Gegründet 1947 Mittwoch, 30. April 2025, Nr. 100
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 30.04.2025, Seite 11 / Feuilleton
Antifaschismus

»Die abstoßendste Figur«

Betrachtungen eines Hochpolitischen: Thomas Manns antinazistische Radioansprachen in einer halb verdienstvollen, halb törichten Neuausgabe
Von Stefan Gärtner
imago419384934.jpg
»Gott im Himmel, vernichte ihn!« – Thomas Mann über Hitler

Einem bewährten Klischee zufolge wohnen in der deutschen Seele das sehr Hohe und ganz Tiefe nah beisammen, und ohne Not gibt der Verlag S. Fischer davon Zeugnis, wenn er Thomas Manns aus dem kalifornischen Exil nach Nazideutschland ausgestrahlte Radioansprachen im Jubiläumsjahr neu zwischen Buchdeckel packt und aber, weil Mann halt doch von gestern ist und die Kundschaft lieber Unsinn kauft, die Autorin Mely Kiyak mit sowohl einem Vor- als auch einem Nachwort betraut hat. Was in der triptychalen Dopplung schon blödsinnig genug wäre, aber noch viel blödsinniger wird, wenn man Vor- und Nachwort liest, deren Stil- und Gedankenhöhe die einer Klassenarbeit der Mittelstufe ist: »Man begreift, dass der Schriftsteller die Nase von den Nazis schon von Anfang an voll hatte. Er wusste immer, dass sie Verbrecher sind, bei diesem Urteil blieb er. Er verschwendete seine Zeit nicht für hochtrabende Synonyme«, und analog wollen wir unsere Zeit nicht für (richtig: an) derlei tieftrabenden, in einfacher Sprache vorgetragenen Flachsinn verschwenden, der auch sachlich völlig falsch ist und sich allein dem herbeigezwungenen Gegensatz von »Zauberberg« und rhetorischem Angriff verdankt.

Wer schreiben kann, kann aber beides, und Mely Kiyak, Inhaberin des, ja doch, Kurt-Tucholsky-Preises und »für fast zwei Jahrzehnte eine der am meisten beachteten Kolumnistinnen Deutschlands« (Verlag), kann es nicht. Sie ist im Gegenteil so unbedarft, dass es weh tut: »Er«, Mann, »bleibt an dem Thema der Giftgasanlagen dran« (!), und so müssen jetzt wir an dem Thema dranbleiben, warum niemand bei S. Fischer Bedenken hatte, derlei Podcastprosa für geeignet zu halten, die glänzenden Ansprachen Thomas Manns einzurahmen, die mit Synonymen für das »Gesindel« und »Halunkenregime« eben gar nicht sparen – denkbar, dass Kiyak, die natürlich daumendick auf der Buchfront firmiert, gar nicht weiß, was ein Synonym ist –, von den Umschreibungen für den »Führer Hitler« zu schweigen: »infernalischer Schubiack«, »fanatischer Idiot«, »höllischer Strizzi« und »Feind der Menschheit«, dessen »trostlos verpfuschte Anlage« und »defekte Menschlichkeit« ein »solches Maß schamloser Niedertracht und gorillahaften Tiefstandes« mitteilen, dass »unserem Dschingis Khan«, »dieser blutigen Nichtigkeit von einem Menschen, diesem intellektuellen und moralischen Minderwert, dieser lichtlosen Lügenseele« nur das Stoßgebet gelten kann: »Gott im Himmel, vernichte ihn!«

Entschlossen schamfrei glaubt Kiyak, Thomas Mann, der sich zu unserer vielbeachteten Kolumnistin verhält »wie etwas Bedeutsames zu nichts« (Markus Erdmann), rehabilitieren zu müssen, weil er »zu einer neurotischen Witzfigur karikiert und degradiert« worden sei, als Klemmschwuchtel und Bürgersöhnchen nämlich, was aber, wie jeder weiß, der sein Weltwissen nicht aus Kolumnen von Mely Kiyak bezieht, dem Mannschen Nimbus nicht einmal in der halbdunklen Ecke aus Biopic und Pressvermischten etwas anhaben konnte und wiederum nur einer Pointe dient, deren sprachliche Ausgestaltung die Autorin auf der Höhe ihrer Hilflosigkeit zeigt: »Ja, es rührt mich, wenn ich die Fotos dieses steifen älteren Herrn sehe, der in seinen Routinen und Gepflogenheiten gefangen ist – und der doch, wenn es darauf ankam, dazu fähig war, mit penibel gestutztem Schnurrbärtchen und gespreiztem Finger an der mit Goldrand umfassten Teetasse, die Nazis gehörig in den Boden zu rammen.« So steht es da, und dass Kiyaks Kolumne bei Zeit online in allem Ernst »Kiyaks Deutschstunde« hieß, nehmen wir, mangels Alternative, hin.

Lassen wir es dabei und loben lieber die Mannschen Einwürfe, die seine berüchtigten »Betrachtungen eines Unpolitischen« in jeder Hinsicht auf den Kopf stellen. Vom Oktober 1940 an spricht Mann allmonatlich zu seinen Deutschen, jedenfalls denen, die ihn hören, für ihn »ein Akt geistigen Widerstandes«. Er lästert über »eine neue Serie motorisierter Ruhmesgräuel« und den »läppischen Größenwahn« der Partei-»Menagerie«, teilt mit, was er erfahren hat über Auschwitz und Massenmord als »das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist«, und wird keine Sekunde wacklig in der Überzeugung, dass der Spuk enden werde, weil er enden müsse, weil »die Grausamkeiten, die in der Geschichte nicht ihresgleichen haben«, der Idee von Menschheit selbst widersprechen.

Es grenzt natürlich an Frivolität, hier von Lesevergnügen zu reden, aber es macht wirklich Freude, wie hier einer in Minutenstücken Psychologie, Personal, Ziele, Mittel des Hitlerfaschismus seziert, mit Hohn ad hominem nicht spart (»Nun denn, der Krieg ist schrecklich, aber man muss zugeben: den einen Vorzug hat er, dass er Hitler davon abhält, Kulturreden zu halten«) und, in einer berühmt gewordenen, auf den alliierten Bombenkrieg gemünzten Wendung, »nichts einzuwenden« hat »gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss«. Der Satz machte seinen Autor nach dem Krieg nicht eben populärer, und Mann, der zunächst souffliert, ein »Verbrecherklüngel« habe ein Volk »verdorben und missbraucht«, lässt in einem letzten Beitrag vom November 1945 unter dem Eindruck der deutschen Emigrantenschelte nicht nur sein »Weltdeutschtum« gegen »die furchtbare nationale Gesamtschuld« antreten, sondern wird so wunderbar mokant, dass nie mehr etwas gegen die ewige Mannsche Ironie gesagt sei: »Ich muss glauben, dass ein hochstehendes 70-Millionen-Volk unter Umständen nicht anders kann, als sechs Jahre lang ein Regime blutiger Kaffern zu ertragen, das ihm in tiefster Seele zuwider ist, ihm dann in einen Krieg zu folgen, den es als baren Wahnsinn erkennt, und weitere sechs Jahre sein Äußerstes, all seine Erfindungsgabe, Tapferkeit, Intelligenz, Gehorsamsliebe, militärische Tüchtigkeit, kurz, seine ganze Kraft daran setzen muss, diesem Regime zum Siege und damit zu ewiger Fortdauer zu verhelfen. So musste es sein, und Beschwörungen wie die meinen waren vollkommen müßig.«

Der Schöpfer des »Doktor Faustus« weiß viel über seine Deutschen, etwa ihren kaputten Freiheitsbegriff, der »immer nur nach außen gerichtet« war, und noch wer im Sujet bewandert ist, wird Bedenkenswertes erfahren, wenn jede Barbarei »eine bewusste und demonstrative Geschichtstat« ist, »ein lehr- und beispielhafter Ausdruck des Geistes und der Gesinnung der nationalsozialistischen Revolution, die man nicht versteht, wenn man die moralische Bereitschaft zu solchen Taten nicht als eine revolutionäre Errungenschaft begreift«. Macht ist, sich alles erlauben zu können, und man muss Donald Trump nicht für den neuen Hitler halten, um immer wieder Parallelen zu entdecken.

Rührend ist es, wie Mann die »Vereinigung« von östlichem Sozialismus und westlicher Demokratie weniger beschwört denn für unausweichlich hält; verblüffend ist seine astrein linke Einschätzung, in Großdeutschland blühten »Plutokraten und Trustherren«, und »vom deutschen und internationalen Finanzkapital sind Hitler und seine Bande ausgehalten und in die Macht geschoben worden«; und beklemmend, wie wenig sich an dem Dilemma geändert hat, dem sich schon die angelsächsischen Bomberpiloten gegenübersahen: »Es ist die Teufelei des Bösen, dass es demjenigen, der guten Willens ist, nur die Wahl lässt, schuldig zu werden, indem er sich ihm unterwirft, oder schuldig dadurch, dass er ihm widersteht.« Und der Widerstand, das ist der Geist, wie er hier ins wache, zornige Wort fährt, das allein den Nazi-»Teufelsdreck« und »die abstoßendste Figur (…), auf die je das Licht der Geschichte fiel« nicht aus der Welt geschafft hätte; aber auch um seiner Willen ist es Gott sei Dank geschehen. Es ist keine neue Information, »dass es etwas gibt, dem alles, aber auch alles in der Welt vorzuziehen ist, nämlich den Nationalsozialismus«, doch damals war es eine und ist es heute leider wieder. Die Eignung des Bandes als Schullektüre wird allerdings dadurch geschmälert, dass S. Fischer für seine Marketingstupidität nicht auch noch belohnt, sondern eher in den Boden gerammt sei und es der Generation Tik Tok an Vorbildern für unterbelichtetes Gespreize nicht eben mangelt. Da muss nicht auch noch Kiyak sein.

Thomas Mann: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland. Neuausgabe mit einem Vorwort und einem Nachwort von Mely Kiyak. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025, 272 Seiten, 24 Euro

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Mehr aus: Feuilleton