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Aus: migration, Beilage der jW vom 09.11.2005

Festung Europa

Tote an den Grenzen. Melilla, Schiphol und Paris: Chiffren für ein menschliches und politisches Desaster
Von Ulla Jelpke

Jahrelang wurden in der deutschen Migrationspolitik keine Fortschritte erzielt. Immer noch gibt es Abschiebeknäste, das Asylrecht ist verkümmert, die Drittstaatenregelung und das System sicherer Herkunftsländer machen den Zugang zur Festung Europa unmöglich. SPD und Grüne schufen ein neues Staatsangehörigkeitsrecht – es war ein Flop, wie sich an der schäbigen Behandlung tükischstämmiger Doppelstaatler zeigte. Das Zuwanderungsgesetz verdient seinen Namen nicht und ist auf Abwehr statt Weltoffenheit ausgerichtet. Die Pläne für Auffanglager in Nordafrika gingen von der deutschen Bundesregierung aus. Das traurige Schicksal »Illegalisierter« interessiert hierzulande kaum jemanden.

Mehrere dramatische Ereignisse in anderen Staaten zwingen aber auch der deutschen Politik eine neue Debatte auf, der sie sich bisher aus Ignoranz und Bequemlichkeit verweigert hat. So etwa wurden an der EU-Grenze zur spanischen Enklave Melilla in Marokko Flüchtlinge gezielt getötet. Am 27. Oktober starben elf Menschen im Abschiebegefängnis in Amsterdam-Schiphol, 15 wurden verletzt. Ursache war ein Brand im Gefängnistrakt des Flughafens. Alle Toten waren Abschiebhäftlinge. Grund ihrer Inhaftierung war die »illegale« Einreise in die Niederlande, die eines der schärfsten Einwanderungsgesetze der EU haben. Nach Angaben von Zeugen reagierten die Gefängniswärter nicht auf Hilferufe.

In den Niederlanden kam es zu Trauerkundgebungen, in denen das rassistische Grenzregime der EU kritisiert wurde. Die Forderungen »Grenzen töten. Weg mit allen Lagern und Abschiebeknästen! Stopp aller Abschiebungen! Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle!« sind aber auch in Deutschland höchst aktuell.

Auch die gewaltsamen Proteste in Frankreich werden ihre Wirkung auf die BRD nicht verfehlen. Denn die Integrationspolitik ist hier wie dort gescheitert (oder besser gesagt: nie richtig angepackt worden). In Paris haben Jugendliche aus Migrantenfamilien erkannt, daß sie sozial an den Rand gedrängt sind und keine Zukunftsperspektive haben. Die Wucht ihres berechtigten Protestes erfaßte das ganze Land. Ähnlich wie in der BRD hat auch die Regierung in Paris kein Integrationskonzept. Innenminister Nicolas Sarkozy bewies die ganze Hilflosigkeit und Erbärmlichkeit von Politikern seines Schlages, indem er die Jugendlichen als »Abschaum« bezeichnete. Kommunisten und Grüne forderten ihn daraufhin zum Rücktritt auf. Bewohner der Problemstädte verlangten eine Entschuldigung. Auslöser der Auseinandersetzung war der Tod zweier Jugendlicher in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois am 27. Oktober. Die Jungen hatten sich vor der Polizei in einem Transformatorenhäuschen versteckt und dort tödliche Stromschläge erlitten.

Es rächt sich jetzt bitter, daß die EU-Institutionen viel über Abschottungsmaßnahmen, aber wenig über Integration diskutiert haben. Ceuta, Melilla, Schiphol und Paris zwingen zu der Erkenntnis, daß keine Gesellschaft auf Dauer ohne Humanität und Solidarität auskommen wird. Diese Migrarionsbeilage soll dazu beitragen, mit Fakten und Analysen eine notwendige Debatte anzustoßen.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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