Aus: literatur, Beilage der jW vom 06.12.2006
Aus den Tiefdruckgebieten
Von Jan-Frederik Bandel
Arno Schmidt: Lesungen, Interviews, Umfragen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2006, 232 Seiten, 12 CDs, 1 DVD, 98 Euro.
Die Abbildungen dieser Beilage stammen von Arno Schmidt selbst und sind dem Bildband »4 x 4. Fotografien aus Bargfeld« (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004) entnommen. Sie erscheinen mit freundlicher Genehmigung der Arno-Schmidt-Stiftung.
Ein Flüßchen mit obligatorischen Reflexionen, das eine oder andere Bauernhaus, ein dampfender Misthaufen, eine Art Dorfplatz – mit solch ausgesucht öden Landschaftsbildern fängt es an. Am Feldrand steht dann auch schon das Häuschen, kein feudales Anwesen, doch die Katze schaut leidlich zufrieden aus dem Fenster. Drinnen sitzt der Autor vor der Kakteenreihe und doziert, ein Bein hochgezogen, starr, nur der Stift in der Hand wird pausenlos gerollt, als gelte es, den einstudierten Monolog auch physisch abzuspulen. Aber halt, da sitzt ja noch einer, ein freundlicher, etwas dicklicher Herr im Anzug, der mehrmals ansetzt, eine Frage dazwischenzurufen, aber dann doch wieder genügsam zurücksackt und ein bißchen in den Büchern blättert, die kunstvoll auf dem Tisch arrangiert sind.Daß der Interviewer das Gespräch mit seinen Fragen lenkt, ja bestimmt, dieser alte Verdacht und Stolz der journalistischen Zunft scheint hier kurzerhand aus dem Weg geräumt. Der Autor hat seinen Besucher genauestens instruiert, und der Fernsehmensch spielt die Rolle mit Gelassenheit: Hin und wieder darf er, wenn er den Autor beim Atemholen ertappt, ein Stichwort dazwischenwerfen. Und schließlich darf er bitten, oben – »im Studio« – noch ein wenig Auskunft zu erhalten. Das »Studio«, ein enger Arbeitsraum unter der Dachschräge, ist für diese Zwecke sorgfältig präpariert. So hat der Autor nicht nur eine Tafel aufgesetzt, an der er nun, den Stift als Zeigestock schwingend, die Besonderheiten seiner Orthografie und Interpunktion erläutert, sondern auf die spontane Frage nach historischen Vorbildern braucht er nur geschwind aus dem Sitz nach links zu greifen, um das entsprechende Oktavbändchen hervorzuholen. Noch besser vorbereitet freilich zeigt sich der Interviewer. Das Buch ist noch nicht einmal gänzlich aufgeschlagen, da ruft er schon amüsiert aus: »Ha! Das ist Klopstock!«
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Angesichts des Ladenpreises von immerhin 98 Euro wäre es wohl etwas dreist, zu behaupten, daß allein schon dieses rund 15minütige Stück absurden Fernsehtheaters, das Arno Schmidt und Jürgen Möller in der 1960er NDR-Aufnahme aufführen, die Anschaffung der neusten Produktion der Arno Schmidt Stiftung lohnt. Ein Highlight dieser insgesamt sehr schönen Sammlung mit »Lesungen, Interviews, Umfragen«, zu denen sich Schmidt bequemte, ist es aber allemal.
Daß der 1979 gestorbene Autor nicht eben zu den medienfreudigsten Naturen gerechnet wird, daß er gemeinhin als öffentlichkeitsscheu gilt, ist ein populäres Bild, das durch diese Edition nicht unbedingt korrigiert wird. Zwar umfaßt sie immerhin 12 CDs, eine DVD und einen über 200 Seiten starken Band mit Abschriften, doch müßte, wer eine ähnliche Kollektion öffentlicher Statements z.B. Günter Grass’ ins Regal stellen wollte, wohl zunächst einmal den Makler seines Vertrauens konsultieren.
»Lesungen, Interviews, Umfragen«, diese PR-Tätigkeiten in eigener Sache, die für viele Schriftsteller längst nicht nur Selbstzweck, sondern auch Haupteinkommensquelle sind, waren Schmidt doch eher fremd. Das belegt nicht nur der steife, mal überzogen lehrerhafte, mal hinreißend komisch dramatisierte Ton der überlieferten Gespräche, das zeigt auch der genauere Blick auf die Provenienz des gesammelten Materials: Fünf CDs enthalten Aufnahmen von Lesungen bekannter Texte, die als CD-Box vor Jahren bei Zweitausendeins lieferbar waren, aber – dank einer leidlich kaufwilligen Schmidt-Gemeinde – längst zum gesuchten Sammlerstück avanciert sind. Sie sind fast ausschließlich im Rundfunkstudio aufgezeichnet. Vier ganze CDs füllen zwei Recherchegespräche, die Gunar Ortlepp für seine Spiegel-Berichte über Schmidts 1970 erschienenen Riesenwälzer Zettels Traum (und über dessen illegalen Nachdruck) geführt hat. Bleiben drei kurze Fernsehinterviews, zwei Rundfunkgespräche und das lange Feature Vorläufiges zu Zettels Traum, das der S. Fischer Verlag vor 30 Jahren als Schallplattenbox produziert hat: eine Mischung aus Lesung und Erläuterungen Schmidts, die zuerst im NDR zu hören waren. Schließlich noch rund 20 Seiten Antworten auf schriftliche Umfragen und Albumblätter, die meist von wenig mehr als dem ausgeprägten Desinteresse Schmidts an den Fragen und Fragenden zeugen: »Was wäre Ihre erste Maßnahme, wenn Sie Staatsoberhaupt in der Bundesrepublik würden?« »Abdanken.«
Alles in allem ist es tatsächlich wenig, was so zusammengekommen ist in einer immerhin 30jährigen Existenz als publizierender Autor, mithin als öffentliche Person. Es waren dann eben doch Texte – literarische Groß- wie essayistische Gelegenheitsarbeiten –, mit denen der Autor an die Öffentlichkeit treten wollte, nicht Statements zu Person und Weltlage. Daß Schmidt auf die wiederholte Nachfrage seiner Gesprächspartner, warum er denn »wie ein Einsiedler«, abseits jeder Stadt in einem Heidekaff wie Bargfeld lebe, keineswegs mit programmatischen Invektiven gegen den Kulturbetrieb und seinen Bekenntniszwang beantwortet, sondern z.B. von den Vorzügen der Tiefdruckgebiete schwärmt, ist sicherlich keine versöhnliche Adresse an die Betriebsamen. Es ist die Weigerung, den Anspruch, sich als Autor in einen solchen Betrieb einzubringen, sich zu positionieren, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Warum denn, bitte schön?
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Natürlich wäre es unsinnig, den Band einer Werkausgabe mit dem Kriterium der Novität zu bewerten. Was er zu leisten hat, ist eine umfassende Sammlung und präzise Aufbereitung des Materials – und in dieser Hinsicht gibt es auch nichts zu meckern. Wenn dennoch Neues zu entdecken bleibt, sollte man nicht in den poetologischen Aussagen suchen, denn zwar verkündet Schmidt viel Programmatisches in Sachen Literatur, doch was er sagt, wird jeder leicht wiedererkennen, der auch nur ein wenig mit Schmidts Werk vertraut ist.
Das ist die andere Seite des inszenierten Interviewtheaters: Die Gespräche waren für Schmidt keine Chance, in der Auseinandersetzung Gedanken und Widersprüche zu entwickeln, sie waren immer nur eine Präsentationsform dessen, was ohnehin längst stand und im Zweifelsfalle auch schon gedruckt war. Ganz abgesehen davon, daß Schmidts programmatische Äußerungen hinter die Avanciertheit seiner literarischen Arbeiten fast grundsätzlich zurückfallen – ein Grund mehr, nicht jedem Mikrofonbewehrten hinterherzurennen, als hinge das Leben daran.
Allerdings: Noch jeder, der Schmidt zum ersten Mal hat lesen, gar sprechen hören, zeigt sich wohl ein wenig erschrocken, durcheinander geschüttelt in seinem Bild vom Autor. Doch die merkwürdige Mischung von Aggressivität, Laienschauspiel und Geschwindigkeitsrausch, in die sich Schmidt in seinen besten Momenten als Vorleser hineinsteigert, steht seinen Texten letztlich besser an als der freundlich-bedächtige Märchenonkelsound, den man von den Leseabenden der Schmidt Stiftung kennt. Das gilt natürlich nicht für die vielen belanglosen Kurzessays und Lesebuchgeschichtchen, die Schmidt um des Geldes willen so runterschrieb und -las, sehr wohl aber für die phantastischen Lesungen aus Zettels Traum, die jede Furcht vor diesem angeblich so sperrigen Roman im Nu wegblasen, oder für die seltsam rhythmisch rollende Privataufnahme des von Schmidt übersetzten Edgar-Allan-Poe-Textes Siope. Den Schmidt-Sound freilich, das ist das Risiko, kriegt man fortan so schnell nicht aus dem Ohr. Muß man sich halt überlegen, ob man ihn da haben will oder nicht.
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Das eigentliche Neuland aber, das diese Edition erschließt, findet sich auf den vier CDs mit Ortlepps Interviews bei Kaffee und Kuchen. Natürlich ist auch dies zunächst eine Fundgrube an Skurrilitäten und Anekdoten fürs abendlich-literarische Kneipengespräch: Wie Schmidt etwa seine Frau zur Ordnung ruft, die schon wieder »reinredet«. Wie die beiden minutenlang vor laufendem Mikrofon über die Funktionen ihres Aufnahmegeräts streiten. Wie der Spiegel-Schreiber dem Autor versucht, das – beiden hinreichend fremde – Phänomen der Studentenrevolte zu erläutern, und dieser sich fragt, wo denn da die Disziplin bliebe? Und wie Schmidt das Gegenüber testet und offenkundig für widerstandslos genug befindet, um aus ihm einen künftigen Biografen zu machen. Einen Eckermann vielleicht. Aber dazu ist es nicht gekommen. Und natürlich erinnern einen auch diese Aufnahmen jede Sekunde daran, die öffentliche Person des Autors so wenig wie seine literarischen Figuren mit der privaten zu verwechseln.
Vor allem aber hat der Leser, der sich nun seit Jahren durch süßliche Jugendwerke, Tagebuchnotizen, Zettelchen und Fotos wühlt, die nach und nach aus dem Nachlaß publiziert werden, seine Identifikationsfigur: Mit einem Kasten Konfekt, französischem Cognac und beflissener Freundlichkeit hat sie sich ihren Weg gebahnt, und sitzt nun mitten drin in einem famosen Theater von Eitelkeit, fremder, also letztlich doch unangenehm berührender Intimität und unvermittelt darin: der Reflexion über Bücher. Die Volte, grad in einem Band, der ganz ausdrücklich den polierten Außenseiten der Person, eben ihrer Öffentlichkeitsarbeit, gewidmet ist, sich plötzlich als der zu erkennen, der man ist: ein postumer Voyeur in engen Verhältnissen, ist schon beachtlich. Da weiß man wenigstens, wo man sitzt. Freudig ist das zweifellos, aber es erinnert einen zugleich daran, wo zu finden ist, was man sich von Arno Schmidt erhoffen sollte: nicht das politische Räsonnement oder Ressentiment, nicht die unmittelbare Sympathie, nicht die Theorie, sondern den literarischen Text. Im Zweifelsfalle nämlich im Regal, griffbereit.
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