Direkter Sound
Von Christof MeuelerFrüher mußten Ton Steine Scherben ihrem Publikum erklären, warum sie deutsch singen. Sie meinten, sie wollten gern verständlich sein. Heute werfen ihnen manche vor, nationalistisch gewesen zu sein. Als ich die Band auf einer ihrer letzten Touren Anfang der 80er zu erstenmal live hörte, verstand ich den Refrain »Halleluja, der Papst ist tot«. In Wahrheit lautete er aber: »Halleluja, der Turm stürzt ein.«
Wie es sich für eine avancierte linke Band gehört, ist die Geschichte von Ton Steine Scherben eine der produktiven und unproduktiven Mißverständnisse, des glücklichen Scheiterns und unglücklichen Ausprobierens. Nachzulesen in dem neuen Sammelband »Scherben«, den Wolfgang Seidel herausgegeben hat. Rückblickend nennt er die ganze Angelegenheit eine »Art Selbstexperiment, ein Freilandversuch, der damals auf nichts Vergleichbares zurückgreifen konnte.« Diesen Versuch grundsätzlich zu erklären hebt er mehrmals verwegen an, schreibt viel zu oft davon, was dieses Buch soll und will, anstatt das im Vorwort zu formulieren, und verliert sich in Undeutlichkeiten und schlecht getimeten marxistischen Grundkursausführungen nach dem Motto: Was ist eine Ware? Dem Buch fehlen nicht nur ein Index und eine Banddiskographie, sondern eine stringente Ordnung. Statt dessen gibt es auch viel Schluffizeug wie Gedichte von Thorwald Proll, »wütende Worte« von der früheren Hausbesetzerband Mekanik Destrüktiw Kommandöh oder eine deplazierte »Kritik der Konsumkritik« der »Berliner Arbeitsgruppe« Jimmy Boyle. Ton Steine Scherben müssen da leider stellenweise draußen bleiben.
Seidel war der erste Schlagzeuger dieser 1970 in Westberlin gegründeten Band. Legendär die erste Single: »Macht kaputt was euch kaputt macht«, erschienen auf »David Volksmund Produktion«. »Das stand da, weil wir dachten, daß eine Schallplatte auch ein Label haben muß. Also haben wir einfach eins erfunden.« Das erste deutsche Independentlabel kam aus der Raubdruck-, Kinderladen- und Buchladenszene. »Keiner von uns arbeitet mehr für einen Chef. Klingt gut. In Wirklichkeit hat der Chef aber nur die Adresse gewechselt. Er wohnt jetzt im eigenen Kopf« (Seidel). Wenn’s ums Geld geht, dann ist nie welches da. Das Ende der Band 1985 resümierte der langjährige und letzte Schlagzeuger Funky Götzner: »Und dann ging Rio Reiser zur ›Sony‹ und ich zum Sozi.«. Reiser ist seit neun Jahren tot und Götzner verkauft heute Riester-Renten.
Zum Schluß wären Ton Steine Scherben »irgendwo zwischen Keith Richards und The Knack ... eine ganz normale Rockband mit einem charismatischen Sänger« gewesen, schreibt Ted Gaier, Gitarrist der letzten großen linksradikalen Band unserer Tage, Goldene Zitronen. »Keine Verheißung, sondern die Erinnerung daran.« Gaier bringt auch das grundsätzliche Problem der Analyse solcher Bands auf den Punkt: »Kollektive, die zur Konkursmasse der Geschichte erklärt werden, sind seltsame Gespenster. Während niemand auf die Idee käme, nach der Pleite eines Konzerns das ihm zu Grunde liegende Prinzip der Profitmaximierung für gescheitert zu erklären, scheint das Ende eines Kollektivs immer auch gleich den Bankrott der ganzen Idee zu beweisen. Da können ganze Staaten wie Argentinien pleite gehen und niemand sagt: ›Ha, da haben wir es, der Kapitalismus ist gescheitert‹.«
Der dümmste Vorwurf des Gescheitertseins von Ton Steine Scherben ist selbstverständlich ein ideologischer. Weil Nazibands heute ein paar ihrer Lieder singen würden, sei die Band kryptofaschistoid gewesen: »Die offensichtlichen Konzessionen an ›Volkstümlichkeit‹ und ›Verständlichkeit‹ waren zur Entstehungszeit der Scherben so bedenklich, wie sie es auch heute noch sind, wer also nach der Ursache für die Kompatibilität von Scherben-Songs mit dem Repertoire von Heimatbewegten und Ausländerhassern als solche sucht, sollte hier beginnen« rät ein im »Editorial« als »Journalist« vorgestellter Hartwig Vens. Man könnte natürlich auch beim Ton-Steine-Scherben-Lied »Mein Name ist Mensch« beginnen, denn Faschisten sind doch auch Menschen, oder etwa nicht? Vens wirft der Band vor, »ein Mißtrauen gegen das Kollektiv« nicht geleistet zu haben, weshalb die auch nicht als »erste deutsche Punkband« bezeichnet werden dürften. »Mein Name ist Mensch« ist auf der ersten LP der Band »Warum geht es mir so dreckig« von 1971, in ihrer grob getackerten fotolosen Papphülle ein »Werkstück« (Seidel), zeitgleich mit den Produkten der Stooges und MC 5 einer der ersten Punkplatten überhaupt. Punk wäre nach Vens’ Ansicht »mit dem Gestus der Konfrontation und Arroganz« nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber dem Publikum angetreten. Tatsächlich ist das Publikum der Band gehörig auf die Nerven gefallen: Die zahlten kaum Geld, wollten keine neuen Lieder hören und plünderten so lange den Kühlschrank in ihrer Westberliner Wohngemeinschaft, bis sie Mitte der Siebziger Jahre auf einen nordfriesischen Bauernhof nach Fresenhagen flüchteten. Die Musik der Band, die dort entstand, wollten noch weniger Leute hören.
Erst als sich Rio Reiser für Sony zum »König von Deutschland« ausrief, bezeichnenderweise zusammen mit »Alles Lüge« sein einziger Hit, gab es nennenswerte Gelder. Als Solokünstler war er trotzdem nicht sooo der Renner. Sämtliche Soloplatten sind vollgestopft mit Plunder, den er immer schlechter verkaufte. Es heißt, daß er kurz vor seinem Tod mit seinem Glimmer-Twin-artigen Komponistenkumpel Lanrue über eine Wiedergründung nachdachte. Lanrue spielte erst bei Ton Steine Scherben und den Vorgängergruppen, dann auf den Rio-Reiser-Platten Gitarre und hörte erst damit auf, als Reiser es von seiner Produzentin Annette Humpe verboten bekam, auf der lang geplanten Lanrue-Solo-Platte zu singen.
Die Grünenfunktionärin Claudia Roth hingegen bekam es nie verboten, mit ihrer Vergangenheit als Managerin der späten Ton Steine Scherben zu protzen. Schon die ersten Manager waren laut Seidel Politikommissare und Kunsthasser. Gleichwohl wäre »Keine Macht für niemand« keine abgelehnte Auftragsarbeit für die Stadtguerilla gewesen. Ebensowenig hätte die Band auch auf keiner schwarzen Liste im Rundfunk gestanden. In ihrer Frühzeit waren Ton Steine Scherben ganz schön oft im Fernsehen. Die vorrangige Hauptsorge der Beteiligten sei es gewesen, ihre Instrumente in den Griff zu bekommen. Das ergab dann diesen »direkten Sound« (Gaier), der im Buch allgemein bewundert wird.
»When the music’s over turn out the light«, forderte Jim Morrison. Als letztes Bandmitglied verließ Lanrue Fresenhagen zu dem Zeitpunkt, als die Reiser-Verwandtschaft daran ging, aus dem Bauerhof eine verhältnismäßig profitable Toten- und Kitschgedenkstätte entstehen zu lassen. Während Reiser dort begraben liegt, loben seine Brüder einen nach ihm benannten »Songpreis« aus, bei dem sie sich zum Beispiel zusammen mit dem nationalistischen »Verein Deutsche Sprache« um den Heimatbegriff sorgen. Andere wiederum scheinen zu glauben, Reiser wäre für die deutsche Popquote in Radio und Fernsehen gestorben. Als Ton Steine Scherben anfingen, gab es im BRD-Radio eine Zweidrittelquote für ausschließlich deutschsprachige Schlager. »Die Chefs schützen, den Staat schützen. Vor wem? Vor uns!« hat Reiser auf »Macht kaputt« gesungen und irgendwann aufgehört, dieses Lied zu spielen.
* Wolfgang Seidel: Scherben – Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben, Ventil Verlag, Mainz 2005, 251 Seiten, 14,90 Euro
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