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Aus: marxismus aktuell, Beilage der jW vom 09.06.2004

Selbständige Bewegungen

Friedrich Engels 1845: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen. Auszüge

Die Geschichte der arbeitenden Klasse in England beginnt mit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Maschinen zur Verarbeitung der Baumwolle. Diese Erfindungen gaben bekanntlich den Anstoß zu einer industriellen Revolution, einer Revolution, die zugleich die ganze bürgerliche Gesellschaft umwandelte und deren weltgeschichtliche Bedeutung erst jetzt anfängt erkannt zu werden. England ist der klassische Boden dieser Umwälzung, die umso gewaltiger war, je geräuschloser sie vor sich ging, und England ist darum auch das klassische Land für die Entwicklung ihres hauptsächlichsten Resultates, des Proletariats. Das Proletariat kann nur in England in allen seinen Verhältnissen und nach allen Seiten hin studiert werden. (...)

Die rasche Ausdehnung der Industrie erforderte Hände; der Arbeitslohn stieg, und infolgedessen wanderten Scharen von Arbeitern aus den Ackerbaubezirken nach den Städten. Die Bevölkerung vermehrte sich reißend, und fast aller Zuwachs kam auf die Klasse der Proletarier. Dazu war in Irland erst seit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts ein geordneter Zustand eingetreten; auch hier vermehrte sich die in den früheren Unruhen durch die englische Barbarei mehr als dezimierte Bevölkerung schnell, besonders seitdem der Aufschwung der Industrie anfing, eine Menge Irländer nach England herüberzuziehen. So entstanden die großen Fabrik- und Handelsstädte des britischen Reichs, in denen mindestens drei Viertel der Bevölkerung der Arbeiterklasse angehören und die kleine Bourgeoisie nur aus Krämern und sehr, sehr wenigen Handwerkern besteht. Denn wie die neue Industrie erst dadurch bedeutend wurde, daß sie die Werkzeuge in Maschinen, die Werkstätten in Fabriken – und dadurch die arbeitende Mittelklasse in arbeitendes Proletariat, die bisherigen Großhändler in Fabrikanten verwandelte; wie also schon hier die kleine Mittelklasse verdrängt und die Bevölkerung auf den Gegensatz von Arbeitern und Kapitalisten reduziert wurde, so geschah dasselbe, außer dem Gebiet der Industrie im engeren Sinne, in den Handwerken und selbst im Handel. An die Stelle der ehemaligen Meister und Gesellen traten große Kapitalisten und Arbeiter, die nie Aussicht hatten, sich über ihre Klasse zu erheben; die Handwerke wurden fabrikmäßig betrieben, die Teilung der Arbeit streng durchgeführt und die kleinen Meister, die gegen die großen Etablissements nicht konkurrieren konnten, in die Klasse der Proletarier herabgedrängt. Zu gleicher Zeit wurde dem Arbeiter durch die Aufhebung des bisherigen Handwerkbetriebs, durch die Vernichtung der kleinen Bourgeoisie alle Möglichkeit genommen, selbst Bourgeois zu werden. Bisher hatte er immer die Aussicht gehabt, sich als ansässiger Meister irgendwo niederzulassen, später vielleicht Gesellen annehmen zu können; jetzt aber, wo die Meister selbst durch die Fabrikanten verdrängt, wo zum selbständigen Betrieb einer Arbeit große Kapitalien nötig wurden, wurde das Proletariat erst eine wirkliche, feste Klasse der Bevölkerung, während es früher oft nur ein Durchgang in die Bourgeoisie war. Wer jetzt als Arbeiter geboren wurde, hatte keine andere Aussicht, als lebenslang Proletarier zu bleiben. Jetzt also erst war das Proletariat imstande, selbständige Bewegungen vorzunehmen.

Auf diese Weise wurde die ungeheure Masse von Arbeitern zusammengebracht, die jetzt das ganze britische Reich erfüllt und deren soziale Lage sich mit jedem Tage der Aufmerksamkeit der zivilisierten Welt mehr und mehr aufdrängt.

Die Lage der arbeitenden Klasse, das heißt die Lage der ungeheuren Majorität des englischen Volks, die Frage: Was soll aus diesen besitzlosen Millionen werden, die heute das verzehren, was sie gestern verdient haben, die mit ihren Erfindungen und ihrer Arbeit Englands Größe geschaffen haben, die täglich ihrer Macht sich mehr und mehr bewußt werden und täglich dringender ihren Anteil an den Vorteilen der gesellschaftlichen Einrichtungen verlangen – diese Frage ist seit der Reformbill (Anmerkung: Die Reformbill – Gesetz über die Wahlreform – wurde am 7. Juni 1832 vom englischen König Wilhelm IV. bestätigt. Grund- und Hausbesitzer, die jährlich mindestens zehn Pfund Sterling Steuern zahlten, erhielten Wahlrecht. Proletarier und Kleinbürgertum blieben dadurch vom Wahlrecht ausgeschlossen) die nationale Frage geworden. Alle einigermaßen wichtigen Parlamentsdebatten lassen sich auf sie reduzieren; und wenn auch die englische Mittelklasse es sich bis jetzt nicht gestehen will, wenn sie dieser großen Frage auch auszuweichen und sich ihre besondern Interessen als die wahrhaft nationalen Interessen hinzustellen sucht, so hilft ihr das doch gar nichts. (...)

Kriegserklärung

Die offenste Kriegserklärung der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist indes die Malthussche Theorie der Population und das aus ihr entstandene neue Armengesetz. Von der Malthusschen Theorie ist schon mehrere Male die Rede gewesen. Wiederholen wir kurz ihr Hauptresultat, daß die Erde stets übervölkert sei und daher stets Not, Elend, Armut und Unsittlichkeit herrschen müsse; daß es das Los und die ewige Bestimmung der Menschheit sei, in zu großer Zahl und daher in verschiedenen Klassen zu existieren, von denen die einen mehr oder weniger reich, gebildet, moralisch und die andern mehr oder weniger arm, elend, unwissend und unsittlich seien. Hieraus folgt denn für die Praxis – und diese Schlüsse zieht Malthus selbst –‚ daß Wohltaten und Armenkassen eigentlich Unsinn seien, da sie nur dazu dienen, die überzählige Bevölkerung, deren Konkurrenz den Lohn der andern drücke, aufrechtzuerhalten und zur Vermehrung anzureizen; daß die Beschäftigung von Armen durch die Armenverwaltung ebenso unsinnig sei, indem, da doch nur eine bestimmte Quantität von Arbeitserzeugnissen verbraucht werden könne, für jeden brotlosen Arbeiter, der beschäftigt wird, ein anderer bisher beschäftigter brotlos werden muß und so die Privatindustrie auf Kosten der Armenverwaltungsindustrie Schaden leidet; daß es sich also nicht darum handelt, die überzählige Bevölkerung zu ernähren, sondern sie auf die eine oder die andere Weise möglichst zu beschränken. Malthus erklärt mit dürren Worten das bisher behauptete Recht jedes Menschen, der in der Welt existiere, auf seine Existenzmittel für baren Unsinn. Er zitiert die Worte eines Dichters: Der Arme kommt zum festlichen Tisch der Natur und findet kein leeres Gedeck für sich – und setzt hinzu – und die Natur befiehlt ihm, sich zu packen (she bids him to be gone) – »denn er hat ja vor seiner Geburt die Gesellschaft nicht erst gefragt, ob sie ihn haben wolle«. Diese Theorie ist jetzt die Leibtheorie aller echten englischen Bourgeois, und zwar ganz natürlich, da sie für diese das bequemste Faulbett ist und ohnehin für die bestehenden Verhältnisse viel Richtiges hat. Wenn es sich also nicht mehr darum handelt, die »überzählige Bevölkerung« nutzbar zu machen, in brauchbare Bevölkerung zu verwandeln, sondern bloß darum, die Leute auf möglichst leichte Weise verhungern zu lassen und sie zugleich daran zu hindern, daß sie zu viel Kinder in die Welt setzen, so ist das natürlich Kleinigkeit – vorausgesetzt, daß die überflüssige Bevölkerung ihre eigne Überflüssigkeit einsieht und den Hungertod sich wohlschmecken läßt. Dazu ist aber, trotz der angestrengtesten Bemühungen der humanen Bourgeoisie, den Arbeitern dies beizubringen, vorderhand noch keine Aussicht. Die Proletarier haben sich vielmehr in den Kopf gesetzt, daß sie mit ihren fleißigen Händen gerade die Nötigen, und die reichen Herren Kapitalisten, die nichts tun, eigentlich die Überflüssigen seien.

Armengesetz

Da aber die Reichen noch die Macht besitzen, so müssen sich die Proletarier gefallen lassen, daß sie, falls sie selbst es nicht gutwillig einsehen wollen, vom Gesetz für wirklich überflüssig erklärt werden. Dies ist im neuen Armengesetz geschehen. Das alte Armengesetz, das auf der Akte vom Jahre 1601 (43rd of Elizabeth) beruht, ging naiverweise noch von dem Prinzip aus, daß es die Pflicht der Gemeinde sei, für den Lebensunterhalt der Armen zu sorgen. Wer keine Arbeit hatte, erhielt Unterstützung, und der Arme sah auf die Dauer, wie billig, die Gemeinde für verpflichtet an, ihn vor dem Verhungern zu schützen. Er forderte seine wöchentliche Unterstützung als ein Recht, nicht als eine Gnade, und das wurde zuletzt der Bourgeoisie doch zu arg. 1833, als sie eben durch die Reformbill an die Herrschaft und zugleich der Pauperismus der Landdistrikte zur vollen Entfaltung gekommen war, begann sie sogleich die Reform auch der Armengesetze von ihrem Standpunkte aus. Eine Kommission wurde ernannt, die die Verwaltung der Armengesetze untersuchte und eine große Menge Mißbräuche entdeckte. Man fand die ganze Arbeiterklasse des platten Landes pauperisiert und ganz oder teilweise von der Armenkasse abhängig, da diese, wenn der Lohn niedrig stand, den Armen einen Zusatz gab; man fand, daß dies System, wodurch der Arbeitslose erhalten, der Schlechtbezahlte und mit vielen Kindern Gesegnete unterstützt, der Vater unehelicher Kinder zur Alimentation angehalten und die Armut überhaupt als des Schutzes bedürftig anerkannt wurde – man fand, daß dies System das Land ruiniere.

Unter den jetzigen sozialen Verhältnissen ist es ganz klar, daß der Arme gezwungen wird, Egoist zu sein, und wenn er die Wahl hat und gleich gut lebt, lieber nichts tut als arbeitet. Daraus folgt aber nur, daß die jetzigen sozialen Verhältnisse nichts taugen, nicht aber, daß – wie die malthusianischen Kommissäre folgerten – die Armut als ein Verbrechen nach der Abschreckungstheorie zu behandeln sei.

Diese weisen Malthusianer waren aber so fest von der Unfehlbarkeit ihrer Theorie überzeugt, daß sie keinen Augenblick Anstand nahmen, die Armen in das Prokrustesbett ihrer Meinungen zu werfen und sie nach diesen mit der empörendsten Härte zu behandeln. Mit Malthus und den übrigen Anhängern der freien Konkurrenz überzeugt, daß es am besten sei, jeden für sich selbst sorgen zu lassen, das laissez-faire konsequent durchzuführen, hätten sie die Armengesetze am liebsten ganz abgeschafft. Da sie hierzu indes doch weder Mut noch Autorität hatten, schlugen sie ein möglichst malthusianisches Armengesetz vor, das noch barbarischer ist als das laissez-faire, weil es da aktiv eintritt, wo dies nur passiv ist. Wir sahen, wie Malthus die Armut, genauer die Brotlosigkeit unter dem Namen der Überflüssigkeit für ein Verbrechen erklärt, das die Gesellschaft mit dem Hungertode bestrafen soll. So barbarisch waren die Kommissäre nun gerade nicht; der krasse, direkte Hungertod hat selbst für einen Armengesetzkommissar etwas zu Schreckliches. Gut, sagten sie, ihr Armen habt das Recht, zu existieren, aber auch nur zu existieren; das Recht, euch zu vermehren aber habt ihr nicht, ebensowenig wie das Recht, menschlich zu existieren. Ihr seid eine – Landplage, und wenn wir euch nicht wie jede andere Landplage sofort beseitigen können, so sollt ihr doch fühlen, daß ihr eine solche seid und wenigstens im Zaume gehalten, außerstand gesetzt werden müßt, andere »Überflüssige«, direkt oder durch Verführung zur Trägheit und Brotlosigkeit, zu produzieren. Leben sollt ihr, aber leben zum warnenden Exempel allen denen, die Veranlassung haben könnten, auch überflüssig zu werden.

Arbeitshaus

Sie schlugen nun das neue Armengesetz vor, das 1834 durch das Parlament ging und bis heute in Kraft besteht. Alle Unterstützung in Geld oder Lebensmitteln wurde abgeschafft; die einzige Unterstützung, welche gewährt wurde, war die Aufnahme in die überall sofort erbauten Arbeitshäuser. Die Einrichtung dieser Arbeitshäuser (workhouses), oder, wie das Volk sie nennt, Armengesetz-Bastillen (poor-law bastiles), ist aber derart, daß sie jeden abschrecken muß, der noch irgendwie Aussicht hat, sich ohne diese Art der öffentlichen Mildtätigkeit durchzuschlagen. Damit die Armenkasse nur in den dringendsten Fällen beansprucht und die eignen Anstrengungen eines jeden auf den höchsten Grad gesteigert werden, ehe er sich entschließt, sich von ihr unterstützen zu lassen, ist das Arbeitshaus zum zurückstoßendsten Aufenthalt gemacht, den das raffinierte Talent eines Malthusianers erfinden kann. Die Nahrung ist schlechter als die der ärmsten beschäftigten Arbeiter, während die Arbeit schwerer ist; sonst würden diese ja den Aufenthalt im Armenhause ihrer jämmerlichen Existenz draußen vorziehen. Fleisch, besonders frisches, wird selten gereicht, meist Kartoffeln, möglichst schlechtes Brot und Hafermehlbrei, wenig oder gar kein Bier. Selbst die Diät der Gefängnisse ist durchgängig besser, so daß die Bewohner des Arbeitshauses häufig irgendein Vergehen absichtlicht sich zuschulden kommen lassen, um nur ins Gefängnis zu kommen. (...)

Wird man sich noch wundern, daß die Armen sich noch weigern, die öffentliche Unterstützung unter diesen Bedingungen anzunehmen? Daß sie lieber verhungern, als in diese Bastillen zu gehen? Mir liegen fünf Fälle vor, wo die Leute wirklich und geradezu verhungerten und noch wenige Tage vor ihrem Tode, als ihnen die Armenverwaltung die Unterstützung außer dem Arbeitshause abschlug, lieber in ihre Not zurück als in diese Hölle gingen. Insofern haben die Armengesetzkommissäre ihren Zweck vollkommen erreicht. Aber zu gleicher Zeit haben die Arbeitshäuser auch die Erbitterung der arbeitenden Klasse gegen die besitzende, die zum größten Teil für das neue Armengesetz schwärmt, höher gesteigert als irgendeine Maßregel der machthabenden Partei. Von Newcastle bis Dover ist unter den Arbeitern nur eine Stimme der Empörung über das neue Gesetz. Die Bourgeoisie hat in ihm ihre Meinung über ihre Pflichten gegen das Proletariat so deutlich ausgesprochen, daß sie auch von den Dümmsten verstanden wurde. So geradezu, so unverhohlen war es noch nie behauptet worden, daß die Besitzlosen nur da sind, um sich von den Besitzenden ausbeuten zu lassen und um zu verhungern, wenn die Besitzenden von ihnen keinen Gebrauch machen können. Darum aber hat dies neue Armengesetz auch so wesentlich zur Beschleunigung der Arbeiterbewegung und namentlich zur Verbreitung des Chartismus beigetragen, und da es auf dem Lande am meisten in Ausführung gekommen ist, so erleichtert es die Entwicklung der proletarischen Bewegung, die den Landdistrikten bevorsteht.(...)

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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