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Aus: literatur, Beilage der jW vom 19.10.2005

Kummerland ist abgebrannt

Verbrechen als Ausweg aus der sprachlosen Enge in Nachkriegsbayern: Ludwig Lugmeiers literarisch geniale Autobiografie
Von Wolfgang Bortlik

Seinen ersten Einbruch macht Ludwig Lugmeier in einen Bauwagen. Da ist er vierzehn Jahre alt. Das Ziel seiner verbrecherischen Energie ist nicht die halbvolle Flasche Bier auf dem Tisch, sondern eine Taschenlampe, die an der Wand hängt. Eine Wunderlampe, deren Licht er vielleicht bis zum Mond aussenden kann, mit der er auf jeden Fall die dunkelsten Winkel ausleuchten wird. Diese Lampe kann Licht in die Düsternis, in die Ödnis bringen, die einen Vierzehnjährigen im bayrischen Voralpenland zu Beginn der sechziger Jahre umklammern. Ein Jugendlicher, der dann in der Biografie seinen Zustand mit einem ergreifenden Satz erklären wird: »Ich haßte mich, daß ich war, was ich war.«

Die Aneignung der Taschenlampe durch Diebstahl ist nötig, anders geht es ja nicht. Wie soll der Ludwig sonst zu einer Wunderlampe kommen? Er braucht ja auch das Licht, die Helligkeit, um etwas zu suchen: ein Leben, ein anderes Leben als das, welches seine Eltern führen.

In aller Unschuld beginnt Ludwig Lugmeiers Karriere als Gesetzloser. Der Keim zur Unzufriedenheit mit dem Vorhandenen und all den kleinen Zielen ist wahrscheinlich schon früher in ihm gelegt worden. Vielleicht von der Großmutter mütterlicherseits. Sie ist eine Art Kräuterhexe, die Karten legt und den Ameisen die Säure abzapft, um diese dann als Wundermittel zu verhökern. Vielleicht ist auch die Literatur schuld? Zum Beispiel die Piratenromane, die der Junge begeistert verschlingt. Gleichzeitig träumt er davon, zur See zu fahren. Hermann Hesse hingegen gibt ihm keinen Kick. »Narziß und Goldmund« findet er langweilig, obwohl ihm das von der Frau Pauli empfohlen wird, der Mutter eines Schulkollegen, die dem Ludwig auch zu den ersten sexuellen Phantasien verhilft. Möglicherweise ist aber auch einfach die noch nicht formierte Nachkriegsgesellschaft an allem schuld. Zuviel Elend, zuviel Chaos, zu viele gesellschaftliche Außenseiter wie Rattenjäger in Kiesgruben und einbeinige Kriegsveteranen, zu denen sich der junge Ludwig mehr hingezogen fühlt als zu seinem pingeligen, ordnungssüchtigen Vater.

Ludwig Lugmeier wird ein gänzlich anderes Leben führen als die meisten, zumindest bis er mit siebenundzwanzig Jahren für zwölf Jahre hinter Gittern verschwindet. Von diesem Leben erzählt er uns in seiner nun vorliegenden Autobiografie »Der Mann, der aus dem Fenster sprang«. Lugmeier wird 1949 in Kochel am See in Oberbayern geboren. Als er dreizehn ist, stirbt seine Mutter. Damit verschwindet sozusagen sein letzter Halt im bürgerlichen Leben. Nach der Schule beginnt er eine Lehre als Maurer, doch seinem Traum von der großen weiten Welt via Schiff schwört er nicht ab. Nach dem Taschenlampendiebstahl versucht er sich auch weiter als Einbrecher und trifft andere Ganoven. Mit fünfzehn Jahren landet Lugmeier erstmals vor Gericht, weil er im Gefolge eines älteren Komplizen einen Supermarkt vandalisiert hat. Ludwig will jetzt den schweren Jungen spielen und ist stolz darauf, in Handschellen zur Verhandlung geführt zu werden. Zehn Monate ohne Bewährung kriegt er, weil er nicht gesteht. Im Jugendknast lernt er Holger, einen Waffenspezialisten, kennen. Außerdem hört sich der naive Nachwuchsverbrecher begierig die wilden Stories der anderen Gefangenen an. Von der Mafia, in die man in Palermo eintreten kann. Ludwig bricht aus und trampt durch ganz Italien nach Sizilien. Nachdem er erwartungsgemäß nicht bei der Mafia unterkommt, versucht er vergebens, auf einem Schiff anzuheuern. Hätte dies geklappt, so wäre Lugmeiers Karriere vielleicht anders verlaufen. So trampt er wieder zurück durch Italien, kommt in Deutschland bei einem Zirkus unter und begeht schließlich im Suff einen ziemlich dilettantischen Einbruch. Dabei verletzt er sich die Hand und landet wieder in U-Haft. Dort lernt er einen Mitgefangenen kennen, der ihn dazu bringt, wieder zu lesen und sogar eine Geschichte zu schreiben.

Schließlich wird Lugmeier zu einem Jahr in Ebrach bei Bamberg verurteilt. Dieses Jugendgefängnis kennt man aus der politischen Geschichte: Im Juli 1969 organisiert die außerparlamentarische Opposition dort ein Knast-Camp. Fritz Teufel, Irmgard Möller, Georg von Rauch, Dieter Kunzelmann, kurzzeitig sogar Gudrun Ensslin und Andreas Baader wollen dort agitieren, scheitern aber am handfesten Widerstand der örtlichen Bürgerwehren. Zu dieser Zeit versucht sich Lugmeier aber schon längst als Zuhälter in Westafrika, als Fluß-Schiffer zwischen Hamburg und Berlin, als Drogenschmuggler in Afghanistan oder als Madonnendieb in bayrischen Kirchen.

In Ebrach trifft Lugmeier auch den zwei Jahre älteren Dimitri Todorov, der mit seinem Komplizen Hans-Georg Rammelmayr im August 1971 den ersten Banküberfall mit Geiselnahme in Deutschland inszeniert. Auch Holger ist als Waffenlieferant mit von der Partie. Mit ihm wird Lugmeier dann gegen Ende des Jahres erfolgreich einen Geldtransporter in München überfallen.

»Da liegt, was ich will, dachte ich. Da liegt es, Reisen, Frauen, Meer.« So beschreibt Lugmeier seine Empfindungen, als er vor der Millionenbeute steht. Und man nimmt ihm dieses Klischee unbesehen ab. Ja, Junge, jetzt hast du es geschafft! Im Gegensatz zu anderen Verbrecherbiografien, etwa der von Jacques Mesrine, ist Lugmeier bemüht, unpathetisch zu bleiben. »Dieser Knast hat mich endgültig dem Staat und der Gesellschaft zum Gegner gemacht«, schreibt Todorov in seiner Autobiografie »22 Jahre Knast«. Dieses Staatsfeind-Pathos ist Lugmeier fremd. Er vertraut seinen Geschichten und erzählt von den Unwägbarkeiten nach einem geglückten Verbrechen, dem Mißtrauen gegenüber den Komplizen, dem elenden Warten auf einen falschen Paß, dem scharfen Blick auf die Jäger, aber auch vom plötzlichen Luxus, vom sinnlosen Verpulvern der Beute. Lugmeier hat ja auch durchaus vor, an den Errungenschaften, am Mehrwert dieser Gesellschaft zu partizipieren. Einmal will er mit einer arabischen Exzellenz sogar ein Hotel auf den Bahamas kaufen.

Kurz zuvor ist ihm mit Holger in Frankfurt ein weiterer Überfall auf einen Geldtransport gelungen. Wieder ist die Beute in Millionenhöhe. Die Flucht endet in Mexiko mit dem Zerwürfnis zwischen den beiden Komplizen und deren Verhaftung. Während des darauffolgenden Prozesses im Februar 1976 landet Lugmeier seinen spektakulärsten Coup, den Sprung aus dem Fenster des Gerichtssaals und in die Freiheit. Die endet, als der mittlerweile in Deutschland aufwendig Gesuchte in Island verhaftet wird und 1977 für zwölf Jahre hinter Gittern verschwindet. Das ist das Ende der vorliegenden Lebensgeschichte, und liest man die entsprechende Passage, so scheint es fast, als ob Lugmeier froh darüber ist, daß seine Flucht zu Ende ist.

»Ich wollte endlich zu schreiben beginnen ... Einen großen Schreibtisch kaufte ich und eine Schreibmaschine, dann setzte ich mich hin, spannte Papier ein und suchte mit zwei Fingern auf der Tastatur. Ich schrieb: Ich bin in Island gelandet. Weiter fiel mir nichts ein. Das weiße Papier kam mir uneinnehmbar vor.«

Seither hat Lugmeier diese Hemmungen glücklicherweise verloren. Seine Biografie ist ein starkes Stück. Eine präzise Darstellung menschlicher Leidenschaften, eine Mentalitätsgeschichte von unten, vom Rande. Propaganda fehlt in seiner Biografie ebenso wie Sentimentalität. Tempo und Erzählfluß sind ungebrochen. Menschliche Dummheit wird nicht beschönigt, es gibt fast keine Moral von der Geschicht’, höchstens vielleicht die, daß sich Verbrechen nicht lohnen, bloß manchmal, vielleicht erst nach Jahren, auf wundersame Art doch noch irgendeine Art von Gewinn abwerfen. In diesem Fall zumindest diese aufsehenerregende, literarisch gelungene Autobiografie.

* Ludwig Lugmeier: Der Mann, der aus dem Fenster sprang. Verlag Antje Kunstmann, München 2005, 334 Seiten, 19,90 Euro

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