdem sie vergeblich von mir verlangt hatte, die Kerzen auszumachen. Ich fand nur Ergebenheit. Sie ließ mich alles tun und beehrte mich nicht einmal mit einem einzigen Kuss. Nach einer Viertelstunde stand ich auf. (…) Ihre Gefühllosigkeit beleidigte mich so, dass ich ihr eine Zwanzigpfundnote gab und ihr in schroffem Ton befahl, sich wieder anzukleiden und auf ihr Zimmer zu gehen.« Ohne Gegenliebe und sinnliche Lust ihrerseits wollte er den Beischlaf nicht vollziehen.

Dies ist praktischer Ausdruck seiner festen Überzeugung, dass »Mann und Frau« grundsätzlich gleich beschaffen sind und »in der gleichen Weise denken«; allenfalls »Erziehung und die besonderen Lebensumstände der Frau sind es, die die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hervorbringen«, schrieb er in einer scharfen Polemik gegen einen Arzt, der den Geschlechterunterschied biologisieren wollte. Die sozialen Unterschiede aber wollte Casanova in der individuellen und persönlichen Begegnung mit seinem Gegenüber transzendieren.

Das galt nicht nur in der Begegnung mit Frauen, sondern auch mit Männern. Seine Memoiren beweisen eine grundsätzliche Offenheit gegenüber Angehörigen aller Stände; allerdings auch den Wunsch des gesellschaftlichen Parias nach oben zu gelangen und sich dort möglichst zu halten. »Sein Traum wäre es gewesen, der Vertraute und Berater eines Königs zu sein. Das war die Rolle, für die er bestimmt war. Er war der vollendete ›Cortegeano‹, was nicht heißen soll Höfling, sondern ›Mann von Welt‹ auf der höchsten sozialen Stufe. In diesem Punkt war Fortuna ihm nicht hold. Es war Casanova nicht vergönnt, seinen Traum zu verwirklichen, ›Conseiller du Prince‹ zu sein. Gott sei Dank gab es die Erfolge bei Frauen, die Erinnerung an sie, um die Misserfolge bei den Fürsten wettzumachen« (Nicolaus Sombart).

Zwölf Bände

Die Erinnerungen an die »Erfolge bei Frauen« waren für Casanova ein Mittel, sich Glücksmomente seines Lebens wieder zurückzuholen, als er kränklich und abgehalftert das Gnadenbrot seines Dienstherrn, des Grafen von Waldheim, aß. Die Französische Revolution hatte 1789 das Ancien Régime, das Casanova die Bühne des Lebens und die Möglichkeit zu reüssieren, geboten hatte, fortgefegt. Mit der neuen Zeit konnte Casanova nichts anfangen. Er begann in dem schicksalsträchtigen Jahr 1789 mit der Abfassung seiner Memoiren. Sie waren auch eine Möglichkeit, die Einsamkeit des Alters und das Gefühl, nicht mehr zu dieser Welt zu gehören, ertragen zu können.

»Ich liebte, ich wurde geliebt, ich war gesund, ich hatte viel Geld, ich verschwendete es zu meinem Vergnügen, und ich war glücklich. Dies sagte ich mir gern und lachte dabei über die dummen Moralisten, die behaupten, es gäbe kein wahrhaftes Glück auf Erden. Und grade dieses Wort ›auf Erden‹ erregt meine Heiterkeit: als wenn es möglich wäre, das Glück anderswo zu suchen! / Es gibt ein vollkommenes und wirkliches Glück, solange es fortdauert. Dieses Glück ist vergänglich, aber sein Ende bedeutet nicht, dass es nicht existiert hätte und dass derjenige, der es genossen hat, es so nicht empfunden hätte. Menschen, die sich das nicht eingestehen, oder jene, die zwar die Mittel haben, es sich zu verschaffen, es aber vernachlässigen, verdienen es nicht.«

Als Casanova am 4. Juni 1798 nach schwerer Erkrankung stirbt, hinterlässt er ein 3.600seitiges Manuskript, das er seinem Neffen Carlo Angiolini vermacht, ohne den ausdrücklichen Wunsch, es zu publizieren. Zwar wollte er die letzten einsamen Jahre nicht mehr ausführlich schildern, doch wenigstens ein weiterer Band war auf jeden Fall geplant. Die vorliegenden zwölf Bände enthalten die Geschichte seines Lebens von 1725 bis 1774.

Angiolinis Erben (die Tochter Maria und der Sohn Carlo) ließen das Manuskript über einen Mittelsmann 1820 dem Leipziger Verleger Friedrich Arnold Brockhaus anbieten. Dieser ließ es von drei Gutachtern prüfen, einer davon war Ludwig Tieck; dieser befand: »Dieser Mensch ist ganz verrucht« – und empfahl die Veröffentlichung. Auch Heinrich Heines Urteil fiel ambivalent aus: »Es ist keine Zeile in diesem Buche, die mit meinen Gefühlen übereinstimmt, aber auch keine Zeile, die ich nicht mit Vergnügen gelesen hätte.«

Brockhaus ließ das französische Manuskript von Wilhelm von Schütz übersetzen und einkürzen. Besonders bei den erotischen Erlebnissen wurde gekürzt oder der Ausdruck verschleiert. 1822 bis 1828 erschienen die zwölf Bände auf Deutsch. 1826 bis 1838 erschien im gleichen Verlag auch eine französischsprachige Ausgabe, die aber mitnichten das Original war, sondern eine Verstümmelung von Jean Laforgue. Diese Ausgabe wurde dann zur Grundlage der literarischen und sonstigen Rezeption dieses Werks bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Rund 140 Jahre, nachdem er das Manuskript für 200 Taler von den Angiolinis erworben hatte, gab der Brockhaus-Verlag den Druck des Originals frei (erschienen 1960–1962 in Wiesbaden und Paris). Zwischen 1983 und 1988 erschien endlich die vollständige deutsche Übersetzung, herausgegeben von Günter und Barbara Albrecht, im Gustav-Kiepenheuer-Verlag, Leipzig und Weimar.

Vielfach wurden die Memoiren Casanovas vor allem hinsichtlich »scharfer Stellen« gelesen, manchmal auch verfälschende Extrakte daraus hergestellt, die Casanovas Namen zum Synonym für einen Schürzenjäger werden ließ. Tatsächlich beschäftigt sich nur rund ein Viertel der Lebenserinnerung mit erotischen Abenteuern, und diese bedienen kein pornografisches Interesse.

Materialistischer Autor

Der eigentliche Gewinn einer Lektüre dieser Erinnerungen ist der kulturhistorisch wertvolle, tiefe und detaillierte Einblick in das Leben aller Stände um die Mitte des 18. Jahrhunderts, den ein vielfach versierter und wohl vernetzter Kopf mit einem guten Gedächtnis zu geben in der Lage war. Freilich gehört dazu nicht zuletzt auch das Verhältnis der Geschlechter, die Realität der Liebe, die Casanova bei allen anderen Interessen durchaus wichtig war, vielleicht sogar doch die »Hauptsache«, wie er einmal beiläufig anmerkte.

Die Auskünfte, die Casanovas Lebensgeschichte gibt, sind sehr genau. Sogenannte »Casanovisten«, das sind Spezialistinnen und Spezialisten, die die Erzählungen in dieser Lebensgeschichte auf ihre historische Korrektheit hin überprüfen, haben beweisen können, dass Casanova durchweg wahrheitsgemäß erzählt und sich nur selten in einer Datierung oder Lokalisierung irrt. Besonderen Wert hat die Schilderung Casanovas dadurch, dass er weitgehend ideologiefrei erzählt. Casanova ist »ein materialistischer Schriftsteller, der in manchmal unschuldiger Aufrichtigkeit eine Epoche schildert, mit der er ganz eins gewesen ist« (Elke Schmitter).

Die nachgelassene »Histoire de ma vie« ist nicht Casanovas einziges Werk. Knapp 30 Schriften erschienen von ihm zu Lebzeiten, darunter auch autobiografische Schriften wie 1780 die novellenartige Schilderung eines Duells, das er 1766 in Warschau bestand; oder die abenteuerliche »Histoire de ma fuite des prisons de la République de Venise, qu’on appelle les plombs« (1787; die Flucht aus den Bleikammern), die er in zahllosen Salons in den Hauptstädten und an den Höfen Europas immer wieder mit dem größten Erfolg mündlich erzählt hatte (und wovon auch im elften bis 16. Kapitel des vierten Bands der Lebensgeschichte die Rede ist); oder auch die Tragödie »Zoroastre« (1752), eine Geschichte Polens (1774–1775), eine Übersetzung von Homers »Ilias« (1775–1778), der fünfbändige phantastische Roman »Icosaméron ou Histoire d’Edouard et d’Elisabeth« (1788) sowie zahlreiche kleinere wissenschaftliche Werke (über Bergbau, Binnenschiffahrt, Chemie). Doch keines dieser Werke hätte Casanova bei der Nachwelt unvergesslich gemacht. Zu einem Autor der Weltliteratur wurde er allein durch die Memoiren.

Der Fürst Karl Joseph de Ligne, ein Onkel des Grafen von Waldstein, bei dem Casanova zuletzt lebte, tadelte 1795 Casanovas Stil in seinen philosophischen und wissenschaftlichen Abhandlungen als »langatmig, diffus und schwerfällig«; wenn Casanova aber »eine Geschichte zu erzählen habe, wie zum Beispiel seine Abenteuer, dann mit solcher Originalität, Naivität und dramatischem Geschick (…), dass man ihn dafür nicht genug bewundern kann. (…) Seine bewundernswerte Phantasie, die Lebhaftigkeit seiner Nation, seine Reisen, die Berufe, die er ausgeübt hat, seine Standhaftigkeit bei allem Mangel an physischen und moralischen Gütern machen ihn zu einem ganz außergewöhnlichen Mann« – dessen Lebenserinnerungen auch heute noch fesseln können.

Anmerkung:

1 Burkhard Brunn: »Casanova, von der Liebe abgesehen. Der soziale Abenteurer großen Stils«, Frankfurter Rundschau, Nummer 124, Pfingstausgabe, 30. Mai bis 1. Juni 1998

Arnd Beise ist Professor für Germanistik an der schweizerischen Universität Freiburg. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 28. Oktober 2024 über Opitz’ »Buch von der Deutschen Poeterey«: Revolution der Dichtkunst

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