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Aus: literatur, Beilage der jW vom 21.03.2007

Hoffnung statt Therapie!

Mit »Wir sind überall« erscheint nicht nur die erste kollektive Autobiographie der antikapitalistischen Bewegung, sondern auch ein Aufruf zur Weltrevolution
Von Donna San Floriante
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Notes from Nowhere (Hg.): Wir sind überall. Weltweit. Unwiderstehlich. Antikapitalistisch. Edition Nautilus, Hamburg 2007, 537 Seiten, 19,90Euro

Das erste »Coffeetablebook« der neuen antikapitalistischen Bewegung vermittelt in Form einer kollektiven Autobiographie einen Überblick über die diversen Kämpfe, die widerständige Kultur und die rebellischen Denkansätze der letzten Jahre. Das pfiffige Werk heißt nicht nur »Wir sind überall. Weltweit. Unwiderstehlich. Antikapitalistisch«, sondern verfügt durchgehend auf 544 Seiten über einen ganz charmanten Kaufanreiz: es ist ein hoffnungsfroher Aufruf zur Weltrevolution. Und obwohl es für nur 19,90 Euro eine preisgünstige Hoffnung ist, ist es keine billige, marktschreierische Erwartung, die sich hier äußert. Es ist eine tätige, konkrete und gegen Tausende Angriffe immer wieder zurückerkämpfte Hoffnung.

Das liegt vor allem am Konzept des Bandes. Als Herausgeber zeichnet eine Gruppe namens »Notes from Nowhere« unverantwortlich. Unter diesem Namen hat sich ein Redaktionskollektiv aus englischsprachigen Aktivisten, Autoren, Künstlern, Fotografen und Mitarbeitern des antikapitalistischen Nachrichtendienstes indymedia versammelt.

Daß die Ausgangsbasis des Bandes England ist, merkt man dem Text zwar verschiedentlich an, überwiegend aber wird deutlich, daß die Autoren seit vielen Jahren ständig in der internationalen Szene unterwegs sind und die antikapitalistische Bewegung in ihren vielen Facetten kennen. Es spricht für die Verankerung dieses Projektes in der weltweiten Bewegung, aber auch für die organisatorischen Fähigkeiten der Autorengruppe, daß »Notes from Nowhere – Wir sind überall« zeitgleich auf Italienisch, Französisch, Spanisch, Griechisch, Türkisch und Koreanisch erscheint.

Dabei werden die üblichen Debatten – die Revolution als Begriff und als Konzept, als Perspektive oder auch nicht – großräumig umschifft. Theoretische Ansätze werden behandelt, aber von Leuten, die in der revolutionären Praxis zu Hause sind. Subjektive Berichte, praktische Tipps und Analysen machen das Buch, wie es im Pressetext zutreffend heißt, »zu einer alternativen Weltreise«.

Hier wird von einer Revolution berichtet, die täglich stattfindet. Autonome Gemeinschaftsgärten in New York City erscheinen als Burgen der gelebten Solidarität im durchkommerzialisierten Raum. Auch die Ökokämpfe gegen genetisch frisiertes Saatgut in Indien oder die Aktionen der »Wasserkrieger« Boliviens bekommen den prominenten Platz, der ihnen längst zusteht. Der Soundtrack zur Revolte hat neben vielen anderen Berichten kulturellen Widerstands ebenso Eingang gefunden wie die bereits gealterten Diven der neuen Welle: die Bewegung der Papierlosen in Frankreich und die Straßenkarnevalisten von »Reclaim the Streets«. Natürlich fehlt auch Genua nicht, es schreibt der Subcomandante Insurgente Marcos, und Naomi Klein steuert ein kurzes Vorwort bei.

Das Panorama der Kämpfe, ihre Vielfältigkeit, vor allem aber der fröhliche Offensivgeist, den sie ausstrahlen, muß selbst jene überraschen, die die Bewegung seit ihren Anfängen aktiv erlebt haben. Der Subcomandante Insurgente Marcos nennt das bescheiden: »Die Entstehung eines unwiderstehlichen weltweiten Aufstands«. Der Band liefert überzeugendes Beweismaterial dafür, daß diese Aussage nicht nur Wunschdenken ist.

Wer spricht in Deutschland diese Sprache, eine Sprache der revolutionären Hoffnung? Wir lesen etwas aus Mexiko und Brasilien, begeistern uns an Chávez und Evo – wo steht die antikapitalistische Bewegung in Deutschland? Wenn es nach dem vorliegenden Sammelband geht, existiert Deutschland nicht. Die Edition Nautilus hat sich das Verdienst erworben, eine Landkarte der antikapitalistischen Welt auch uns zugänglich zu machen, in der Deutschland nicht vorkommt. Indien und Tschechien, Nigeria und Kenia, Katalonien sowieso und auch Papua-Neuginea – aus all diesen Ländern wird von mutigen, von wilden Kämpfen, vom Angriff, von der Offensive berichtet.

Dieser wunderbare Sammelband brüllt und singt auf 544 Seiten das Hohelied einer weltweiten Rebellion. Deutschland fehlt in der Reihe. Und das, wo dieses Buch wirklich vielen, auch ganz harmlosen und ungefährlichen Ansätzen Raum zur Darstellung böte – wenn sie eben Teil der neuen Perspektive wären, wenn sie nur Hoffnung atmen wollten. Die Linkspartei, Aktionstag gegen Rente mit 67? – Nichts dagegen. Aber wo werden hier nachts Zäune unterhöhlt, wo sind hier die Netzwerke der Solidarität, wo ist der mutige Schritt über die Grenzen des Erlaubten?

Man muß es so deutlich sagen: Wir existieren nicht in der globalen Bewegung gegen den Kapitalismus. Ansätze gibt es auch hier. Abgebrannte Genweizenfelder, mutige Organisation in den Abschiebeknästen. Wenn diese Dinge passieren, finden sie hierzulande allerdings selten ein Forum in den Strukturen der Linken. Dort dominiert die Old School mit ihren überkommenen Formen. Dementsprechend vereinzelt bleiben Aktionen dieser Art.

Was der deutschen Linken fehlt und was die in diesem Band versammelten Rebellen haben, ist Hoffnung. Die Hoffnung von Millionen, von Millionen die schon kämpfen, wo wir noch diskutieren, ob der Kampf möglich sei. Man kaufe diesen Band, man lese und staune, erbleiche vor Neid, atme tief ein und raffe sich auf zur frischen Tat.

Hoffnung ist nicht nur eine Frage der Analyse. Hoffnung ist eine Lebenshaltung. Hoffnung erfordert emotionale Disziplin, sie erfordert aber auch Rücksichtnahme und Brechtsche Freundlichkeit untereinander und zwischen den Kämpfen. »Die Linke ist kein Therapieverein«, bekommt man oft zu hören in Deutschland. Ich denke, die deutsche Linke ist ziemlich weit davon entfernt, irgendwen therapieren zu können. Viele Linke aber sind längst zu Therapiefällen geworden. Hoffnung braucht nun einmal, neben der für den Kampf nötigen Härte, auch die Weichheit und einen kollektiven – therapeutischen! – Umgang mit den eigenen Schwächen, mit Niederlagen und Konflikten.

Auch hier gibt das Coffeetablebook – es heißt wohl aufgrund der Kürze der Beiträge und der ungewöhnlichen, schnellhefterartigen Gestaltung so – Beispiele vor, die Möglichkeiten solidarischer Kommunikation aufzeigen. Der folgende Bericht über neue Versammlungskultur aus Paris Jussieu sei nicht zuletzt unseren Freunden von der Linkspartei ins Stammbuch geschrieben: »Wir sind kein Söldnertrupp oder ein Unterstützungskomitee. Wir sind nicht die Anführer irgendeiner öden Splittergruppe, die andere nur als potentielle Mitglieder sieht und sie wie Objekte behandelt. Für uns ist es keine Frage, das Netzwerk zu erweitern, zu mobilisieren (wie Truppen mobilisiert zu werden), sondern günstige Bedingungen für gegenseitige Wahrnehmung und Zusammenkünfte zu schaffen. Gemeinsames Verständnis entsteht auch dadurch, daß die Versammlung sich nicht nur über den Feind definiert, sondern darüber, was sie ist, über die Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt und die Schritte, die sie unternimmt. Bisher konnten wir über alles sprechen, auch über Dinge, die einigen Menschen bereits klar waren. Das ist eine der Qualitäten dieser Versammlung: die Fähigkeit, einen Schritt zurück zu machen, um weiterzukommen.«

Diese Diskussionskultur neuen, offeneren Typs erfordert vor allem, die diktatorischen Sprechakte selbsternannter Wortführer immer wieder auszubremsen, aber auch – linkes Bündnis aufgehorcht – den Verzicht auf Redelisten, Kampfabstimmungen und andere bürokratische Gesprächsstrukturierungen. Man stelle sich den Schwierigkeiten des freien Gesprächs aller mit allen!

Es sind gerade die vielen Details der Auseinandersetzungskultur innerhalb der Kämpfe und Zusammenhänge, die den Aufbruch einer neuen revolutionären Subjektivität immer wieder bestätigen – und den Kontrast zum Umgang innerhalb der traditionellen linken Strukturen dieses Landes grell aufscheinen lassen. Am Ende aber läßt sich Hoffnung nur dauerhaft generieren, wenn man sich dauerhaft tätig wehrt. Frustriert ist dagegen immer das bequemste, was einer sein kann. Und die deutsche Linke hat sich behaglich eingerichtet in ihrem Dauerfrust.

Was ist unsere Hoffnung? Es ist der G-8-Gipfel in Rostock-Heiligendamm. Er steigt schon Anfang Juni. Sind wir bereit? Zehntausende Rebellen werden uns dort unterstützen, Züge und Busse rollen an aus Italien, Spanien, Frankreich und vielen Ländern Skandinaviens. Der G-8-Gipfel ist eine Chance sondergleichen, aus der eisigen Umklammerung der Frustration auszubrechen.

Aber auch der Staat wird alles in die Waagschale werfen. Sind wir gerüstet für diese Konfrontation? Was werden wir gegen die Mobilisierung der Neonazis tun? Haben wir genug Autos vor Ort? Wir brauchen Hunderte Autos, wir müssen mobil sein, manövrierfähig, in der Lage, Tausende schnell von A nach B zu transportieren. Haben wir eine kluge Strategie, einen Plan B und C?

Hoffnung ist auch eine Frage der Taktik. In Heiligendamm wird es eine Zitadelle des Feindes geben: den Tagungsort der G8. Der Staatsapparat wird sich um diesen zentralen Punkt herum gruppieren. Soll er machen. Warum aber sollten wir dieses Setting akzeptieren? Es wäre fatal, wenn 100000 Demonstranten nichts Besseres mit sich anzufangen wüßten, als stur in eine Richtung anzurennen und sich dort festzubeißen, wo sich die Abwehr des Gegners unüberwindlich massiert. Mecklenburg-Vorpommern erfordert keine urbanen Taktiken, sondern die des Bauernkriegs, der Guerilla, erfordert Schnelligkeit, Überraschungsmomente, koordinierte Heimlichkeiten. Warum in die immer eine Richtung rennen, die der Gegner uns vorgibt? Warum nicht andere Ziele auswählen, andere Orte, andere Feinstrukturen, die schutzlos dastehen, während sich die Staatsmacht in der Bastion Heiligendamm verschanzt?

Anfang Juni. Es ist nicht mehr viel Zeit. Und Heiligendamm wird ein Scheidepunkt sein für den Widerstand in diesem Land. Wer auch immer sich zum Kollektivsubjekt »Linke in Deutschland« zählt, sei gewahr, daß wir dabei sind, die gewaltige Chance der G-8-Proteste zu versemmeln. Wir müssen jetzt anreißen und die Eifersüchteleien und Streitigkeiten der alten Linken mit rücksichtsloser Fröhlichkeit aus dem Weg nach Rostock räumen.

Frühling, Hoffnung – das erste Coffee­tablebook eines weltweiten Widerstands atmet den Aufbruch einer Rebellion, aber laut Bild-Zeitung ist der Mond genau 384.000 Kilometer »von Deutschland entfernt« – es wird Zeit, die Frustrierten auf die Seite zu schieben. Es wird Zeit, die Mobilisierung für Heiligendamm mit Hoffnung aufzuladen. Wer selbst noch keine hat, investiere 19,90 Euro und lese sie sich beim Kaffeetrinken an.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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