Wie kann aus nichts alles werden?
Von Christof MeuelerDaniel Bensaid: Eine Welt zu verändern – Bewegungen und Strategien. Aus dem Französischen von Elfriede Müller. Unrast Verlag, Münster 2006, 182 Seiten, 13 Euro
Immer wieder die Eigentumsfrage. Die Linke muß sie stellen, um zu wissen, woran sie ist. Nach dem alten Motto der in Comedy und Flachsinn untergegangenen Rhein-Main-Rockband Flatsch: »Was man hat, das hat man / hat man’s nicht, dann fehlt’s einem.« An der Eigentumsfrage scheiden sich grundsätzlich reformistische und revolutionäre Politikansätze. Klingt nach überflüssigem Flugblatt, ist aber trotzdem so. Die Revolutionäre gehen konstant auf die Nerven, doch die Reformisten agieren ungleich schmerzvoller. Sie zerlegen gegenwärtig den guten alten Sozialstaat und rüsten für neue Weltordnungskriege. Damit die Revolutionäre besser wissen, was sie dagegen tun sollten, hat der französische Philosoph Daniel Bensaid 2003 das Buch »Eine Welt zu verändern« geschrieben, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Der Titel erinnert an ATTAC-Kongresse, ist aber weniger ZDF-Fernsehgarten-mal-schauen-was-es-nicht-alles-gibt gemeint.
Bensaid, Jahrgang 1946, ist einer der Chefideologen der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR). Während die meisten als »trotzkistisch« bezeichneten Formationen unterhalb ihres eigenen Witzniveaus (»Treffen sich zwei Trotzkisten, gründen sie drei Parteien«) agieren, ist die LCR in Frankreich ein erstaunlich veritables linksradikales Projekt, dessen Mitglieder an der Organisierung der globalisierungskritischen Bewegung ebenso beteiligt waren wie sie bei der letzten Präsidentschaftswahl 4,7 Prozent (zusammen mit der trotzkistischen Konkurrenz von Lutte Ouvrière sogar 11 Prozent) einfuhren. Intellektuell ist man nicht parteitagsfaul, sondern diskutiert auch Feminismus, Migration, postmoderne Theorie - was daran liegen könnte, daß die LCR sich nicht nur als »trotzkistisch«, sondern auch als »libertär« und »guevaristisch« begreift. Man möchte also nicht nur auf der Linken dabei sein, sondern möglichst erfolgreich die Eigentumsfrage formulieren.
Für Bensaid stellt sich die Situation so dar: »Heute bedarf es mehr als nur des Widerstands, heute bedarf es Alternativen. Die Flaute der europäischen Linken, die brasilianische Erfahrung, die Schwierigkeiten der Zapatisten, das argentinische Tief, das identitäre Abdriften im Nahen Osten, künden von einem historischen Zyklus, der das Ziel und die Wege der Veränderung auf die Tagesordung setzt.« Nach Ansicht von Bensaid ist die »spekulative und finanzielle Logik, ein Hauptmerkmal der neoliberalen Orientierungen (...) ein immer beunruhigender werdender Unruheherd für den Kapitalismus selbst geworden«. In Panik werden Ausbeutungsraten und imperialistische Aggression gesteigert, von der ökologischen Katastrophe erst gar nicht zu reden. Den Reformisten fällt dazu nichts mehr ein und selbst wenn doch– »die Verbindungen zwischen den reformistischen Parteien (...) und den unteren Schichten sind gelockert oder abgebrochen.« Demgegenüber fordert Bensaid eine »Konsequenz in den sozialen und demokratischen Auseinandersetzungen« und sucht »nach neuen Akteuren und strategischen Räumen«, die zwangsweise erst einmal theoretisch in den Blick genommen werden müssen. Für ihn sind die »Kontroversen« um die Bücher von Toni Negri/Michael Hardt (»Empire«, 2002) und John Holloway (»Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, 2002) »Ausdruck einer tastenden Wiederaufnahme« der Diskussion über »die Mittel der Veränderung«.
Bevor sich Bensaid dieser Werke annimmt, klärt er auf recht dröge Juso-Referatsart über 50 Seiten die gesellschaftlichen Grundlagen, von ihm gern auch mit den »Grundrissen« von Marx kommentiert, denn Kapitalismus grenze letztlich an »Verrücktheit«. Fürs Protokoll: Rückzug des Staates, Privatisierung von Information, Recht (»das Gesetz wird durch Vertragsverhältnisse verdrängt«), aber auch des städtischen Lebens (Sicherheitsdienste) sowie privatwirtschaftlich vorangetriebene Biotechnologie, Copyright-Regime, Umweltzerstörung. Das alles führe zu einem »chronischen Krieg« mittels einer dialektisch zu begreifenden »starken Konzentration der militäischen Mittel und einer Zerstreuung nichtstaatlicher Gewalt«.
Es folgt der interessanteste Teil des Buches: Eine furiose revolutionstheoretische Auseinandersetzung mit Negri/Hardt, Judith Butler, Pierre Bourdieu und John Holloway, die in einem brillanten Plädoyer für ein Leninismus-Update mündet. Gleichermaßen einfach wie effektiv formuliert Bensaid die Eigentumsfrage als philosophischen Anspruch und siehe, Negri/Hardt geraten schnell ins pathetisch-sympathische, aber politisch-harmlose Wischiwaschi. Ihr neues revolutionäres Subjekt, die vielgerühmte, angeblich extrem heterogene und doch emanzipatorisch vielversprechende »Multitude« samt aller prekarisisierten Dienstleister erscheint Bensaid nur als »Pappnase eines durch die Marktgesetze ausgeweiteten Proletariats«. Mit ihrer »Ontologie der Multitude« handeln Negri/Hardt für Bensaid ähnlich den Stadtplanern, Gewerkschaftsbürokraten und Soziologen, die das Proletariat fortwährend als »die Leute«, als Individuen ohne Eigenschaften unkenntlich machen und von deren Sorgen und Nöten nichts wissen wollen. »Gibt es keine Widersprüche innerhalb der Multitude? Weder entfremdete noch fanatische Multitudes?« fragt Bensaid und konstatiert: »Beim Warten auf die Multitude bleibt die Bühne leer.«
Für ihn ist die »›proletarische Lebensweise‹ alles andere als verschwunden, aber das Klassenbewußtsein und die sozialen Praktiken am Arbeitsplatz, im Kiez, in der Lebenswelt (...) sind von sozialen Metamorphosen, Veränderungen der Arbeitswelt, Evolutionen der Unterkünfte, Individualiserung des Konsums durchzogen«. Weshalb Judith Butler (»Kriege der Identifikation«) und Pierre Bourdieu (»Die feinen Unterschiede«) mehr miteinander gemein haben als gedacht und John Holloway ihn an einen Typen erinnert, »der seinen Arm um den Kopf legt, um seine Nase anzufassen«, wenn er von der »unmöglichen Dringlichkeit der Revolution spricht«, die in den »Ausbrüchen des Lustprinzips« aufscheine.
Diesen Denkern und Ablehnern des Bestehenden ist die große Frustration über die bisherigen Verfahrensweisen der Parteikommunisten und -sozialisten, die sie nur als versuchsweise Perpetuierung von Herrschaft wahrnehmen, gemein. Für Bensaid die Tragik eines mißverstandenen Bolschewismus: »Im Gegensatz zur Annahme der Vulgärmarxisten folgt Politik nicht brav der Ökonomie« (was man – auch wenn Bensaid dies nicht postuliert – nirgends besser als an der Entwicklung der DDR sehen kann), vielmehr habe sich Lenin stets kategorisch geweigert, »das Problem der Klassen mit dem der Parteien zu vermischen«. Das Soziale (die Unterschiede, die Wünsche, die Kontexte) sei so mächtig, daß der politische Diskurs reihenweise Übersetzungsprobleme produziere. Die berühmte Leninsche Kühnheit besteht nach Bensaid darin, daß Lenin das Politische vom Sozialen trennte. »Die Politik besitzt ihre eigene Sprache, ihre Grammatik und ihre Syntax« (Bensaid). Denn wenn das nicht so wäre, hätte Lenin es niemals vermocht, gegen innerparteiliche Widerstände die Oktoberrevolution zu initiieren. Nach Bensaid war seine grundlegende Frage: »Wie kann aus nichts alles werden?« Damit die revolutionäre Partei zum »strategischen Techniker, eine Art Beschleuniger und Fluglotse des Klassenkampfes« werden kann, muß sie bereit sein für »das Unwahrscheinliche, das Unvorhergesehene, das Ereignis!« Sie muß sehr viel diskutieren und noch mehr prompt entscheiden. Manchmal ist das eine Frage von Tagen. »Die Revolution wird eine Abfolge von schnellen Explosionen sein« und dann auch wieder etwas ruhiger. Die Entwicklung einer neuen europaweiten Linkspartei, die Bensaid etwas lahm einfordert, dürfte sich allerdings extrem in die Länge ziehen.
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