Eiskalt ausgekontert
Von Sören Bär
Die 34jährige Chinesin Ju Wenjun trägt weiterhin die WM-Krone: Sie beendete das Match um die Schachweltmeisterschaft der Frauen in Shanghai und Chongqing (China) vorzeitig mit einem überzeugenden 6,5:2,5-Sieg gegen ihre ein Jahr jüngere Landsfrau Tan Zhongyi.
Vor Beginn des WM-Kampfes (1. bis 16. April 2025) prophezeiten viele Experten einen spannenden Zweikampf über die volle Distanz – so wie zuletzt 2023 ebenfalls in Shanghai und Chongqing, als Ju Wenjun das Match gegen ihre Landsfrau Lei Tingjie erst mit dem Sieg in der finalen zwölften Partie 6,5:5,5 für sich entschied und den Titel behauptete. In der Weltrangliste trennten beide Spielerinnen nur hauchdünne sechs Punkte. Während Ju Wenjun eine Ratingzahl von 2.561 aufwies, folgte ihr Tan Zhongyi mit 2.555. Auch die Vorgeschichte sprach für eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe: Im WM-Match 2018 jagte Ju Wenjun der damals amtierenden Weltmeisterin Tan Zhongyi mit einem denkbar knappen 5,5:4,5 den Titel ab. Sie triumphierte später im gleichen Jahr 2018 auch bei der letztmalig im Knockout-System ausgetragenen Weltmeisterschaft über 63 Gegnerinnen. 2020 wehrte sie überdies den Ansturm der starken Russin Alexandra Gorjatschkina ab. Seit die Weltranglistenerste Hou Yifan (China) nur noch sporadisch bei Showevents ihre Kunst zeigt, dominiert Ju Wenjun die weibliche Schachwelt.
Die ein Jahr jüngere Exweltmeisterin Tan Zhongyi eroberte 2017 den Weltmeistertitel, als sie Anna Musitschuk (Ukraine) im Schnellschach-Tiebreak das Nachsehen gab. Auch der Verlust des WM-Zepters nur ein Jahr darauf tat ihren Erfolgen kaum einen Abbruch. Sie ist mittlerweile fünffache chinesische Meisterin und siegte bei der Schnellschachweltmeisterschaft der Frauen 2022. Im Jahr 2024 zeigte sich Tan Zhongyi in bestechender Form. Nachdem sie den hochkarätig besetzten Cairns Cup in St. Louis (USA) für sich entschieden hatte, gelangte sie auch beim Kandidatinnenturnier in Toronto (Kanada) äußerst überzeugend auf Rang eins und avancierte damit verdientermaßen zur WM-Herausforderin.

Zum Auftakt des diesjährigen WM-Matches sah es danach aus, als würde Tan Zhongyi nahtlos an ihre Erfolgssträhne aus dem vergangenen Jahr anknüpfen. Nach einem Remis in der ersten Begegnung gelang es ihr in der zweiten Partie, die Titelverteidigerin in einem Turmendspiel auszutricksen und in Führung zu gehen. Doch Ju Wenjun besorgte postwendend den Ausgleich. Nach einem Remis in Durchgang vier sah man angesichts des 2:2-Zwischenstandes die Vorhersagen bestätigt. Nun nahm das Duell jedoch eine unvorhergesehene und faszinierende Wendung: Ju Wenjun gewann die nächsten vier Partien allesamt und zog mit 6:2 in Front! Wie konnte es dazu kommen? Nachdem sie in der fünften Partie erstmals ins Hintertreffen geraten war, verschärfte Tan Zhongyi das Spiel in jeder Begegnung etwas mehr, was gegen ihre solide und sicher agierende Gegnerin allerdings einen fatalen Bumerangeffekt erzeugte. Ju Wenjun wartete geduldig auf die bei taktischen Partieverläufen unvermeidlichen Ungenauigkeiten und konterte die Herausforderin eiskalt aus. Vor der neunten Partie war klar, dass Ju Wenjun ein Remis mit den weißen Steinen zur vorzeitigen Titelverteidigung genügen würde. Sie verbuchte das erwartungsgemäße Unentschieden nach 38 Zügen. In der Rossolimo-Variante der Sizilianischen Verteidigung tauschte sie Figur um Figur ab und trocknete das Spielgeschehen dadurch erfolgreich aus. Ohne Siegchance fügte sich Tan Zhongyi ins Remis, das ihre verheerende Niederlage im Match bedeutete.
Der Verlauf des Duells erinnerte stark an das WM-Match zwischen Magnus Carlsen und Jan Nepomnjaschtschi in Dubai 2021, als Nepomnjaschtschi beim Stande von 2,5:2,5 die epische sechste Partie nach 136 Zügen verlor und danach völlig zusammenbrach, so dass Carlsen ebenfalls mit vier Punkten Vorsprung 7,5:3,5 gewann.
Ju Wenjun – Tan Zhongyi, 5. Partie, Frauen-WM, Chongqing, 09. April 2025, Sizilianisch – Kan-Variante
1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 a6 5.Ld3 (Dies gilt als erfolgversprechendste Aufstellung gegen die Kan-Variante. Alternativ kann Weiß auch 5.Sc3 oder 5.c4 wählen.) 5…Lc5 6.Sb3 La7 (6…Le7 7.Dg4 g6 ist die ebenfalls häufig gespielte Alternative.) 7.O-O Se7 8.c4 Sbc6 9.Sc3 Se5 10.c5!? (Damit soll der Druck des La7 auf f2 unterbrochen werden.) 10…S7g6?! (Statt dieser Ungenauigkeit waren 10…b6 oder 10…0-0 vorzuziehen.) 11.Le2 b5? (11…b6 war Pflicht, denn nun bleibt der La7 ausgeschlossen.) 12.f4 Sc4 13.a4 (13.Dd4) 13…b4 14.Lxc4 bxc3 15.bxc3 Lb7 16.De2?! (16.Dd4!) 16…O-O 17.Ld3 f5 18.exf5 exf5 19.Le3 Dc7 20.Lxa6 +/- (Zum klaren Positionsvorteil gesellt sich nun auch ein gesunder Mehrbauer.) 20…Tfe8 21.Lxb7 Dxb7 22.Dc4+ Kh8 23.Ld4! Te6 24.h3?! (Genauer geschah 24.g3!) 24…Tae8 25.Tf2 Lb8 26.Taf1 Sxf4!? (Schwarz stellt ein asymmetrisches Materialverhältnis her und versucht, etwas im Trüben zu fischen.) 27.Txf4 Lxf4 28.Txf4 Te1+ 29.Tf1 Txf1+ 30.Kxf1 De4 31.Kg1 Db1+ 32.Kh2 Te1 (Objektiv ist die Anziehende deutlich im Vorteil, doch der schwarze Angriff muss gewürdigt werden.) 33.Dd5! h6 34.Sd2! (Ju Wenjun verteidigt kaltblütig.) 34…Th1+ 35.Kg3 De1+ 36.Lf2 De2 37.Dd4 (37.Dd6! +- war noch etwas besser.) 37…Td1 38.Le3 Kh7 39.a5 Te1 40.Lf2 Td1 41.Le3 (Die Zugwiederholung diente dem Zweck, die Zeitkontrolle nach 40 Zügen zu erreichen.) 41…Te1 42.Sc4 Ta1 43.Sd6 Ta2 44.Lf2 De6 45.Df4 Kg6 46.Kh2 Df6 47.Sc4 (47.Ld4! Dg5 48.Df3 +-) 47…Kh7 48.Ld4 De6 49.Sd6 (49.Sb6!) 49...Dg6 50.Df3 (Cool war 50.Df1!, um den Vormarsch des a-Bauern zu unterstützen: 50…f4 51.a6! Dg3+ 52.Kh1 +-. Doch dafür braucht man Nerven aus Stahl.) 50…f4 51.a6!? (Lenkt den Turm temporär vom Mattfeld g2 ab.) 51…Txa6 52.Dxf4 (Endlich ist der Störenfried f4 beseitigt.) 52…Ta2 53.Df3 De6 54.Sf5! g5 55.Se3 d6 56.c6 +- Ta8 57.Sd5! Tc8 58.Dd3+ Kg8 59.Se 7+! (Ein schöner Schlussakkord! Nach 59…Dxe7 60.Dg6+ Kf8 61.Df5+ Ke8 62.Dxc8+ +- fällt der Tc8.) 1:0.
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