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Aus: erster mai 2006, Beilage der jW vom 29.04.2006

Recht auf Generalstreik

Über die historischen Wurzeln des 1. Mai, die Verantwortungslosigkeit der Regierenden und das Mittel des politischen Streiks. Ein Beitrag von Oskar Lafontaine
Von Von Oskar Lafontaine
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In Zeiten, in denen in Deutschland Regierende und Unternehmer einvernehmlich Stundenlohnkürzungen in Form von Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich zur Regel erklären und die Gewerkschaften mit dem Rücken an der Wand stehen, ist es sinnvoll, sich den Ursprung des Maifeiertags ins Gedächtnis zu rufen: 1884 forderten die »Föderierten Gewerkschaften und Arbeitervereine der USA und Kanadas«, daß ab dem 1. Mai 1886 die tägliche Arbeitszeit nicht länger als acht Stunden betragen sollte. Der 1. Mai galt damals als Stichtag für den Abschluß oder die Aufhebung von Arbeitsverträgen. Um diesen Anspruch durchzusetzen, begannen die Gewerkschaften am 1. Mai 1886 einen mehrtägigen Generalstreik. Über 400 000 Beschäftigte legten ihre Arbeit nieder. Schon bald darauf, am 14. Juli 1889 – dem 100. Jahrestag der französischen Revolution – erklärte der Gründungskongreß der Zweiten Sozialistischen Internationale in Paris den 1. Mai auf Antrag der US-Delegation zum Kampftag der Arbeiterbewegung. Unter diesem Einfluß wurde auch im Deutschen Reich 1890 zum ersten Mal am 1. Mai gestreikt und demonstriert.

Generalstreik und Arbeitszeitverkürzung waren also Ursprung, Mittel und Zweck des 1. Mai, den wir heute als Tag der Arbeit begehen. Der Wohlstand der abhängig Beschäftigten wie der Gesellschaften insgesamt hat sich seitdem enorm verbessert. Der arbeitssparende technische Fortschritt lieferte die ökonomische Voraussetzung hierfür. Durch fortlaufende Verbesserungen in der Produktion gelang es, mit sinkendem Aufwand mehr zu produzieren. Herkömmliche Waren verbilligten sich und fanden Eingang in den Massenkonsum. Die gestiegene reale Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten machte auch die Entwicklung und Herstellung neuer Produkte ertragreich. Die gesellschaftliche Beteiligung an diesem Fortschritt wurde den Beschäftigten jedoch von Anfang an nicht geschenkt. Sie mußte vielmehr gegen die Unternehmer und häufig auch gegen die Regierenden durchgesetzt werden. Dies zu tun lag nicht in den Händen des einzelnen, sondern bedurfte der sozialen Organisation – der Gewerkschaften.

Spiegelt man in diesem kurzen Rückblick die gegenwärtige Situation in Deutschland wider, wird deutlich, daß der Arbeitskampf nichts an seiner Bedeutung für den sozialen Interessenausgleich eingebüßt hat. Viele Menschen arbeiten wieder oder immer noch länger als acht Stunden am Tag. Selbst die kommunalen Arbeitgeber haben gerade erst eine erneute Verlängerung der Arbeitszeit für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst gegen den Widerstand der Gewerkschaft durchgesetzt. Die Lohnentwicklung ist in den vergangenen Jahren weit hinter die Entwicklung der Arbeitsproduktivität zurückgefallen. Die Politik hat die Unternehmen und die Vermögenden in unverantwortlicher Weise durch Steuerentlastungen aus der gesellschaftlichen Verantwortung entlassen und die Arbeitnehmer einseitig und unverhältnismäßig zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben herangezogen. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Angst der Beschäftigten vor Arbeitsplatzverlust haben die Gewerkschaften nachhaltig geschwächt. Gleichzeitig schürt die Regierung mit arbeitnehmerfeindlicher Gesetzgebung wie der Aufhebung des Kündigungsschutzes – von ihr verharmlosend als Verlängerung der Probezeit tituliert – und weiterem Sozialabbau diese Furcht. Diese Politik, die unter dem Deckmantel persönlicher Freiheit daherkommt, aber nur die Freiheit der Wirtschaft, der Vermögenden und der Mächtigen zum Ergebnis hat, hat Kurt Tucholsky bereits 1930 aufs Korn genommen, als er in seinem Gedicht »Die Freie Wirtschaft« den Unternehmern und Regierenden den Vers in den Mund legte: »Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen. Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen ... Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein, wir wollen freie Wirtschaftler sein ... Ihr braucht keine Heime für eure Lungen, keine Renten und keine Versicherungen, Ihr solltet euch allesamt etwas schämen, von dem armen Staat noch Geld zu nehmen! ...« Die selbsternannten Modernisierer sind also alles andere als modern. Seit Jahren zwingt die deutsche Politik die Menschen, persönlich mehr gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Die Regierenden selbst ziehen sich aus ihrer Verantwortung zurück, für deren Wahrnehmung sie gewählt worden sind, und überlassen es mehr und mehr dem einzelnen, für sein soziales Wohl Sorge zu tragen. Diese staatlich gelenkte Vereinzelung gibt den Menschen keine Freiheit, sondern nimmt ihnen die Chance auf ein selbstbestimmtes, von sozialer Unsicherheit und Not befreites Leben.

Um in der Bevölkerung gar nicht erst die Frage nach anderen gesellschaftspolitischen Entwürfen aufkommen zu lassen, wird den Bürgerinnen und Bürgern nun schon über viele Legislaturperioden hinweg die Alternativlosigkeit dieser neoliberalen Politik vorgegaukelt. In diesem alles bestimmenden Punkt sitzen CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne in einem Boot. Sie ähneln dabei einer Besatzung, die in einen gesunden Schiffsrumpf erst Löcher bohrt und aus dem daraus entstandenen Leck dann den Schluß zieht, dieses Schiff sei nicht länger steuerbar.

Um diese Entwicklung umzukehren, müssen die Menschen, die Wählerinnen und Wähler, den Neoliberalen den Wind aus den Segeln und den Staat wieder in die soziale Verantwortung nehmen. Die Macht der Gewerkschaften allein – das haben die Ergebnisse der Tarifverhandlungen in den vergangenen Jahren gezeigt – reicht für die Durchsetzung eines gesamtwirtschaftlich machbaren und sinnvollen Interessenausgleichs zwischen Unternehmen und Beschäftigten nicht aus. Die Gesellschaft als Ganzes muß ermutigt werden, sich wieder stärker in die Politik einzumischen. Anders ist eine noch weiter zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich nicht zu verhindern.

Ein Mittel hierzu ist – das hat die jüngste Entwicklung in Frankreich bewiesen – der Generalstreik. Die französische Regierung hat nahezu zeitgleich mit der deutschen die Aufhebung des Kündigungsschutzes verlangt. In Frankreich haben die Gewerkschaften dagegen den Generalstreik ausgerufen und die Menschen daraufhin die Straße zur politischen Bühne erklärt. Diese Bewegung hat die französische Regierung dazu gezwungen, ihre Gesetzesinitiative zurückzunehmen. Die Reaktion in Deutschland könnte unterschiedlicher nicht ausfallen. Hier hat die große Koalition wie die Regierung in Frankreich angekündigt, den Kündigungsschutz für die ersten zwei Jahre nach Aufnahme einer Beschäftigung aufzuheben. Im Gegensatz zu den Franzosen scheinen dies die Deutschen als unvermeidliche Fügung des Schicksals stillschweigend hinzunehmen. Die historisch niedrige Wahlbeteiligung bei den gerade abgehaltenen drei Landtagswahlen zeigt, daß viele Wähler resignieren. Die Politik regiert mit dem Verständnis des Hausvaters, der nicht mehr ausgeben kann, als er einnimmt. Sie übersieht dabei, daß in einer Volkswirtschaft wie in der Weltwirtschaft insgesamt die Ausgaben des einen immer die Einnahmen des anderen sind. Gleichzeitig blendet sie den Spielraum aus, den der technische Fortschritt im eigenen Lande liefert, wenn sie die Drohkulisse abnehmender Wettbewerbsfähigkeit an die Wand malt und den Sozialstaat für nicht länger finanzierbar erklärt.

Dieses nun schon über Jahre von Politik, Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft propagierte Weltbild hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt. In seinem zuerst 1938 erschienen, von den Nationalsozialisten verbotenen, weil als »liberalistisch« geltenden Werk »Nationalökonomie wozu?« stellte der liberale Ökonom Walter Eucken fest: »Der Staat setzt gewisse Ziele und die Wissenschaftler stellen ihre Gedankenarbeit bedenkenlos in den Dienst der staatlichen Zielsetzung. Als ob diese Ziele stets erstrebenswert wären – eben weil sie vom Staat gesetzt sind.« Heute muß man sich fragen, ob der Staat nicht allzu bedenkenlos die Rezepte der deutschen Wirtschaft übernimmt, die von der Mehrheit unserer Wirtschaftswissenschaftler unkritisch übernommen wurde. Diese vertreten unbeirrt die neoliberale Theorie, obwohl ihre seit Jahren betriebene wirtschaftspolitische Umsetzung die Lage vieler Menschen verschlimmert und nicht verbessert hat. Auch das ist nicht neu: »Die Forderung ist noch nicht verkündet, die ein deutscher Professor uns nicht begründet«, dichtete Tucholsky in »Die Freie Wirtschaft«.

Während sich der Widerstand der Bevölkerung in Frankreich immer dann regt, wenn demokratische und soziale Rechte abgebaut werden, ist es in Deutschland schwierig, einer sozial gerechten Alternative Gehör zu verschaffen. Bei uns muß der Protest gegen soziale Ungerechtigkeit erst wieder aus dem Dornröschenschlaf geweckt werden. Daher spricht sich DIE LINKE. – neben bereits eingebrachten Gesetzesinitiativen zur Stärkung der Gewerkschaften (1) – für ein Recht auf Generalstreik aus.

Die Menschen müssen wieder lernen zu fordern. Der 1. Mai sollte daher von allen gesellschaftlichen Kräften dazu genutzt werden, die Menschen wachzurütteln, sie zu bewegen, sich nicht länger durch eine unsoziale Politik bevormunden zu lassen und soziale Sicherheit als Voraussetzung für individuelle Freiheit zu begreifen.

(1) DIE LINKE. hat im März 2006 einen Gesetzentwurf (Drucksache 16/856) gegen den so genannten Streikparagraphen in den Bundestag eingebracht. Durch das 1986 beschlossene Gesetz stehen bei einem Arbeitskampf »kalt ausgesperrte« Beschäftigte mittellos da. Dies setzt die Gewerkschaften unter enormen Druck. Der Gesetzentwurf der Linken sieht vor, daß »kalt ausgesperrte« Beschäftigte wieder Geld von der Bundesagentur für Arbeit erhalten.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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