Durchs kalte Schlafzimmer
Von Dirk RuderDas bekannteste Buch des Verlages erscheint jedes Jahr und wird immer wieder neu aufgelegt. Jede Nummer hat ein kleines Thema, das vor allem in den Gesprächen ausgeführt wird, die meist überraschend und ehrlich sind, da es den Teilnehmern möglich ist, ein Pseudonym zu wählen. In allen anderen Beiträgen gilt das Prinzip der größtmöglichen Vielfalt … die AutorInnen kommen aus allen Bereichen, von 18 bis 80.« Mit diesem vielleicht zu Recht abschreckenden Werbetext bewirbt der in Tübingen ansässige Konkursbuchverlag derzeit sein erotisches Jahrbuch namens »Mein heimliches Auge«. Dafür, daß jede Nummer ein kleines Thema hat, sorgt der Verlag schon recht lange: Seit 1982 erscheint das unter Kennern nur als »das Auge« firmierende Jahrbuch. In diesem Jahr hat der Verlag dem regulären achtzehnten »Auge« ein weiteres für Männerliebhaber zur Seite gestellt: »Mein schwules Auge«. Drei seit 1998 veröffentlichte »Auge«-Specials zur lesbischen Erotik waren bei der Kritik nicht unangenehm aufgefallen, da war die Konzeption einer Herrenvariante wohl unvermeidlich.
Nach eigenem Bekunden kämpft das »Auge« für die »Aufhebung der Schubladen« und – da es im erotischen Bereich wohl keine Berufsverbote gibt – gegen das »Berührungsverbot«. Gerade letzteres hat die erst im Sommer beschlossene Novelle des Sexualstrafrechts indes empfindlich ausgeweitet, wovon im »Auge« natürlich nirgendwo die Rede ist. Im Jahrbuch sollen »im Prinzip alle erotischen Themen« auf der Tagesordnung stehen, heißt es statt dessen. Eigentlich ein faszinierender Gedanke. Leider guckt die zu diesem Zweck in Unterwäsche im deutschen Schlafzimmer vereinte Kritikerschar allerdings nicht richtig hin. Der Hamburger Spiegel fand das Jahrbuch immerhin »eigenwillig« und »irritierend«, aber auch »intelligent«. Doch schon die laut Verlag »unzähligen Rezensionen in angesehenen Zeitschriften« lassen erahnen, daß hier mal wieder frisches Bettzeug nötig gewesen wäre. Ist denn wirklich niemandem aufgefallen, wie amateurhaft schlecht das begutachtete Werk ist?
Daß das einzige deutschsprachige Jahrbuch der Erotik auch gleich das beste sein soll, ist nicht einzusehen. Vor allem, wenn das Vorwort des diesjährigen »Auges« aufs neue belegt, daß die Herausgeber Claudia Gehrke und Uve Schmidt ihr Anliegen offenbar nicht einmal ordentlich formulieren können. Der im »Auge« verwendete Begriff der Erotik ist ein durch und durch bürgerlicher – mit all seinen Verklemmungen und Lügen. So schreibt Gehrke stets verschwiemelt von »erotischen Momenten«, wo eigentlich
handfester Sex gemeint ist. Wenn sie behauptet, zur Erotik gehöre etwas, »das sozusagen grundsätzlich quer steht in einer Zeit allgemeiner Verdächtigungen, des Mißtrauens bis hin zum Verfolgungswahn«, fragt man sich ernsthaft, ob die Dame den Knall nicht gehört hat: Die gesellschaftspolitische Existenz von Erotik und Sexualität spielte noch nirgendwo auf der Welt ungestört in einer Art kuscheligem Paralleluniversum. Das von Momenten des Mißtrauens und der Verdächtigungen nur so strotzende Sexualstrafrecht hat beispielsweise im Kapitalismus ja eben genau den Sinn, Sexualität der Sphäre der Privatheit zu entreißen, um dagegen vorgehen zu können. Das führt aktuell durchaus bis zum Verfolgungswahn, wie die Debatte um die (selbst von Experten als »Verschärfung« apostrophierte) Änderung des Sexualstrafrechts im letzten Sommer zeigte. Aber da hat die Claudia Gehrke wohl gepennt, denn »der Sommer war heiß … viel zu heiß, um zu vögeln«.
Um wegen diverser »Reformprojekte« von SPD und Grünen dennoch keine trüben Gedanken in der teutonischen Kuschelkiste aufkommen zu lassen, schiebt Gehrkes Herausgeberkollege Uve Schmidt »die Schuld am Staatsbankrott vorsorglich unseren unlustigen Männern und selbstsüchtigen Frauen in die Betthuscher«. Sein nackter Ritt durchs »kalte Schlafzimmer« endet denn auch schnell vor einer altdeutschen Schrankwand: Schmidts Vorwort ziert die Fotografie einer Frau, deren Pose Einblicke auf ihre Private parts ermöglicht. Daß dies direkt neben einem Denkmal des Revolutionsdichters und Marx-Gefährten Ferdinand Freiligrath geschieht, unterstreicht nur, daß in erotischen Momenten nach wie vor beim deutschen Michel das politische Denken vollständig aussetzt. Mit solchen Leuten ist keine Revolution zu machen.
Sicher, das »Auge« hat seine Meriten. Nicht weil es »pansexuell war, bevor der Begriff in Mode kam«, wie das für gewöhnlich in sexuellen Fragen ahnungslose Berliner Homomagazin Siegessäule vermutete, sondern weil der Versuch, die Vielfalt der Sexualitäten in Wort und Bild zu dokumentieren, in diesem Land stets eine längere Auseinandersetzung mit diversen Staatsanwaltschaften nach sich ziehen muß. Der Konkursbuchverlag hat sich in solchen Schlachten ganz ordentlich geschlagen und – wie es der Schriftsteller Adolf Muschg einmal an Verlagsleiterin Gehrke schrieb – die »Grundsätze der Ästhetik und der modernen Rechtssprechung« immer wieder wacker verteidigt. Auch an namhaften Autoren und innovativen Arbeiten hat es im »Auge« nicht gefehlt. Dennoch bleibt das Arbeitsergebnis für 2003 unbefriedigend.
Das gilt auch für das schwule Spezial-»Auge«. Wer von dessen Herausgebern Mathias Trostdorf und Anja Müller etwa Aufklärung darüber erwartet, was dieses Buch will und soll, sucht vergeblich. Zu einem Vorwort reichte es nicht, dafür gibt’s beunruhigende Geständnisse per »Briefwechsel der HerausgeberInnen«: So wollte Trostdorf »vor allem etwas Unterhaltsames machen, was schön anzuschauen ist«, und Müller hat einmal »in einem Laden mit überwiegend Homopublikum« gearbeitet. Einen solchen Laden haben die lesbische Fotografin und ihr Kompagnon nun eben wieder aufgemacht, so nach dem Motto: Wer kommt, der kommt, aber alle dürfen rein. Wo das Konzept fehlt, müssen Antworten folglich ausbleiben. Auf die Frage, was sie erregt, bekennt Müller beispielsweise: »Mir ist ein Text eingefallen. Bin ja nicht so die Schreiberin. Ich habe auch eher ein heimliches Auge als einen öffentlichen Mund.« Das Eingeständnis kompletter Ahnungslosigkeit findet sich nicht etwa in dem von ihr herausgegebenen schwulen »Auge«, sondern in »Mein heimliches Auge«, zu dem Müller ebenfalls Fotoarbeiten beisteuerte. Die Frau hat echt Mut.
Bei der Buchpremiere des schwulen »Auges« Anfang Oktober im Berliner »Prinz Eisenherz«-Buchladen wurde zudem offenbar, daß der Verlag das inzwischen zum Bestseller im schwulen Verkaufssegment avancierte Werk nicht sonderlich liebte. Mit den rund sechzig Autoren und Fotografen wurden beispielsweise keine Verträge abgeschlossen. Honorar gab’s nicht, lediglich ein einziges kostenloses Belegexemplar machte Konkursbuch für jeden Beteiligten locker – vom finanziellen Erfolg des Spezial-»Auges« sind dessen Schöpfer somit gänzlich ausgeschlossen.
Damit nicht genug. »Mein schwules Auge« wie »Mein heimliches Auge« zeichnen sich durchweg durch schlampige Produktion aus. Wer die immerhin mehr als fünfzehn Euro für eines der beiden Werke anlegt, wird mit einer Aufmachung belohnt, bei der grundlegende Prinzipien für Gestaltung und Drucksatz so gut wie keine Rolle spielten. Auch fürs gründliche Redigieren der qualitativ sehr unterschiedlichen Beiträge hat’s offensichtlich nicht gereicht. Insgesamt kommt so kaum eine Seite ohne auffällige Satz- und Layoutfehler aus. Das Highlight des schwulen »Auges«, den politischen Teil, verbannten die Herausgeber nicht nur ganz ans Ende, sondern setzten die Texte auch noch in kleinerer Schrifttype. Im Autorenregister beider Bände fehlen diverse Namen. Daß bei beiden Büchern die Klebebindung schon nach wenigem Blättern einzelne Seiten freigibt, mag man als Ansporn verstehen, überflüssige Buchteile ohne Zögern zu entsorgen. Fürs Zusammenhalten der brauchbaren Texte reicht ohnehin eine Büroklammer.
Schenken wir uns die offensichtliche Tatsache, daß gewisse Sexualitäten im Jahrbuch nicht stattfinden, etwa die unvollkommener oder alter Körper. Kommen sie doch einmal vor, sind sie sensationell wie Jahrmarktsattraktionen inszeniert. Das »Auge« riskiert nur höchst ungern einen subversiven Blick aufs eigene Thema. Politische und gesellschaftliche Verhältnisse sind durchweg ausgeklammert, gefickt wird stets »im luftleeren Raum«, wie es der Berliner Publizist Eike Stedefeldt vorausahnend im schwulen »Auge« bemerkte. Insgesamt fehlt es an Erotik, Sinnlichkeit und vor allem Humor. Der gebotene Sex ist technisch: »Bald glühte ich so, daß Thomas Alva Edison seine helle Freude an mir gehabt hätte.« Lachen Sie nicht, die Autorin meinte es ernst.
Wo willige Schenkel stets »zuckend« auseinander- und wilde Schwänze gern »zuckend« herniederfahren, wird das Lesen allerdings recht bald ermüdend. »In der Pornographie waren vermutlich schon immer mehr Amateure am Werk als Profis«, seufzt der schwule Autor Belmen O. in »Mein heimliches Auge« angesichts der meist in der ersten Person Singular abgefaßten Erlebnisberichte. Vermutlich haben Schwule doch ein entspannteres Verhältnis zur eigenen Sexualität. Markus Baaken jedenfalls weiß, daß beim Rendezvous mit einem Unbekannten nicht nur Blumen und ein Joint auf ihn warten: »Er hat seinen Arsch gespült, weil wir beide Männer sind.« Selbstironie ist jedoch den meisten Autorinnen und Autoren beider »Auge«-Bände eher fremd. Nur ein kleiner Vers von Heiko Hermann in »Mein heimliches Auge« bildet die Ausnahme: »Gestern abend war es nett / gevögelt wurde im Sextett / man sah im ganzen Raum nur Brüste / sie hießen – wenn ich das nur wüßte.«
* Claudia Gehrke/Uve Schmidt (Hg.): Mein heimliches Auge. Das Jahrbuch der Erotik XVIII. Konkursbuchverlag, Tübingen 2003, 296 Seiten, 15,50 Euro
* Anja Müller/Mathias Trostdorf (Hg.): Mein schwules Auge. Das Jahrbuch der Erotik spezial. Konkursbuchverlag, Tübingen 2003, 256 Seiten, 15,50 Euro
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