Danke fürs Drama
Von Holger Römers
Es war bemerkenswert genug, dass Tadej Pogačar (UAE Team Emirates – XRG) am Sonntag sein Debüt bei Paris–Roubaix gab. Denn seit 1992 hatte kein Tour-de-France-Gewinner mehr das Risiko in Kauf genommen, das dieses Monument des Radsports birgt. Die bloße Erwartung von denkbar gröbstem Kopfsteinpflaster macht auch das Rasen über Asphalt gefährlicher, wie Jasper Philipsen (Alpecin – Deceuninck) nach knapp zwei Fünfteln des 259 Kilometer langen Kurses erfahren musste: Der Zweite der beiden Vorjahre rutschte aus einer Kurve, als der erste von 30 secteurs pavés gerade bevorstand.
Trotz sichtlicher Blessuren konnte der Belgier 103 Kilometer vor dem Ziel den ersten Angriff Pogačars ebenso mitgehen wie den folgenden Konter seines eigenen Kollegen Mathieu van der Poel. Dagegen wurde er vorübergehend distanziert, als die beiden Topfavoriten das aggressive Muster zehn Kilometer später im Wald von Arenberg wiederholten, kurz bevor die Ausreißergruppe des Tages eingeholt war. 87 Kilometer vorm Ziel erzwang van der Poel, der niederländische Sieger von 2024 und 2023, auf Asphalt eine Vorentscheidung, indem er aus der Favoritengruppe ein Quintett abspaltete, zu dem neben Philipsen und Pogačar auch Mads Pedersen (Lidl – Trek) gehörte. Der 29jährige dänische Podiumskandidat reagierte 16 Kilometer später wiederum als erster auf eine Attacke des dreifachen Gewinners des Gelben Trikots – nur um prompt vom fiesen Kopfsteinpflaster mit einer Reifenpanne bestraft zu werden. Nachdem van der Poel mit etwas Mühe zum slowenischen Hauptkonkurrenten herangefahren war, konnte er Tempoarbeit verweigern, bis Philipsen wieder den Anschluss gefunden hatte.
Da beide Alpecin-Fahrer im Sprint Pogačar überlegen sind, war der mittelfristig zu weiteren Angriffen genötigt. Denen wollte van der Poel wohl zuvorkommen, indem er 46 Kilometer vor dem Ziel selbst beschleunigte – und bloß seinen Kollegen endgültig abhängte. Acht Kilometer später verschärfte der slowenische Weltmeister das Tempo – und prallte gegen eine Barriere, die in einer Kurve die Zuschauermassen zurückhielt. Während der Niederländer solo weiterzog, blieb hinter ihm eine Wiederholung des Wunders der Strade Bianche aus. Pogačar musste 20 Minuten später sein lädiertes Fahrrad wechseln, sein Rückstand überschritt nun bald die Minutengrenze. So war van der Poels dritter Roubaix-Sieg in Folge nicht einmal durch einen Platten gefährdet, der ihn seinerseits zum späten Radwechsel zwang. Auch dass ihm ein Zuschauer eine Trinkflasche an den Kopf warf, stoppte ihn nicht. Mit acht Siegen bei drei von insgesamt fünf Monumenten zog der 30jährige statistisch mit dem vier Jahre jüngeren Rivalen gleich. Dem musste man für das gebotene Spektakel freilich um so dankbarer sein, da er mit einem (offiziösen) Wettkampfgewicht von 66 Kilo kaum für flache Kopfsteinpflasterklassiker prädestiniert ist. Der immerhin vier Kilo schwerere Pedersen, der den Sprint der Verfolgergruppe um Platz drei gewann, wartet indes weiter auf seinen ersten Monumentsieg.
Vor der sechsten Ausgabe des Frauenrennens hatte dagegen Team SD Worx – Protime alle Trümpfe in der Hand. Da Elisa Longo Borghini (UAE Team ADQ) wegen einer Hirnerschütterung weiter ausfiel, stand keine zweite Klassikerspezialistin vom Kaliber Lotte Kopeckys am Start. Die 29jährige belgische Vorjahressiegerin hätte sogar in einem Sprint nur Lorena Wiebes zu fürchten brauchen – die freilich eine Kollegin ist. Eine von beiden musste also am Sonnabend gewinnen.
Als 53 Kilometer vorm Ziel unter anderem Pauline Ferrand-Prévot (Team Visma – Lease a Bike), die Zweite der Flandernrundfahrt, zu Sturz kam, ging Kopecky in die Offensive. Mit Wiebes bildete sie eine Spitzengruppe, die vorübergehend um eine vorherige Ausreißerin und fünf Verfolgerinnen ergänzt wurde und dann zum Sextett schrumpfte. Weitere Angriffe und Beschleunigungen wurden von Ferrand-Prévots Kollegin Marianne Vos jedoch stets pariert – wohingegen 38 Kilometer vor dem Ziel ausgerechnet Wiebes die größten Schwierigkeiten hatte, nach einer nochmaligen Attacke der Kollegin aufzuschließen.
Dass das Sextett von der Verfolgerinnengruppe um Ferrand-Prévot eingeholt wurde, besiegelte das taktische Fiasko: Unter 20 Fahrerinnen, zu denen keine weitere vom Team SD Worx gehörte, konnte Kopecky unmöglich alle Fluchtversuche abwehren – so dass 25 Kilometer vorm Ziel Ferrand-Prévot davonzog. Die 33jährige Französin, die jahrelang vor allem Mountainbike gefahren war, ließ bald eine vorherige Ausreißerin hinter sich und krönte ihr diesjähriges Comeback mit dem ersten Sieg auf der Straße seit 2015. Dahinter errang die 26jährige Italienerin Letizia Borghesi (EF Education-Oatly) durch späte Flucht überraschend Platz zwei – vor der 26jährigen Wiebes, die im Sprint nach 148 Kilometern immerhin Platz drei sicherte.
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