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Aus: Ausgabe vom 14.04.2025, Seite 12 / Thema
Gewerkschaften

Ein Armutszeugnis

Verdi verkauft das vorläufige Tarifergebnis für den öffentlichen Dienst als »bestmögliche Lösung«. Viele Mitglieder aber fühlen sich verraten
Von Andreas Buderus
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Kampfbereitschaft, die sich wegen der Gewerkschaftsführung nicht auszahlt: Allein in Nürnberg nahmen 12.000 Menschen an einer Verdi-Großdemonstration teil (13.2.2025)

»Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.« – Karl Marx

Das am 6. April von Verdi-Chef Frank Werneke präsentierte, von der Bundestarifkommission öffentlicher Dienst (BTK öD) mehrheitlich beschlossene Tarifergebnis für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst hat in weiten Teilen der Mitgliedschaft für Enttäuschung und Empörung gesorgt. Dessen Empfehlung durch den Verdi-Bundesvorstand (Buvo) entspricht nahezu der Eins-zu-eins-Übernahme des von dem CDU-Mann Roland Koch erdachten Schlichtungsergebnisses, das in eklatantem Widerspruch zu den von Verdi ursprünglich erhobenen Forderungen steht. Was seitens der Gewerkschaftsführung als »schwieriger Abschluss in schwierigen Zeiten« verkauft wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein weiterer schmerzlicher Rückschritt: ökonomisch, sozialpolitisch und gewerkschaftspolitisch.

»Die Antwort war nein«

Die Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Forderungen der Gewerkschaft Verdi und der nun durch die BTK öD der Basis nur »mit Mehrheit« empfohlenen »Einigung« könnte größer kaum sein. Sie offenbart einen tiefen Riss zwischen gewerkschaftlicher Führung und Mitgliedschaft. Bereits aktuell fehlen im öffentlichen Dienst 570.000 Beschäftigte; insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, der Verwaltung und im ÖPNV. Zudem wird in den nächsten zehn Jahren ein weiteres Drittel der Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand gehen. Arbeitsverdichtung, überwiegend nur mäßige Vergütung und unattraktive Arbeitsbedingungen mit teilweise deutlich höheren Wochenarbeitszeiten als in der freien Wirtschaft sind schon heute Alltag der Beschäftigten. Gegen diese Zustände und für eine deutliche Verbesserung ist die Gewerkschaftsbasis in den vergangenen Monaten während der Tarifverhandlungen auf die Straße gegangen und hat die Arbeit niedergelegt. Wiederholte und teilweise mehrtägige Warnstreiks mit großer Beteiligung bis in die Stadtverwaltungen, Flughafenstreiks, das Bestreiken von Schleusen der Wasserschifffahrt und der OPs in den Krankenhäusern zeigen deutlich, dass die Verdi-Basis längst den Kaffee auf hat und bereit ist, für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen aktiv zu werden. In der letzten Woche vor der dritten Verhandlungsrunde engagierten sich bundesweit mehr als 150.000 Kolleginnen und Kollegen aktiv bei Demonstrationen, Arbeitsniederlegungen und weiteren Aktionen.

Die Tatsache, dass selbst in der offiziellen Verdi-Verlautbarung erwähnt werden muss, dass der Beschluss der BTK öD nur »mit Mehrheit«, und das auch noch nach »langer und kontroverser Debatte« erfolgte – so sollen aus gut unterrichteten Kreisen alle Mitglieder der BTK öD aus dem Landesbezirk NRW gegen die Empfehlung zur Annahme gestimmt haben –, lässt erahnen, dass der innerorganisatorische Riss bereits bis tief in die Gremien reicht. Das ist um so bemerkenswerter, als es gut gepflegte gewerkschaftliche Tradition ist, dass Tarifkommissionen Geschlossenheit demonstrieren und, wenn schon nicht »einstimmig«, dann mindestens »mit großer Mehrheit« beschließen; dies um so mehr, je größer der Tarifbereich ist – und je mehr öffentliche Aufmerksamkeit die jeweilige Tarifrunde hat.

Neben den großen Tarifrunden der IG Metall (IGM) in der Metall- und Elektroindustrie und denen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) – und teilweise der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) – bei der Deutschen Bahn gibt es aktuell wohl kaum eine Auseinandersetzung, die mehr Aufmerksamkeit verdient – und auch bekommt – als die Verdi-Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (Bund und Kommunen). Die Wirkungen und Wahrnehmungen der Warnstreiks in den kommunalen Kliniken, Kitas, beim ÖPNV und nicht zuletzt den städtischen Müllabfuhren und Stadtreinigungen haben dies einmal mehr erfreulich und teilweise auch olfaktorisch deutlich gemacht. Da gab es endlich einmal wieder einen Hauch von »Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still«.

Vor diesem Hintergrund klingt es mehr als zynisch – und fühlt sich für viele der Aktiven wie ein Schlag ins Gesicht an –, wenn jetzt unter der Überschrift »Wir haben eine Einigung!« im zentralen Verdi-Flugblatt stumpf konstatiert wird: »Ein Tarifergebnis ist immer ein Ausdruck von Kräfteverhältnissen. Deshalb war auch die Frage entscheidend: Sehen wir Spielraum, mit diesen Arbeitgebern zu dieser Zeit vor dem Hintergrund neuer politischer Verhältnisse noch mehr rauszuholen? Die Antwort war nein.«

Jenseits der Tatsache, dass nach der Satzung und den internen Richtlinien die Tarifrunde erst nach Beendigung der jetzt erforderlichen Mitgliederbefragung beendet ist – von einer »Einigung« also tatsächlich noch gar nicht die Rede sein kann –, zeugt diese Formulierung des für die Pressearbeit zuständigen Verdi-Buvos einerseits von einer tiefsitzenden Angst des Apparates vor der Dynamik und Energie der eigenen Basis, andererseits von dem unbedingten, ans zwanghafte grenzenden Bedürfnis zur Beibehaltung des eingeschlagenen Burgfriedenskurses in Kriegszeiten. Dazu muss der Basis weisgemacht werden, dass »die, die es wissen« keine Chance zu einer relevanten und vor allem grundsätzlichen Änderung der von vielen bereits als unerträglich empfundenen Zustände sehen; oder, wie es im sozialpartnerschaftlich disziplinierten Reflex seitens einer hohen Funktionärin direkt hieß: »Du darfst unsere Beschäftigten nicht überfordern. Wenn sie die Revolution wollten, dann wären sie nicht im öffentlichen Dienst.« Mit solchen in der Tat mehr als blödsinnigen Äußerungen – denn um Revolution geht es hier erkennbar nicht – wird versucht, die organisationsinternen Kritiker in die Ecke von »Spinnern ohne Ahnung« zu stellen und die eigene Unfähigkeit und vor allem Unwilligkeit zu übertünchen, selbst den alltäglichen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems aufgrund der eigenen persönlichen tiefen Systemintegration auch nur im Ansatz im Interesse der Mitglieder erfolgreich zu führen.

Reallohnverlust

Verdi hatte für eine Laufzeit von zwölf Monaten eine Lohnerhöhung von acht Prozent, mindestens jedoch um 350 Euro (Ausbildungsvergütungen und Entgelte für Praktikanten monatlich 200 Euro mehr) gefordert – eine Notwendigkeit angesichts der anhaltenden Inflation, besonders in Bereichen des täglichen Bedarfs. Im Kontrast dazu bietet das jetzt empfohlene Ergebnis bei einer Laufzeit von sage und schreibe 27 Monaten: drei Nullmonate, anschließend drei Prozent bis April 2026, dann weitere 2,8 Prozent.

Das liegt nicht nur – entgegen der offiziellen Verdi-Verlautbarung – auf zwölf Monate gerechnet deutlich unter der aktuellen durchschnittlichen Inflationsrate von 2,4 Prozent, sondern insbesondere jener für Mieten (plus sechs Prozent), Energie (plus drei Prozent), Lebensmittel (plus vier bis fünf Prozent), Mobilität (plus fünf bis zehn Prozent), kommunale Kitagebühren (teilweise plus 20 Prozent und mehr), also jenen Kostenblöcken, die für abhängig beschäftigte Durchschnitts- und Wenigverdiener besonders stark zu Buche schlagen. Angesichts der aufgrund der ausufernden Kriegskreditpolitik erwartbar weiter eskalierenden Teuerung ist dieser Abschluss eine faktische Lohnkürzung mit teilweise erheblichen Realeinkommensverlusten in Zeiten zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit.

Die ursprünglichen Forderungen zielten auf mehr Entlastung: drei zusätzliche Urlaubstage, mehr Zeitsouveränität und Flexibilität über ein »Meine-Zeit-Konto«, Rückkehr zur 38,5-Stunden-Woche, für Beamtinnen und Beamte Reduzierung und Vereinheitlichung auf 39-Stunden-Woche, Wiederermöglichung/Neuregelung von Altersteilzeit, für die Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen eine bezahlte Pause in der Wechselschicht und die tarifvertraglich garantierte unbefristete Übernahme junger Beschäftigter nach erfolgreicher Ausbildung und Eingruppierung in »Erfahrungsstufe zwei«.

Geblieben ist davon fast nichts: ein einzelner freier Tag ab 2027, die Möglichkeit, die erhöhte Jahressonderzahlung (kein echtes 13. Monatsgehalt) in bis zu drei freie Tage umzuwandeln, was jedoch faktisch bedeutet: Beschäftigte »kaufen« sich ihre freien Tage selbst – mit ihrem eigenen Geld. Und für die Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern gilt selbst das nicht einmal – mit der zynischen Begründung, man finde dort keinen Ersatz. Speziell dazu heißt es in der offiziellen Verdi-Verlautbarung: »Sie (die ›Arbeitgeber‹, A. B.) haben darauf bestanden, dass die Kolleg*innen in den Krankenhäusern und der Pflege von diesem Wahlmodell (Umwandlung Jahressonderzahlung in bis zu drei freie Tage, A. B.) ausgenommen werden, und das mit der dünnen Personaldecke begründet.« Tja, da kann man wohl nichts machen, Herr Werneke, wenn die »Arbeitgeber« da so deutlich drauf bestehen …

Statt der dringend erforderlichen Entlastung erleben die Beschäftigten infolge dieses Tarifabschlusses also weitere Arbeitsverdichtung.

Das vorgeschlagene Ergebnis vertieft die soziale Kluft innerhalb des öffentlichen Dienstes. Die Erhöhung der Jahressonderzahlung bevorzugt deutlich die höheren Entgeltgruppen: EG 1–8: plus 0,5 Prozent eines Monatslohns (in Krankenhäusern um 5,5 Prozent), EG 9a–12: plus 15 Prozent, EG 13–15: plus 33 Prozent. Ein klarer Bruch mit dem Prinzip der Solidarität. Beschäftigte in unteren Lohngruppen – oft Frauen und Migranten – bleiben, wieder einmal, auf der Strecke. Die soziale Schere wird damit tarifvertraglich legitimiert. Wer wenig hat, erhält weiterhin wenig – wer mehr »verdient«, profitiert überproportional.

Die Option zur »freiwilligen« 42-Stunden-Woche markiert zudem einen gefährlichen Kurswechsel. Was als »freiwillig« daherkommt, ist in der Realität angesichts von Personalmangel und ökonomischem Druck ein faktischer Zwang. Besonders prekär Beschäftigte werden keine Wahl haben. Die Aushöhlung des Acht-Stunden-Tages und weiterer hart erkämpfter sozialer Standards beginnt hier und ist Wasser auf die Mühlen der »Arbeitgeberverbände« und ihrer neoliberalen Einpeitscher in der Politik. Schon jetzt fordern Wirtschaftsverbände die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Verlängerung der gesetzlichen Arbeitszeit, die Abschaffung von Feiertagen und deutliche Einschränkungen des Streikrechts.

Ökonomen wie der Ifo-Chef Clemens Fuest sprechen offen von der Abschaffung oder Kürzung des Elterngeldes. Der soziale Kahlschlag droht größer zu werden als jener unter der Ägide der »Agenda 2010«-Architekten. Selbst Verdi-Chef und Verhandlungsführer Werneke ist das offensichtlich nicht verborgen geblieben, weshalb er sich auch direkt in einer Pressekonferenz fürchterlich kämpferisch zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass niemand gedrängt werden könne, mehr zu arbeiten. »Und: Wer freiwillig mehr arbeitet, erhält für die zusätzlichen Stunden einen Aufschlag.« Immerhin …

Vertrauensverlust

Das Ergebnis hat unmittelbare Auswirkungen auf das Gemeinwohl. So droht die weitere Abwanderung aus dem Gesundheits- und Erziehungswesen und der öffentlichen Verwaltung. Die Wiederbesetzung offener Stellen wird angesichts zunehmenden Fachkräftemangels schwieriger. Die ohnehin angespannte Versorgungslage in Kitas, Schulen und Krankenhäusern verschärft sich. Die Qualität öffentlicher Leistungen verschlechtert sich weiter. Familien – insbesondere Frauen – müssen ihre Arbeitszeit reduzieren. Hinzu kommt: Steigende Arbeitszeiten und zunehmende Arbeitsverdichtung erhöhen bei vielen Betroffenen den Stress und die psychische Belastung mit den entsprechenden gesundheitlichen und sozialdynamischen Folgen.

Die jetzt vom Verdi-Buvo in der BTK öD gegen erhebliche Widerstände durchgedrückte Empfehlung, die den Mitgliedern und der Öffentlichkeit satzungswidrig und gezielt bereits als finale »Einigung« verkauft wird, wird von vielen Aktiven an der Verdi-Basis als Verrat an den berechtigten und gut begründeten Forderungen und am großen und leidenschaftlichen gewerkschaftlichen Engagement erlebt. Die erfolgreichen, weil öffentlich wahrnehmbaren und spürbaren und für die Arbeitgeber schmerzhaften Warnstreiks der vergangenen Monate, der massive Mitgliederzuwachs, das enorme Engagement – all das stünde in krassem Widerspruch zu einem Abschluss, der die Kernforderungen aufgibt, pointiert zum Ausdruck gebracht in einem offenen Brief der Verdi-Vertrauensleute der Stadtverwaltung Dortmund an die BTK öD:

»Liebe Kolleg:innen der Bundestarifkommission, wir, der kämpferische Pott, richten uns mit diesem offenen Brief an euch, um unsere grenzenlose Empörung über die Ergebnisse der Schlichtung auszudrücken. Was hier vorgelegt wurde, ist nicht weniger als ein schamloser Angriff auf die Rechte der Arbeiter:innen im öffentlichen Dienst und ein Kniefall vor den Arbeitgebenden.

Diese Schlichtung ist ein Verrat!

Ein Verrat vor allem an diejenigen, welche sich für alle Beschäftigten auf die Straße begeben haben und neu oder wieder eingetreten sind, um uns allen den Rücken zu stärken.

Wir haben in den vergangenen Monaten gestreikt, gekämpft, unsere Arbeitskraft niedergelegt – nicht, um am Ende mit einem faulen Kompromiss abgespeist zu werden! Eine ›freiwillige‹ 42-Stunden-Woche ist eine Farce! Eine schleichende Aushöhlung unseres Tarifsystems, ein neoliberales Gift, das darauf abzielt, uns noch weiter auszuquetschen. Wir wissen alle, was ›freiwillig‹ in diesem System bedeutet: faktischer Zwang, erzwungen durch Arbeitsverdichtung, Personalnot und perfiden Druck von oben. Die Arbeitgeber versuchen, uns die Mehrarbeit unterzujubeln, während sie gleichzeitig unsere Löhne nicht ausreichend anpassen.

Wir fordern euch, die Bundestarifkommission, auf: Lasst euch nicht zum Spielball dieser miesen Arbeitgeberstrategie machen! Werdet eurer Verantwortung gerecht! Unsere Zeit und unsere Kraft sind nicht verhandelbar. Die 42-Stunden-Woche gehört vom Tisch!

Wir erwarten, dass ihr euch klar gegen dieses Schlichtungsergebnis stellt und unseren Kampf fortsetzt – konsequent, kompromisslos und mit vollem Einsatz! Die Basis steht hinter euch, aber nur, wenn ihr den Willen der Kolleg:innen ernst nehmt. Verliert ihr uns, verliert ihr den Kampf!«

Mit der nahezu vollständigen Akzeptanz der Schlichterempfehlung – initiiert durch den CDU-Rechten Koch – senden Verdi-Buvo und BTK öD ein gefährliches und fatales Signal: Die Sparlogik der Kriegswirtschaft wird akzeptiert. Aufrüstung geht vor öffentliche Daseinsvorsorge. Weitere soziale Kürzungen und Spaltung werden hingenommen.

Die Tarifrunde 2025 ist nicht eine Tarifauseinandersetzung wie jede andere, sondern Teil eines größeren und historischen gesellschaftspolitischen Konflikts. Während vom bereits abgewählten 20. Bundestag per Kreditaufnahme mehr als eine Billion Euro für Rüstung, Kriegsvorbereitung und Kriegsbeteiligung bereitgestellt werden, werden den 2,5 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes unter dem Vorwand, es sei »kein Geld da« Reallohnverlust und Arbeitszeitverlängerung angeboten. Ein einziger »Leopard«-Panzer kostet rund 27 Millionen Euro. Für denselben Betrag könnten neun Kitas gebaut werden. Doch das politische Ziel der kommenden Regierungsmannschaft – sehr wahrscheinlich geführt vom ehemaligen Blackrock-Manager Friedrich Merz – ist klar: Aufrüstung, Kriegsvorbereitung und Kriegswirtschaft statt Sozialstaat.

Sich wehrlos machen

Die wahren Gründe für die kommunale Finanznot liegen nicht in überhöhten Löhnen, sondern in einem strukturell falschen Steuersystem, das die Vermögenden schont, die Normalverdiener überproportional belastet und den Gemeinden zu viele Aufgaben bei zu geringen Mitteln überträgt. Selbst vollständiger Lohnverzicht könnte diese Löcher nicht stopfen. Die Frage, wo die Steuermilliarden versickern – nicht nur bei der angeblich kaputtgesparten und mit mehr als 90 Milliarden (2025) angeblich nach wie vor »chronisch unterfinanzierten« Bundeswehr –, bleibt dabei offen.

Trotz Inflation, Massenentlassungsdrohungen, Kürzungen und Krise würde Verdi mit diesem Tarifabschluss – so wie schon vorher beispielsweise die IGM, die EVG, die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) – gute Miene zum bösen Spiel machen. Tarifverträge mit Laufzeiten bis zu 36 Monaten zwingen die Organisationen in jahrelange »Friedenspflichten« gegenüber den Kriegsprofiteuren und deren Steigbügelhaltern in den Parlamenten und Regierungen – und das in Zeiten, in denen die Nutzung des Streiks als die stärkste Waffe der Arbeiterbewegung so dringend erforderlich ist wie schon lange nicht mehr. Das alles angesichts der Tatsache, dass in den kommenden Monaten und Jahren eher schneller als langsamer dem übergroßen Teil der Bevölkerung die »Kanonen-statt-Butter«-Quittung der Herrschenden mit zunehmender Arbeitsverdichtung, weiteren Preissteigerungen, Grundrechteabbau, Wiedereinführung des Kriegsdienstes und verstärkter aktiver Kriegsbeteiligung präsentiert werden wird.

Und wenn die »Schuldenbremse« plötzlich – wenn auch nicht überraschend – vom abgewählten 20. Bundestag in großer Kumpanei von CDU/CSU, SPD und Bündnisgrünen für aktive Kriegsvorbereitung und Kriegführung ohne Begrenzung ausgesetzt wird, heißt es mit Merz: »Whatever it takes.«

Statt Lohnsicherung, Entlastung und sozialer Gerechtigkeit brächte das jetzt empfohlene Tarifergebnis Reallohnverluste, Arbeitszeitverlängerung durch die Hintertür und eine Vertiefung der Ungleichheit. Wer kämpft, erwartet mehr als kosmetische Zugeständnisse. Wer streikt, will tatsächliche Veränderung – keine verschärfte Verwaltung des Mangels.

Gewerkschaften entstanden historisch als Ausdruck kollektiven Widerstands gegen kapitalistische Ausbeutung – zur Abwehr von Lohnsenkungen, Verelendung und Vereinzelung. Als solche waren sie frühe Formen der Klassensolidarität. Doch sie bewegen sich strukturell innerhalb des kapitalistischen Rahmens – was ihnen eine doppelte Funktion gibt: Sie können kämpferische Klassenorganisation oder integrierende Systeminstanz sein.

Marx und Engels sahen in ihnen notwendige, aber begrenzte Organisationen der Lohnabhängigen. Ihre Wirksamkeit sei an politische Erweiterung gebunden – als »Kriegsschulen des Proletariats« müssten sie über den ökonomischen Tageskampf hinaus zum bewussten Werkzeug der Emanzipation werden. Ohne diese Orientierung drohe ihre Degeneration zum Agenten der Stabilität der kapitalistischen Reproduktionsbedingungen.

Lenin analysierte, dass gerade in großen gesellschaftlichen Krisen wie Kriegen und Revolutionen die Begrenztheit des ökonomischen Kampfs offensichtlich werde. Der »Ökonomismus« – die Konzentration auf rein wirtschaftliche Forderungen – wirke dann bewusstseinshemmend. Das »reine Gewerkschaftertum« sei unfähig, revolutionäre Prozesse voranzutreiben, ja, es blockiere sie sogar, wenn spontane Bewegungen der Massen entstünden.

Trotzki schärfte diese Kritik im Zeitalter des Imperialismus: Gewerkschaften seien zur Verlängerung des bürgerlichen Staates in die Arbeiterbewegung hinein geworden – vor allem durch die Bürokratie, die ihre soziale Basis in der Arbeiteraristokratie hat. Ihre »Neutralität« sei ein Mythos. »Reformistische Gewerkschaften« seien tief in die Verwaltung des Kapitalismus eingebunden und verteidigten das System in Krisenzeiten ganz offen. Dennoch dürften Revolutionäre diese Organisationen nicht kampflos aufgeben. Der Kampf um die Unabhängigkeit vom bürgerlichen Staat, verstanden als politische Unabhängigkeit auf Grundlage eines revolutionären Programms, und die innergewerkschaftliche Demokratie seien zentral.

»Nein!« sagen

Die vorliegende Empfehlung steht nicht nur in krassem Widerspruch zu den berechtigten Forderungen, sondern auch zu den realen Bedürfnissen der Beschäftigten – und zu den politischen Herausforderungen unserer Zeit. Ein finaler Abschluss auf Basis der jetzt vorliegenden Empfehlung wäre nicht weniger als der kapitulantenhafte Kniefall vor den Kriegstreibern des militärisch-industriellen Komplexes und ihrer Steigbügelhalter in der Politik. Das zumindest wird sogar zugestanden vom Verdi-Buvo: »Einiges mussten wir fallen lassen, weil es keine Bereitschaft zur Bewegung bei der Gegenseite gab.« Ehrlicher geht es wohl nicht …

Die Antwort darauf muss lauten: »Nein!« Die Mitgliederbefragung läuft noch bis zum 9. Mai. Allen Verdi-Mitgliedern sei angeraten, die vorläufige Tarifeinigung abzulehnen. Verdi und die DGB-Gewerkschaften müssen endlich ihre Rolle der systemintegrierenden Sozialpartnerschaft kritisch hinterfragen und statt dessen einen klassenautonomen Standpunkt mit dem Ziel der kämpferischen Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder entwickeln. Ein Abschluss auf Basis der jetzt vorliegenden Empfehlung wäre nicht nur ein tarifpolitisches Desaster, sondern auch eine historische strategische Niederlage der Gewerkschaftsbewegung – mit spürbarem Risiko erheblicher Mitgliederverluste und weiter schwindender gesellschaftlicher und politischer Bedeutung.

Jetzt ist die Zeit, sich zusammenzuschließen, gegenseitig zu stärken und in Verdi und anderen Strukturen für einen echten Kurswechsel zu kämpfen – weg von verwalteter Stagnation, hin zu mutigem Widerstand. Basisinitiativen wie das »Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Verdi«, »Sagt nein! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden!« oder die »Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften« (VKG) sind dazu vielversprechende Ansätze. Diese gilt es zu stärken.

Andreas Buderus schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. Februar 2025 über den Panzerbau in Görlitz und das Einknicken der Gewerkschaften vor dem Kriegskurs der Regierung: »Konversion pervers«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Wolfgang S. aus Berlin-Mariendorf (14. April 2025 um 12:53 Uhr)
    Marx hat zur Gewerkschaftsarbeit Grundsätzliches und nach wie vor Richtiges gesagt. Die opportunistischen Gewerkschaftsführer haben das offenbar nicht gelesen und agieren eher im Sinne Lasalles: Die da oben wollen doch auch bloß das Gute. Wir müssen mit denen reden. Was kommt raus: Weniger als die Rentner ohne jeden Streik automatisch jedes Jahr im Juni zugesprochen kriegen. Freilich freue ich mich als Rentner darüber. So soll es auch bleiben. Aber ich habe keine Kinder mehr großzuziehen oder ein Haus abzubezahlen. Deswegen sind 27 Monate Laufzeit bei Zuwächen von unter drei Prozent pro Jahr inakzeptabel.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in H.-W. S. aus Düsseldorf (14. April 2025 um 10:15 Uhr)
    Der Analyse von Andreas ist zuzustimmen! Dies gilt insbesondere mit Blick auf den Kurs der Führung, die sich in den Burgfrieden integriert hat. Einen Aspekt möchte ich ergänzen: Es hat seit 2005 keine Tarifforderung der Mitglieder gegeben, in der nicht klar eine Laufzeit von 12 Monaten gefordert wurde. Die Führung hat in den Verhandlungen stets dagegen entschieden: 1.10.2005 – 31.12.2007 27 Monate 1.1.2008 – 31.12.2009 24 Monate 1.1.2010 – 29.2.2012 26 Monate 1.3.2012 – 28.2.2014 24 Monate 1.3.2014 – 29.2.2016 24 Monate 1.3.2016 – 28.2.2018 24 Monate 1.3.2018 – 31.8.2020 30 Monate 1.9.2020 - 31.12.2022 28 Monate 1.1.2023 - 31.12.2024 24 Monate. Jetzt geplant nach »Einigung«: 1.4.2025 – 31.3.2027 27 Monate, davon 3 Nullmonate. Jede Kollegin, jeder Kollege weiß, dass Phasen der Mobilisierung immer Phasen des Aufbaus der Organisation sind. Die Mobilisierungen, selbst im Modus von zersplitterten Einzelaktionen, mal hier, mal da, mal jene, mal eine andere Gruppe zum Warnstreik aufgerufen, haben die Kampfbereitschaft der Kolleg/innen unter Beweis gestellt. Dagegen richtet sich der Kurs einer Führung im Burgfrieden, die wie der Vorsitzende am 8.3. in der Augsburger Allgemeinen – ohne jedes Mandat! – zu den Kriegskrediten erklärt, »finde ich richtig«. Wir stehen vor notwendigen und harten Kämpfen für die Rückeroberung der Unabhängigkeit unserer Gewerkschaften. H.-W. Schuster
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas B. aus Berlin (15. April 2025 um 09:20 Uhr)
      Lieber H.-W., danke für diese sehr relevanten Ergänzungen, die das ganze Ausmaß des beschriebenen Oligarchisierungsprozesses der Organisation nochmals trefflich unterstreichen ebenso wie die zunehmend dringende Notwendigkeit des Kampfes um die »Rückeroberung der Unabhängigkeit unserer Gewerkschaften«, wie Du es nennst. Es ist hohe Zeit!

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