Erfahrung mal Haß zum Quadrat
Von Annett Gröschner»Ich lege mich irgendwann um.« – »Ja, Bernward.« – »Spätestens mit fünfunddreißig.« »Ja-ha. Hör ich jetzt zum yten Mal.« – »Mit fünfunddreißig«, sagte er, »will ich zwei drei Tatzenhiebe veröffentlicht haben, die mir einen unkündbaren Platz in der Literaturgeschichte sichern.«
So überliefert es uns Henner Voss in seinen Erinnerungen an Bernward Vesper »Vor der Reise«, die die lose Reihe von Zeitzeugenberichten über 1967/68 und die Folgen, die der Verlag Edition Nautilus seit einiger Zeit veröffentlicht, um ein gut geschriebenes, mitunter etwas launig daherkommendes Bändchen bereichert.
1961 besuchten Bernward Vesper und Henner Voss die Buchhändlerschule in Rodenkirchen bei Köln, später lebten sie gemeinsam in einer kleinen Wohnung in Berlin-Kreuzberg, tranken viel (solange Gudrun Ensslin nicht in der Nähe war), redeten über Literatur, und Vesper betätigte sich zu fortgeschrittener Stunde als Hochstapler. Er betrieb zu dieser Zeit zusammen mit Gudrun Ensslin den Verlag studio neue literatur, wo Voss Berater und Mitarbeiter war, bis er schließlich eines Nachts die Kreuzberger Wohnung unter Hinterlassung eines Abschiedszettels verließ. Das war 1965. Daß Vesper wenige Jahre später den »intellektuellen Höhepunkt des Jahres 68« (Peter Weiss) verfassen würde, war damals nicht abzusehen. Auch Henner Voss kommt in Bernward Vespers Roman »Die Reise« vor, im Anhang unter der kryptischen Karteikarte »k 38 abtreibungen (...) verhütungsmittel (henner voss) /////// (rotes schülerbuch p.83) kondom«. Sehr rätselhaft.
Gegen das Buch läßt sich nur sagen, daß es ruhig hätte hundert Seiten länger sein können, vor allem hätte man gerne mehr über den Autor erfahren, und daß es schade ist, daß Felix Ensslin vierzehn vom Autor ausgewählte Briefe Vespers an den Autor, aus welchen Gründen auch immer, nicht freigegeben hat.
Es genügten ein Tatzenhieb, die richtige Braut und ein unnatürlicher Tod mit 33, daß Bernward Vesper sich einen Platz in der bundesdeutschen Literatur- und leider auch in der Ideologiegeschichte sichern konnte. Leider sage ich deshalb, weil in den letzten Jahren der literarische Rang seines Romanessays »Die Reise« so gut wie keine Rolle mehr spielte. Es wurde nur noch von der Person Bernward Vespers gesprochen, und alles das, was er mit dem grandiosen Roman, von dem Henner Voss in seinem Buch schreibt er sei »verstörend wie ein Blutsturz«, loswerden wollte, hat seine Person wieder eingeholt. Nach Erscheinen von Gerd Koenens Buch »Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des Terrorismus«, das vom Verlag mit der verdächtig nach Bild klingenden Zeile »Die Inkubationszeit des Terrors: eine extreme Liebesstory und eine exemplarische deutsche Geschichte« beworben wurde, war Vesper in den Feuilletons nicht mehr nur Faschistenkind, sondern wegen der Herausgabe der Werke seines bis zum Tode nationalsozialistischen Vaters Will Vesper, selbst Faschist und Beweis dafür, daß zwischen Nationalsozialismus und Linksterrorismus nur ein kleiner Schritt läge. Es wurde vergessen (ob nun aus Desinteresse an Literatur oder mit Absicht, sei dahingestellt), daß der fünf Jahre später geschriebene Romanessay »Die Reise« genau das zum Thema hatte: schonungslos die Verstrickungen der eigenen Person zu beschreiben. »Man muß sich vermutlich damit abfinden, daß es ganz unmöglich ist, diese ganze Kloake von 31 Jahren zu Papier zu bringen. Versuchen, die dadurch zu ordnen, die Legende, die wir von uns gemacht haben, zu zerstören, die neue Legende. Daß wir einfach viel zuviel bereits vergessen haben«, schrieb Vesper an einer Stelle der »Reise«. Und an anderer: »Die Schonung, die man sich gewährt, gewährt man in Wahrheit den gesellschaftlichen Verhältnissen.« Man muß ja den Autor nicht lieben, um zu sehen, daß hier einer einen ganz außergewöhnlichen Roman zustande gebracht hat, der mehr ist als ein Bestseller auf den Listen des Spiegel.
»Die Intensität, mit der hier Tyrannei, Wehrlosigkeit, Existenznot, Unbehaustheit, Betäubungsverlangen, Kompaßlosigkeit und Haß in Sprache übertragen werden, macht Vespers Romanfragment zu einem unverlierbaren Ereignis der deutschsprachigen Prosaliteratur«, heißt es im letzten Satz von Henner Voss’ Erinnerungen.
Bernward Vespers »Reise« fiel mir Mitte der achtziger Jahre, ich war noch durch eine 3,68 m hohe Mauer von den Diskussionen um 1967 und die Folgen getrennt, in die Hände. Neben den Gedichten von Inge Müller, die sich 1966 in Ostberlin das Leben nahm, ist Vespers Buch der einzige Versuch in der deutschen Literatur, sich der Vergangenheit, auch der eigenen, ohne Netz und doppelten Boden zu stellen, freilich bei beiden eine Authentizität mit tödlichem Ausgang.
Die Editionsgeschichte der »Reise« bildet mittlerweile fast ein eigenständiges Werk, wie auch die Geschichte des MÄRZ-Verlages ein Roman ist. Im Sommer 1969 bot Bernward Vesper dem März-Verlag ein Romanexposé an, das von Jörg Schröder gefördert wurde. Bis zu seinem Freitod 1971, nach Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken, schrieb Vesper an dem Manuskript, das unvollendet blieb. Auf unterschiedlichen Erzählebenen bereist der Erzähler zum einen reale Orte, wie die jugoslawische Adriaküste, als auch durch psychedelische Trips verursachte fiktive Welten. Zu den beeindruckendsten Passagen des in Montagetechnik verfaßten Romanessays gehören die Erinnerungen des vom autoritären Vater beherrschten Kindes und jungen Erwachsenen. Die Übergänge zwischen den Ebenen sind fließend. Nach dem Konkurs des Verlages erschien der Romanessay »Die Reise«, der nach Vespers Willen ursprünglich »HASS« heißen sollte, 1977 bei der Neugründung März. 1979 folgte die »Ausgabe letzter Hand«, erweitert um Nachlaßtexte des Autors, 1980 erschien die letzte Originalauflage. Das Buch wurde ein Erfolg, innerhalb der ersten vier Jahre gab es zwanzig Auflagen. 1983 erwarb der Rowohlt Verlag eine Taschenbuchlizenz und zahlte dafür eine Garantiesumme, die bis zum heutigen Tag nicht verbraucht ist. Der Taschenbuchverlag führt »Die Reise« nur noch in seiner Backlist. Das Buch ist also unsichtbar.
1987 mußte Schröder seinen Verlag aufgeben und ist seitdem mit seinen Projekten »auf Reise«. Nun hat sich der Area Verlag für Sonderausgaben (im Internet ist der Weg von MÄRZ zum Kochbuch nur ein Klick) des Projektes angenommen. Jörg Schröder hat für die Neuausgabe seine Editionschronologie um eine III. Folge erweitert, in der er die Beweggründe der Herausgabe schildert. »Es ist paradox: Ein Buch über Bernward Vesper [Koenen, A.G.] wurde im Jahr 2003 fünfzigmal mehr verkauft als ›Die Reise‹.« Ein anderer Grund für die Neuedition ist, dem Spekulativen der Vesper-Rezeption das Werk entgegenzusetzen. Schröder schildert die janusköpfige Phase Vespers, auf die er schon 1979 hingewiesen hat, noch einmal aus seiner Sicht, nicht ohne die selbstmörderische Konsequenz von Vespers Aufarbeitung zu erwähnen.
Der Verlag hat den quietschgelben Umschlag übernommen, und auch das berühmte Motiv ist geblieben: Es ist acht vor eins auf dem Bahnhof in Triangel, wo Vesper aufwuchs, die Gleise sind leer, die Uhr hat altmodisch-schnörkelige Zeiger. Ein Zug ist nicht zu sehen. (Komisch, ich habe immer gedacht, Triangel ist ein fiktiver Ort, aber es gibt ihn wirklich, bei Gifhorn, und sogar die Bahnstrecke wird noch bewirtschaftet.)
»Was wir tun sollten, um die Spekulationen der Vesper-Exegeten und die Mythenentzifferer der Achtundsechziger ad absurdum zu führen, ist: Vespers Buch lesen!«, schreibt Jörg Schröder in der Editions-Chronologie III im Anhang des Buchs. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
* Bernward Vesper: Die Reise. Romanessay. Ausgabe letzter Hand. Nach dem unvollendeten Manuskript herausgegeben, neu durchgesehen und mit einer Editions-Chronologie versehen von Jörg Schröder, ein MÄRZ Buch im AREA Verlag, Freiburg/Hamburg 2005, 720 Seiten, 12,95 Euro
* Henner Voss: Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper, Edition Nautilus, Hamburg 2005, 89 Seiten, 14 Euro
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