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Aus: behindertenpolitik, Beilage der jW vom 16.08.2007

Bewegung gegen Ausgrenzung

Über Kapitalismuskritik hinaus. Emanzipatorische Politik muß darauf gerichtet sein, die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Behinderung zu verändern
Von Thomas Wagner und Michael Zander
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Nach Schätzungen der Vereinten Nationen gibt es weltweit über 600 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Die Mehrheit von ihnen lebt in Ländern des Trikonts, und oft sind Krieg und Mangelernährung Ursache für ihre Situation. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben in der BRD 8,4 Millionen Behinderte, davon haben 6,7 Millionen eine »schwere« Beeinträchtigung. Sie sind überdurchschnittlich von Erwerbslosigkeit betroffen und tragen ein erhöhtes Armutsrisiko. Der UN-Sonderberichterstatter Vernor Munoz kritisierte im März 2007 das deutsche Schulsystem, das neben den Kindern von Arbeitern und Immigranten auch Behinderte benachteiligt. Die staatliche Politik, so Munoz, führe dazu, daß die meisten betroffenen Kinder nicht die Regelschule besuchten. Die Aussonderung wird nach der Schule fortgesetzt. Mindestens 37 Prozent der behinderten Lehrlinge werden in speziellen Institutionen ausgebildet, ungefähr 220000 arbeiten für Niedriglöhne in sogenannten Werkstätten für behinderte Menschen. Knapp 179000 Menschen leben in Heimen statt in der eigenen Wohnung.

Diese strukturellen Bedingungen finden ihre Entsprechung in diskriminierenden öffentlichen Stellungnahmen. Der australische Philosoph Peter Singer zum Beispiel bestritt im Rahmen von ökonomischen Nützlichkeitserwägungen von der akademischen Kanzel herab ganzen Gruppen von Behinderten das Lebensrecht. An vielen Hochschulen wird seine Ideologie als anerkannte »Bioethik« gelehrt.

In eigener Sache

Gegen derartige Zustände protestieren seit den 1960er und 70er Jahren weltweit Menschen mit Behinderungen. Die Verselbständigung dieser und anderer sozia­ler Bewegungen hing nicht zuletzt mit dem Versagen der traditionellen Linken zusammen. Sozialdemokraten und Kommunisten betrachteten seinerzeit die derart artikulierten Anliegen, wenn überhaupt, nur als gesundheits- und sozialpolitisch zu lösendes Versorgungsproblem. Daß Behinderte als politische Akteure in eigener Sache auftreten, war nicht vorgesehen. Vor 1990 stand die Behindertenbewegung im Westen den Autonomen und den Grünen nahe, im Osten nutzte sie vorhandene Institutionen wie die Blinden- und Gehörlosenverbände sowie die Gesellschaft für Rehabilitation und organisierte sich in Bürgerrechtsgruppen. Später erging es ihr ähnlich wie ihren einstigen Verbündeten aus den sogenannten Regenbogenkoalitionen, z.B. der Frauenbewegung. Es gelang ihr, durch Lobbyarbeit und den Aufbau sozialer Projekte zur Triebkraft einer, wenn auch begrenzten, Modernisierung zu werden; doch je mehr sie sich etablierte, desto geringer entfaltete sich ihr systemkritisches Potential. Ein Zeichen der Krise war im Jahr 2000 das Ende der randschau, der bedeutendsten Zeitschrift der politischen Behindertenszene.

Die kapitalistische Ökonomie prägt der Gesellschaft ihren repressiven Charakter auf, mit dem sich emanzipatorische Behindertenpolitik auseinandersetzen muß. Daß die Überwindung dieser Ökonomie nicht ausreicht, davon vermögen die zum Teil sehr negativen Erfahrungen behinderter DDR-Bürger einen Eindruck zu vermitteln. Die Frage, ob die Emanzipation Behinderter innerhalb oder nur jenseits des Kapitalismus möglich ist, wäre falsch gestellt. Wichtiger ist, die Grenzen zu erkennen, die der Kapitalismus der Emanzipation setzt und die durchbrochen werden müssen.

Frühe Vorbilder

Zwischen Marxismus und Behindertenbewegung scheint es kaum Verbindungen zu geben. Aber der Eindruck trügt: Bereits die Arbeiterbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts protestierte gegen das, was Marx die »industrielle Pathologie« nannte, gegen die massenhafte Schädigung von Menschen durch den Produktionsprozeß. Sie kämpfte im Kaiserreich um die Einführung von Unfall- und Invaliditätsversicherungen und in der Weimarer Republik gegen Sozialabbau. Mit Hilfe der Marxschen Theorie lassen sich die Voraussetzungen ausgrenzender Konkurrenz in der Gesellschaft ebenso analysieren wie die Klassenkämpfe um die Verwendung des Sozialprodukts oder die ökonomischen Krisen, durch deren Wirkungen sozialdarwinistisches Gedankengut Auftrieb erhält.

Bereits 1924 formulierte der russisch-sowjetische Psychologe Lew Wygotski eine Theorie, in deren Mittelpunkt die Veränderung der gesellschaftlichen Voraussetzungen von Behinderung standen. Wygotski sah die Ursachen von Behinderung in unzulänglichen Infrastrukturen und aussondernder Praxis. Damit nahm er das »soziale Modell« vorweg, das insbesondere durch die britischen disability studies (»Behindertenwissenschaft«) marxistisch begründet wurde und das die individuelle Beeinträchtigung strikt unterscheidet von gesellschaftlicher Behinderung, die es zu überwinden gilt. »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Dieses Prinzip, das Marx 1875 in seiner »Kritik des Gothaer Programms« für eine entwickelte sozialistische Gesellschaft vorschwebte, könnte ebenso die Losung einer zeitgemäßen Behindertenpolitik sein.

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