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Aus: sozialkahlschlag, Beilage der jW vom 22.09.2004

Materielle Gewalt

Soziale Gerechtigkeit gibt es nicht, sagen die Herrschenden der Bundesrepublik. Statt dessen wird mit »Hartz IV« der Klassenkampf von oben forciert
Von Klaus Fischer

Eine Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Welch kluger Gedanke von einem genialen Menschen. Aber wann ist jener Zeitpunkt erreicht? Vielleicht dann, wenn immer mehr Menschen begreifen, daß ihre soziale Lage unerträglich ist. Wenn offensichtlich wird, daß sie in einer Gesellschaft leben, in der die Armen immer ärmer, die Reichen immer reicher werden. Wenn sie begreifen, daß sie dagegen aufstehen müssen.

Uninteressant ist, inwieweit die Armut absolut oder relativ ist. In einem der reichsten Staaten dieser Erde, jenem, mit den zweitmeisten Milliardären, der drittgrößten Wirtschaftsleistung, einem Land, das mehr Waren exportiert als jedes andere, sind gut ein Fünftel der arbeitsfähigen Menschen ohne Erwerbsjob, aus dessen Entlohnung sie ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten. Das ist ein Fakt, der mehr über eine Gesellschaft sagt, als tausend Stunden Tagesschau.

Nein, es ist noch kein Krieg im herkömmlichen Sinne, der hier tobt. Das ist ein schwacher Trost für die Gebeutelten. Dennoch nimmt all das, was Schröder, Fischer, Rogowski, Merkel und Co. an »Reformen« forcieren, den Charakter eines sozialen Bürgerkrieges an. Oben gegen Unten, Reich gegen Arm. Es ist ein erklärter Krieg, untersetzt mit der ganzen Macht der Politik, des bürgerlichen Rechts, der Willfährigkeit jener, die in der Klassenjournaille den Ton bestimmen. Doch inzwischen hat es sich unter denen herumgesprochen, die wieder einmal die Sündenböcke und Opferlämmer für »die da oben« spielen sollen: wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat es schon.

Und so gingen im August Menschen auf die Straße und machten ihrem Unmut, ihrer Wut Luft. Unmut über die vermeintliche Zwangsläufigkeit ihres Absturzes in die Armut. Wut über die Hoffart von Politikern und Medien, die sie für dumm verkaufen und dafür noch abkassieren wollen. »Hartz IV«, jenes Gesetzeswerk, das selbst von bürgerlichen Journalisten als tiefster Einschnitt ins soziale Netz seit Bildung der BRD bezeichnet wurde, geriet zum Hauptadressaten des sozialen Protestes.

Über drei Millionen Menschen sollen ab Januar 2005 auf niedrigem materiellem Niveau gleichgeschaltet werden. Knapp 350 Euro monatlich plus Warmmiete. Falls der Lebenspartner nicht so viel verdient, daß er über der niedrig gehaltenen Bemessungsgrenze liegt und falls die Wohnung angemessen im Sinne der Einheitsarmut ist. 331 Euro pro Monat im Osten, 345 Euro im Westen sindlächerlich und es ist ein schlichter Gewaltakt der Herrschenden, dies als zumutbar zu diktieren. Besonders nach dem Jahr 2002, als die D-Mark vom Euro abgelöst worden ist. Diesen inflationären Schock – der von den bürgerlichen Statistikern und der Politik weitgehend geleugnet wird – haben selbst die sogenannten Normalverdiener bis heute nicht verkraftet. Wer es noch nicht mußte, kann sich keine Vorstellung davon machen was es bedeutet, mit einer solchen Summe Monat für Monat auszukommen.

Neue Arbeitsplätze sind weit und breit nicht in Sicht. Sieht man von den geplanten Zwangsjobs zu einem Euro pro Stunde und den sich damit weiterverbreitenden Niedrigstlohnjobs ab, werden in der Zukunft weitere Vollzeitarbeitsplätze wegfallen. Sei es durch Verlagerung ins Ausland, sei es durch Rationalisierungseffekte in Konzernen und Unternehmen. Von einem Abbau der Erwerbslosigkeit kann real keine Rede sein. Da hilft es auch wenig, wenn Politiker und Wirtschaftsforscher ständig von einem sich stabilisierenden Aufschwung reden. Der ist nämlich bereits da. Zwei Prozent Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal sind mehr, als man erwarten konnte. Die Exportwirtschaft boomt wie eh und je. Nur die Binnennachfrage kränkelt, und das hat viel mit Massenerwerbslosigkeit, Inflation und Zukunftsangst zu tun. »Hartz IV« ist ein mindestens so starkes Gift gegen wachsende Inlandsnachfrage wie diverse andere »Reformen«. Praxisgebühr, Arzneimittelzuzahlungen, Erhöhungen von Verbrauchssteuern und Gebühren gehen in ihrer Wirkung einher mit diversen vollzogenen und angekündigten Preiserhöhungen für Grundbedarfsgüter wie Wasser oder Energie.

Volkswirtschaftlich und gesellschaftspolitisch macht das keinen Sinn. Es vertieft die sozialen Gegensätze im Lande, läßt die Mittelschicht erodieren. Lediglich diejenigen profitieren davon, die sowieso schon begütert sind oder das Glück haben, Moderator beim ZDF, Oberamtsrat, Unternehmensberater bei McKinsey, Ingenieur bei BMW oder Fußballer bei einem Proficlub zu sein. Als Arbeitsloser einen vernünftig dotierten Erwerbsjob zu finden, gleicht immer mehr einem Lotteriespiel. Da könnte man genausogut auf die Glücksspirale oder Jauch hoffen. Realität bleiben das ermüdende Schreiben von Bewerbungen und die sich verstärkenden Schikanen vom Arbeitsamt. Zumutbar ist dann fast alles, was wie Beschäftigung aussieht. Wer es ablehnt, muß mit Geld- sprich Lebensentzug rechnen.

»Fördern und fordern« nennt das die Bundesregierung. Langzeiterwerbslose Maschinenbauer oder Bauingenieure müssen dann auch Laub und Hundekot aufsammeln. Wenn nicht, dann setzt es die Todesstrafe auf Raten. Denn, wer Steuergelder beanspruche, der solle auch eine Gegenleistung für die Gesellschaft bringen, tönt es allenthalben. Da bleibt für die Millionen Betroffenen wenig Spielraum zum Handeln. Sich wehren, sei es mit Demonstrationen oder Besetzungen von Arbeitsämtern. Der Phantasie sind da kaum Grenzen gesetzt. Oder sich verkriechen. Für immer.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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