Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: deutscher herbst, Beilage der jW vom 17.10.2007

»Wir wollten den revolutionären Prozeß weitertreiben«

Der »Deutsche Herbst«, wie ihn Aktivisten der Rote Armee Fraktion (RAF) erlebten, und wie sie ihn heute sehen. Ein Gespräch mit Helmut Pohl und Rolf Clemens Wagner
Von Rüdiger Göbel, Peter Rau, Wera Richter und Gerd Schumann
Bild 1
Wandbild in der Hamburger Hafenstraße. Es entstand 1986 in »Solidarität mit der RAF« zum neunten Jahrestag des »Deutschen Herbstes«. Der Senat ließ es unter massivem Polizeischutz übermalen

  • Helmut Pohl, geboren 1943, Journalist, ab 1970 Mitglied der RAF, erste Verhaftung 1971, zwei Jahre Gefängnis wegen Waffenbesitz, zweite Verhaftung 1974, fünf Jahre Haft wegen Mitgliedschaft in der RAF, darunter im Sommer 1977 (6.7.-12.8.) im Hochsicherheitstrakt Stammheim. Nach der Freilassung 1979 wieder in der RAF, 1984 erneute Verhaftung und Verurteilung zu lebenslanger Haft u.a. wegen des Bombenanschlags auf das Hauptquartier der US-Luftwaffe Europa in Ramstein 1981. Mehrere Hungerstreiks im Gefängnis. 1998 begnadigt. Heute erwerbslos
  • Rolf Clemens Wagner, geboren 1944, Barkeeper und Reiseleiter, ab Mitte der 70er Jahre Mitglied der RAF, 1978 zusammen mit Brigitte Mohnhaupt, Sieglinde Hofmann und Peter-Jürgen Boock in Jugoslawien verhaftet, aber nicht an die BRD ausgeliefert. 1979 in der Schweiz verhaftet und 1982 an die BRD ausgeliefert. 1985 zu zweimal lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt unter anderem wegen Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer 1977. Erneuter Prozeß nach »Kronzeugen«-Aussagen von DDR-Exilanten, zusätzliche Haftstrafe von zwölf Jahren wegen Anschlag auf den NATO-Oberbefehlshaber Alexander Haig 1979. Im Dezember 2003 begnadigt. Heute erwerbslos

Mit dem Herbst 2007 geht auch das medial recht intensiv abgefeierte Jubiläumsjahr des »Deutschen Herbstes« zur Neige. Die Ereignisse von 1977 endeten bitter, und deren Abbildung in TV, Hörfunk und Printmedien drei Jahrzehnte danach gestaltete sich als eine Art hysterische Abrechnung mit der Roten Armee Fraktion (RAF): »Die Nacht von Stammheim« (Spiegel) als Serie, »Die Jahre des Terrors« (Die Zeit) als Sonderheft, »Der Krieg der Bürgerkinder« als »Dokumentation« in der ARD zur Hauptsendezeit. Wie erlebten Sie den Umgang mit der RAF-Geschichte, die ja auch ein wesentlicher, wenn nicht der wesentliche Teil Ihrer eigenen Biografien ist?

Helmut Pohl: Angenehm ist es nicht, zum Teil macht es auch wütend, in so einer Kampagne Diffamierungen, Zerrbilder, Entwertungen um die Ohren gehauen zu kriegen. Und sie hatte ja auch konkrete Konsequenzen für Christian.1 Andererseits scheint mir, daß der Hauptteil der Kampagne, der ARD-Zweiteiler von Aust, weitgehend verpufft ist. Es ist schon ein Überdruß spürbar, die Leute wollen es nicht mehr hören.

Sie sprechen den Wirbel um Christian Klar im ersten Vierteljahr 2007 an. Für den Gefangenen standen nach 24 Jahren hinter Gittern Haft-erleichterung mit der Perspektive Begnadigung und Freilassung an. Nach seinem zwar engagierten, aber doch eher analytischen und keinesfalls gewaltpropagierenden Beitrag auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt im Januar wurde von Politik und Bürgermedien eine massive Anti-RAF- und Anti-Klar-Lawine losgetreten. Deutlich wurde: Für Klar gilt nicht das Recht des Gefangenen, sich zu äußern. Vielmehr wird er zu einem Sonderfall der deutschen Justiz gemacht.

Rolf Clemens Wagner: Tatsächlich erlebten wir in diesem Jahr zwei Teile des Umgangs mit der RAF. Der eine betrifft Christian. Plötzlich rückte die Frage der Reue für Opfer der RAF ins Zentrum. Eine Diskussion um Beiträge zur sogenannten Tataufklärung begann. Warum ausgerechnet jetzt? Ich bin auch begnadigt worden vor ein paar Jahren, und mich hat das niemand gefragt. Ich mußte keine Reue zeigen, es war nicht die Rede davon, daß ich Beiträge leisten mußte zur sogenannten Tataufklärung.

Ja, und warum ausgerechnet jetzt bei Christian Klar?

Rolf Clemens Wagner: Für mich hängt das zusammen mit der allgemeinen politischen Entwicklung. Je deutlicher wird, daß die derzeitigen Kriege vor allem in Afghanistan und Irak ins Chaos führen und mit welcher Grausamkeit sie seitens der Besatzungsmächte geführt werden, desto stärker muß die herrschende Klasse ihre Delegitimierung fürchten. Also präsentiert sie sich als moralische Instanz und argumentiert mit »Menschenrechten«, die sie gegen den »Terrorismus« verteidigt. An Christian Klar statuiert sie ein Exempel. Mit Teil zwei der Kampagne, also dem aktuellen RAF-Medienhype, wurden dann die innenpolitischen Begleitmaßnahmen zur Kriegführung nach außen befördert. Mit den Instrumenten, die Schäuble und Jung sich nun schaffen, soll eine präventive Aufstandsbekämpfung erleichtert werden – Stichworte Onlinedurchsuchung, der Abschuß von Flugzeugen, Militarisierung durch Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Sie verschaffen sich schon heute die Mittel zur Bekämpfung dessen, was sie selber erwarten. Von daher war die ganze Kampagne auch ein politisches Muß für die herrschende Klasse.

Helmut Pohl: Bei mir war es ähnlich wie bei Rolf. Ich wurde 1999 begnadigt, Rolf 2003, dazwischen kam noch Heidi2 frei. Der Vorgang durchlief die Institutionen, wurde irgendwann nach längerer Zeit entschieden, dann war ich draußen. Niemand wollte von mir Aussagen oder Reuebekenntnisse. Das lief bei Christian völlig anders – derzeit werden offensichtlich starke Anstrengungen unternommen, eine bewußtseinsmäßige Aufrüstung in der Bevölkerung zu erreichen.

Nach dem Motto die bösen Baader-Meinhof-Terroristen damals, die bösen Al-Qaida-Terroristen heute?

Helmut Pohl: Sicher gehört dazu auch, Anschläge von heute mit unseren Aktionen von damals gleichzusetzen. Das ist falsch. Bei der RAF mußte niemand befürchten, daß – wie in London oder Madrid geschehen – auf irgendeinem Parkplatz oder in irgendeiner U-Bahn eine Bombe hochgeht. Wir haben gezielte Aktionen gemacht und nicht irgendwelche unbeteiligten Zivilisten angegriffen. Wir haben uns an dem grundsätzlichen Schema vom begrenzten Krieg orientiert. Der militärische Einsatz sollte dazu dienen, eine politische Wirkung zu entfalten.

Wenn Sie einverstanden sind, kommen wir darauf, auf Sinn und Unsinn der RAF-Angriffe später zurück. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle doch noch auf die Wirkung der Deutsche-Herbst-Kampagne eingehen. Warum schalten Sie sich zwar spät, aber doch noch in die Debatte ein?

Helmut Pohl: Mir liegt daran, das in den vergangenen Monaten präsentierte Bild von der RAF und von meinen toten Genossinnen und Genossen geradezurücken. Es gibt einzelne Sachen, die mir schon am Herzen liegen. So regt mich immer wieder auf, um das gleich herauszugreifen, wie die angebliche Geschichte von Ulrike3 verbraten wird. Schon von Anfang an, seit 1970/71, wird behauptet, Ulrike hätte aussteigen wollen aus dem bewaffneten Kampf. Das ist völliger Unsinn. Es ist psychologische Kriegsführung und Propaganda und man muß das in Zusammenhang mit den späteren Angriffen bringen: Isolationsfolter im toten Trakt, der Versuch einer Zwangsuntersuchung ihres Gehirns.4 Es war in allem der Versuch, die Revolutionärin Ulrike zu demontieren. Und Aust wärmt die uralte, längst widerlegte Legende von der Ausgrenzung Ulrikes, einer bewußten Abkanzelung durch Gudrun5 in Stammheim wieder einmal auf und konstruiert daraus eine tiefe Verzweiflung Ulrikes, die letztlich zu ihrem unterstellten Selbstmord geführt habe.
Einmal ganz abgesehen davon, daß viele Fragen des Untersuchungsberichts zu ihrem Tod unbeantwortet blieben, war auch die Auseinandersetzung um den Angriff auf das Springer-Hochhaus von 19726 längst abgeschlossen. Das Thema stellte sich zwar dann im Zusammenhang mit dem Prozeß erneut, aber nicht mehr als Kontroverse. Vielmehr wollte Ulrike vor Gericht etwas zu der Springer-Aktion sagen und diese erklären, während die anderen meinten, nein, wir konzentrieren uns auf die Angriffe gegen das US-Militär. Die Aktion gegen Springer in Hamburg war falsch, obwohl wir natürlich auch in der Tradition des Kampfes gegen den Springer-Konzern stehen. Aber es wurde das Leben von Arbeiter und Angestellten gefährdet – und das war nie Sache der RAF. Wir haben das kritisiert und Schlußfolgerungen für später gezogen.

Sie kamen im Sommer 1977 in den siebenten Stock des Hochsicherheitstrakts Stammheim. Da war Ulrike Meinhof bereits über ein Jahr lang tot.

Helmut Pohl: Trotzdem drehten sich die ersten Gespräche sofort um Ulrike. Für Andreas, Gudrun und Jan5 war ganz ausgeschlossen, daß Ulrike sich umgebracht hat. Völlig klar war kurz vor ihrem Tod: Ulrike ging es gut. Sie hat viel gearbeitet, hatte Pläne für die Zukunft, also ... – ich weiß jetzt nicht, was ich dazu noch sagen soll.

Wie haben Sie Ulrike Meinhof kennengelernt?

Helmut Pohl: Bei journalistischen Arbeiten für den Hessischen Rundfunk in Frankfurt. Das war etwa zwei, drei Jahre, bevor es mit der RAF begann, also etwa 1967/68. Sie besuchte mich öfter, wenn sie in der Ecke etwas zu tun hatte. Später dann, als die Geschichte der RAF 1970 mit der Befreiung von Andreas in Westberlin anfing, wurde schnell klar, daß sie dort nicht bleiben konnten. Westberlin war absolut kein Terrain für eine Stadtguerilla, wie wir sie wollten. Sie kamen also nach Westdeutschland, und ich gehörte dann zu den ersten, die von Ulrike angesprochen wurden. Sie fragte mich, wie ich zum bewaffneten Kampf stehe. Na ja, ich bin gleich mitgegangen und habe mit ihr in der ersten Zeit zu Beginn der Siebziger eng zusammengearbeitet.

Ulrike Meinhof wurde in bürgerlich-aufgeklärten Verhältnissen groß– und es mag auf sie und vielleicht auch auf die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin zurückzuführen sein, daß der RAF auch jetzt wieder das Image von Durchgeknallten verpaßt wird. Spiegel-Chef Stefan Aust überschrieb seinen TV-Film »Krieg der Bürgerkinder« und unterstellte in einem Interview der FAZ (22.8.) gar so etwas wie das Vorhandensein einer Art »Terror-Gen«: »Den Extremismus muß man schon in der Persönlichkeitsstruktur haben, um auf diesem Weg der RAF voranzugehen.« Sind Sie »Bürgerkinder«?

Rolf Clemens Wagner: Bürgerkinder – wenn ich das schon höre ... Es ist doch völlig egal, wo jemand herkommt. Das ist nicht der Punkt. Es handelt sich vielmehr um einen Kampfbegriff, der tatsächlich auch zur Delegitimierung unserer Geschichte benutzt wird – bis heute und schon immer. Dazu gehört auch der Unsinn, unser Weg sei in den Individualstrukturen angelegt. Also eine Psychologisierung unserer Geschichte, Sozialpsychologisierung, wie sie leider auch von einigen ehemaligen RAF-Leuten betrieben wird. Es handelt sich bei diesen Konstrukten um Mittel der psychologischen Kriegführung, die von den tatsächlichen politischen Analysen der RAF, der politischen Bestimmung der Aktionen und des ganzen Konzepts völlig ablenken. Ich bin ja nicht zur RAF gekommen, weil ich Bürgerkind war. Sondern ich hatte eine bestimmte Politisierung, an deren Ende dann die Erkenntnis stand: Das ist ein richtiger Weg.

In der aktuell von den Medien geschriebenen RAF-Geschichte, aber auch schon früher, wurde versucht, insbesondere Andreas Baader in die kriminelle Ecke zu stellen. Wie haben Sie ihn erlebt?

Rolf Clemens Wagner und Helmut Pohl (rechts)
Rolf Clemens Wagner und Helmut Pohl (rechts)
Helmut Pohl: Wie bei Ulrike dreht es sich bei dieser Mythenbildung um Propaganda. Die ganze «kriminelle Vergangenheit« ist doch lächerlich. Andreas hatte von uns allen die größte Fähigkeit zum strategischen Denken und zur Praxis. Alle erkannten das an, er war Orientierung.

Kennzeichnend für den medialen Umgang mit der RAF und deren Geschichte ist – neben der Psychologisierung – sicherlich ein weitgehender Verzicht darauf, den politischen Rahmen darzustellen, in dem die Stadtguerilla entstand. Zwar werden die sogenannten Achtundsechziger, Studentenbewegung, der Schah-Besuch vom 2. Juni 1967 mit den Todesschüssen des Westberliner Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras auf Benno Ohnesorg sowie vor allem der Vietnamkrieg aus den Betrachtungen nicht vollständig ausgeblendet, doch fungieren sie eher als Beiwerk. Dieses sei zwar zum Verständnis der Zeit wichtig, könne jedoch auf keinen Fall den Griff zu den Waffen begründen. Wie sind Sie politisiert worden?

Rolf Clemens Wagner: Eigentlich wollten wir die Darstellung der politischen Verhältnisse auf einer doch sehr persönlichen Ebene vermeiden. Individualisierungen können zu Mißverständnissen führen. Und die Motivationen, bewaffnet zu kämpfen, sind wahrscheinlich so vielfältig wie die verschiedenen Leute, die zur RAF gekommen sind. Weltweit war die Kritik am Vietnamkrieg zugleich eine Kritik am kapitalistischen System. In der BRD kam noch ein ganz spezieller Faktor hinzu. Auch Jugendliche konnten schon begreifen, daß die bürgerliche Gesellschaft eben den Faschismus hervorbringt. Daraus folgte, daß man deswegen auch nicht nur an der Oberfläche die Nazis kritisierte, sondern dieses grundlegend tat. Es entstand ein riesiger kultureller Aufbruch. Es war eine Revolte nicht nur gegen den Krieg, sondern gegen alles, was die bürgerliche Gesellschaft ausmacht. Deutschland war der Ort, an dem es möglich gewesen war, daß es KZ-Kommandanten gab, die wunderbare Bach-Konzerte spielen konnten. Uns sagte das: Der Widerspruch zwischen bürgerlicher Kultur und Faschismus ist nicht groß. Da wurden nicht irgendwelche Auswüchse des Systems kritisiert, sondern es wurde grundsätzlich in Frage gestellt.

Der konservativ-restaurierte deutsche Imperialismus stand in faschistischer Kontinuität. Was erst kürzlich als Enthüllung präsentiert wurde, daß nämlich das Bundeskriminalamt maßgeblich von hohen SS-Funktionären aufgebaut worden war, war bereits vor 40 Jahren kein Geheimnis. Daraus ergab sich sicherlich auch so etwas wie eine Verantwortung, dieses System zu bekämpfen – um nicht, wie der Elterngeneration weitgehend zu Recht unterstellt, historisch zu versagen. Doch der bürgerliche Staat rüstete – schon lange vor der RAF – auf. Wie haben Sie das erlebt?

Rolf Clemens Wagner: Da war zum Beispiel die Notstandsgesetzgebung 1967/68. Das war etwas, das viele Leute auf die Straße brachte. Eigentlich gab es keine Begründung für die Vorbereitung auf einen inneren Notstand zu der Zeit. Gut, Mitte der sechziger war es zu Streikbewegungen gekommen, aber das, was der Staat damals mit der Notstandsgesetzgebung anvisierte, das war ja nur antizipiert, real war davon ja nichts da. Und das, was er damit bekämpfen wollte, der sogenannte Notstand, der hat sich nirgendwo abgezeichnet. Es war rein präventiv. Derartiges zieht sich durch bis heute. Da sind wir wieder bei Schäuble und Jung.

Helmut Pohl: Die Notstandsgesetze wurden zum Abschluß des sogenannten Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen, zu einem Zeitpunkt also, als sich die BRD wieder einigermaßen berappelt hatte. Es ging darum, in der internationalen Politik wieder stärker mitzumischen. Dabei bedeuteten die Notstandsgesetze, daß die BRD ihre Souveränität wiedererlangt hatte. Sie war damit in der Lage, über Notstand selbst zu entscheiden. Man bereitete sich auf eine größere Rolle des deutschen Imperialismus vor.

Und international? Wie wurde in der aufstrebenden Protestbewegung der Völkermord der USA in Vietnam bewertet?
 

Rolf Clemens Wagner: Vietnam stand für den Perspektivwechsel. Da wehrte sich ein Volk bewaffnet gegen eine neokoloniale Macht – und es wurde klar, es gibt überall auf der Welt Bewegungen, die ganz Eigenes entwickeln. Kuba, der Trikont insgesamt – man erfuhr, es gibt auch anderes. Wir entdeckten die Geschichte der Oktoberrevolution, und es war einfach plötzlich ein ganz anderer Bezug zur Welt. Man mußte sich nicht mehr orientieren an der bürgerlichen Gesellschaft, sondern man konnte wirklich in eine ganz andere Richtung denken. Das war einfach ein historischer Prozeß, in dem man sich bewegt hat, in dem man auch eine enorme Sicherheit hatte.

Und dann entsteht die RAF – ganz plötzlich und ungeplant, oder? Den Grund hierfür lieferte zumindest auf den ersten Blick ein tragischer Zwischenfall bei der Befreiung des wegen Kaufhausbrandstiftung gefangenen Andreas Baader aus einer Bibliothek in Westberlin am 14. Mai 1970, wo ein von der Anstaltsleitung genehmigtes Arbeitsgespräch für ein gemeinsames Projekt mit Ulrike Meinhof stattfinden sollte. Daraus wurde nichts. Ein Befreier verlor die Nerven, der Bibliotheksangestellte Georg Linke wurde versehentlich von einer Kugel schwer verletzt, Ulrike Meinhof sprang gemeinsam mit Andreas Baader und dem Kommando aus dem Fenster und damit in die Illegalität. Eine in Panik geratene Journalistin als ungewollte RAF-Gründerin?

Helmut Pohl: Das ist Unsinn. Ich kenne zwar die genauen Überlegungen damals nicht – mit Sicherheit aber war die Frage, ob Ulrike gleich abtaucht oder erst später, eher taktischer Natur. Sie wollte auf jeden Fall zur Guerilla. Sie hat mit mir schon im Jahr zuvor über die Illegalität gesprochen, über die Bildung einer Stadtguerilla. Das war bereits auf dem Vietnam-Kongreß im Februar 1968 diskutiert worden. Spätestens seit 1969 war zudem an allen Ecken und Enden spürbar, daß die Bewegung, die es in den Jahren zuvor gegeben hatte, langsam auslief. Das war für uns so unvorstellbar, wir wollten unbedingt weitermachen. Die Entscheidung war gefallen. Höchstens der Zeitpunkt des Ausstiegs war unklar.

Zu dem Zeitpunkt, als Sie sich entschlossen haben, den bewaffneten Kampf aufzunehmen, gab es trotzdem auch andere politische Optionen, sich gegen das System, das Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg hervorbrachte, zu wehren. Eine starke Lehrlingsbewegung entstand, die Politisierung war anhaltend stark, und die Elterngeneration stand weiter in der Kritik. Warum sind Sie in einer solchen komfortablen Situation, in der beispielsweise jeder zweite Student mit marxistischen Ideen sympathisierte, trotzdem in den Untergrund gegangen, weg von den Bewegungen sozusagen?

Rolf Clemens Wagner: Wir standen keinesfalls allein da ... Es gab andere Gruppen in Westeuropa, die bewaffnet kämpften – in Italien, Spanien, Nordirland, Griechenland, Portugal, Frankreich. Wir verstanden uns als internationalistische Gruppe. Die Frage stand: welches ist das angemessene Konzept, um den Imperialismus zu bekämpfen? Wenn nun von »Bewegung« die Rede ist: Sicher, es bildeten sich Gruppen, meist K-Gruppen. Deren Konzept schien mir nicht geeignet, starke, gewachsene Strukturen des Staatsapparats zu brechen. Es ging um den Notstand nach innen und den Krieg nach außen – und das war natürlich Vietnam, aber auch die antikolonialen Bewegungen in Afrika und die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. Überall wurden sie mit militärischen Mitteln bekämpft und überall waren die USA und Westeuropa dabei die treibende Kraft. Hier wollten wir ansetzen, um diesen weltweiten Prozeß zu verstärken. Und das konnte nur geschehen auf einem angemessenen Niveau.

Also den bewaffneten Kampf? Zu jenem Zeitpunkt war Ernesto Che Guevara mit seiner »Botschaft an die Trikontinentale« von 1967, mit der er zur Schaffung von »zwei, drei, vielen Vietnams« aufrief, ja leider bereits gescheitert – im Kongo ebenso wie in Bolivien. Offensichtlich hatte auch, wie vom Westberliner Vietnam-Kongreß 1968 propagiert, die Entschlossenheit der Revolutionäre, die Revolution zu wollen, nicht ausgereicht, um sie tatsächlich zu erreichen. Wie wollten Sie als Stadtguerilla die Leute für Ihre politischen Ziele gewinnen?

Helmut Pohl: An die Massenagitation haben wir nicht geglaubt, das muß ich sagen. Wir haben dieses Revolutionskonzept der diversen K-Gruppen nicht für voll genommen. Unser Projekt war auch ein anderes als das der traditionellen kommunistischen Parteien. Wir haben auf den Prozeß gesetzt, die Guerilla zu entwickeln, durch unsere Aktionen gegen den Staat gesellschaftlich zu polarisieren. Die Guerilla, so unsere Vorstellung, ist der kleine Motor, der den großen Motor anwerfen soll. Diesen kleinen Motor galt es aufzubauen und zu verankern.

Rolf Clemens Wagner: Wir hatten keine Ruhe. Wir waren umgetrieben und wollten den revolutionären Prozeß weitertreiben.

Waren Sie zu der Zeit überzeugt, diesen Kampf zu gewinnen und mehr Leute für den Kampf zu gewinnen?

Helmut Pohl: Wir hatten keine Illusion über die Verhältnisse in der BRD selbst. Aber wir haben unseren Kampf im internationalen Zusammenhang und in Einheit mit den Freiheitskämpfen im Trikont und in Europa gesehen. Die Befreiungsbewegungen weltweit waren eine Offensive. Und auf der Ebene haben wir schon darauf gehofft, daß wir gewinnen. Wir bewegten uns inmitten der Geschichte von Widerstand, Befreiung und Revolution. Man mußte nicht mehr völlig verloren und für sich allein kämpfen. Freiheit bedeutete für uns auch, bewußt Teil einer historischen Entwicklung zu sein, und der historische Prozeß richtete sich eindeutig gegen den Kapitalismus. Daß der weltrevolutionäre Prozeß dann zu Veränderungen auch in diesem Land führt und eine Aufbruchstimmung aus dieser Hoffnung entstand, ist aktuell etwas schwer Vermittelbares – insbesondere jemandem, der heute 15, 20 oder 25 Jahre alt ist.
Sicherlich auch deswegen, weil es inzwischen Schwierigkeiten gibt, die welthistorische Epoche zu bestimmen, in der wir leben. Damals schien eindeutig zu sein, daß wir uns in einer Übergangsphase befinden vom Kapitalismus in eine höhere menschliche Gesellschaftsform, die vom Volk dominiert wird, in der die Ausbeutung durch die Abschaffung des Privateigentums an den wichtigsten Produktionsmitteln beseitigt wird – vielleicht Sozialismus genannt, aber mit kommmunistischer Perspektive.

Rolf Clemens Wagner: Diesen historischen Prozeß zu begreifen, war schon ein Aha-Erlebnis, das den 68er Aufbruch prägte. Du erfährst plötzlich, es wird mit dir nichts gemacht, sondern du kannst selbst machen. Die Geschichte steht auf deiner Seite. Auch wenn wir immer eine Minderheit waren – es hat uns nichts ausgemacht. Wir wußten, wir haben einfach einen ganzen Prozeß bestimmt und darum gekämpft – dann war das nicht so ein Drama. Es gab keinen Grund, demoralisiert zu sein von der Schwäche der Linken. Wenn man nur die Birne rausgekriegt hatte aus den deutschen Verhältnissen, sah plötzlich alles anders aus.

Eben dieser Kulturschock blieb in der gesamten Jubiläumsbetrachtung des »Deutschen Herbstes« ausgeklammert. Es wäre wohl auch zu gefährlich, an diesen Aufbruch mindestens der Jugend, aber auch über diese hinaus zu erinnern. Nur eine Zahl dazu: Laut Meinungsforschungsinstitut Allensbach sympathisierte noch 1971 jeder Vierte unter 30 Jahren mit der RAF. Und der Staat reagierte auf den Krieg, den die RAF ihm erklärt hatte, mit einem bis dahin nicht gekannten Ausbau seines Apparats. Die RAF bewirkte damit – so der Vorwurf von linken Kräften damals – das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollte. »Innere Sicherheit« stand über allem, die RAF-Aktionen, Banküberfälle, Angriffe auf US-Einrichtungen dienten als Vorwand hierfür.
Fahndungsplakat 1970 in West-Berlin
Fahndungsplakat 1970 in West-Berlin

Rolf Clemens Wagner: Es wurde ein Zusammenhang hergestellt, der nicht existiert. Natürlich diente das Projekt RAF als Vorwand für alles Mögliche, für Gesetzesverschärfung, für eine Computerisierung der Verfolgung, zur Entwicklung der Rasterfahndung. Aber dazu wäre es auch ohne die RAF gekommen. Diejenigen, die sich um ihre Herrschaftssicherung sorgen müssen, hätten andere Vorwände gesucht, um daran zu argumentieren, daß ihr »Staat der inneren Sicherheit« für die Bevölkerung so ungeheuer nützlich ist. Als die Notstandsgesetze entwickelt wurden, gab es noch keine RAF.

Helmut Pohl: Die Pläne für eine Neustrukturierung des BKA als zentraler Institution im Fahndungsapparat stammen von 1966. Drei Jahre später begann die Umsetzung. Erst 1970 entstand die RAF. Die genannte Ursachenverknüpfung stimmt einfach nicht.

Trotzdem vergrößerte sich die Kluft zwischen legaler Linker und der RAF. Das geschah zum einen im Zuge der RAF-Offensive 1972 – Angriffe auf das US-Headquarter in Frankfurt, auf die Polizeidirektion Augsburg, das LKA München, auf Bundesrichter Wolfgang Buddenberg, das Heidelberger Hauptquartier der US-Landstreitkräfte –, vor allem jedoch nach der gar nicht von Ihnen zu verantwortenden Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München im israelischen Mannschaftsquartier durch den palästinensischen «Schwarzen September«. Wie haben Sie diese wachsende Distanz wahrgenommen?

Helmut Pohl: Ich glaube nicht, daß die Distanz größer oder kleiner geworden ist. Sie war von Anfang an mehr oder weniger vorhanden. Klar war insgesamt, ursächlich geht die Gewalt vom Staat aus. Insgesamt klar war auch, die USA agieren in Vietnam immer bestialischer, verbrennen Frauen und Kinder mit Napalm, foltern und morden wahllos. Das Land wurde mit Bombenteppichen überzogen. Aber nicht klar war, wie man dagegen vorgehen kann. Die einen setzten auf spontane Aktivitäten, andere auf kadermäßig angelegte »Massenarbeit«, es gab welche, die den Weg durch die Institutionen propagierten– wo sie gelandet sind, ist bekannt. Die Distanz vergrößerte sich allenfalls in dem Maß, wie sich die damalige Linke vom revolutionären Prozeß entfernt hat.

Die BRD erlebte dann im Herbst 1972 eine gigantische Fahndungswelle. Der mediale und politische Manipulationsapparat blies zur Jagd auf die »Baader-Meinhof-Bande«, und die Linke versuchte eher hilflos, die Hetze zu relativieren und setzte sich dafür ein, nicht von »Bande«, sondern – zivilisiert und nicht offen kriminalisierend – von »Gruppe« zu sprechen. Doch im Zentrum stand zunehmend zunächst das verlangte, der Massenstimmung geschuldete Distanzierungsritual.

Rolf Clemens Wagner: Die Distanz ist kein Spezialproblem des Verhältnisses der legalen Linken zur RAF. Die ganze Geschichte von Bewegungen inklusive des Aufbruchs in den sechziger Jahren und danach war auch vom Problem der Distanzierung begleitet. Zu militanten Demonstrationen gingen Teile auf Abstand. Das geschieht bis heute, siehe Rostock-Heiligendamm, also die Anti-G-8-Proteste in diesem Jahr. Und derartige Bewertungen, die die Aktion formal an Rechtmäßigkeit oder angeblicher Akzeptanz in der Bevölkerung messen, werden natürlich besonders heikel, wenn es um das Verhältnis zu einer Guerillagruppe geht. Anfang der 70er Jahre existierte eine breite Akzeptanz für das politische Konzept ebenso wie für die Analyse der RAF. Kaum jemand kam daran vorbei, und es gab viele Auseinandersetzungen darum. Es war fester Bestandteil der politischen Debatte. Das Problem der Distanzierung wird uns auch in Zukunft permanent weiter beschäftigen – und ich kenne auch heute keine Lösungen.

Helmut Pohl: Aktuell interessant scheint mir die Frage, warum die RAF heute immer noch – oder wieder – auf blindwütige Art angegriffen wird. Es gibt das Projekt seit bald einem Jahrzehnt nicht mehr, und ich sehe auch keine Ansätze, daß etwas Vergleichbares entsteht. Die sogenannte Gefahr, die vor allem staatlicherseits immer beschworen wird, besteht nicht. Warum also die Kampagne und warum in dieser Schärfe? Der Umgang mit dem 25. Jahrestag des »Deutschen Herbstes« war nicht so zugespitzt. Das hängt unmittelbar mit der aktuellen Situation zusammen. Je mehr der Krieg zum Normalzustand wird, desto stärker müssen sie sich als Moralapostel gerieren. Und sicherlich spielt auch die Tatsache eine Rolle, daß die BRD noch nie so angegriffen worden war wie damals von der RAF. Eine relativ kleine Gruppe attackierte diesen mächtigen Staat von innen heraus. Das zeigte, daß so etwas möglich ist, und das versucht der Staat natürlich, wieder auszuradieren.

Doch noch im Juni und Juli 1972 gelang es dem Apparat, eine Reihe der damaligen Führung und Mitbegründer der RAF zu verhaften, darunter Andreas Baader, Holger Meins7, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin, Brigitte Mohnhaupt8, Irmgard Möller9. Im Februar 1974 wurden auch Sie, Helmut Pohl, und sechs weitere RAF-Angehörige festgenommen. Sie erhielten fünf Jahre Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer »kriminellen Organisation«. Und trotzdem existierte die RAF draußen weiter. Ein Phänomen?

Helmut Pohl: Die RAF war natürlich enorm geschwächt durch diesen Schlag des Staatsapparats.Trotzdem gab es personelle Kontinuitäten. Zur Geschichte der RAF gehört, daß es immer wieder neue Personen und Gruppierungen gab, die das Konzept aufgegriffen haben. Die RAF agierte zu keiner Zeit organisatorisch stabil. Es schlossen sich immer wieder neue Leute an. Das kommt ja nicht von nirgendwoher, sondern das war die Anziehungskraft, die von unserem Kampf ausging.

Können Sie diese Umbruchsituationen – sei es durch Verhaftungen, sei es durch politische Einschnitte –zeitlich genauer bestimmen?

Helmut Pohl: Das war in den siebziger Jahren mindestens dreimal – 1972, 1974 und 1976 – der Fall, und in den 80ern auch noch zweimal. Es kamen immer wieder neue Gruppen. Daß trotzdem jedes Mal eine Kontinuität hergestellt werden konnte, ist sicherlich ein Zeichen von Stärke. Trotzdem kritisiere ich uns grundsätzlich wegen eines großen Mankos: Es ist uns nicht gelungen, die militärische Aktion der RAF in politische Prozesse umzusetzen und in ein greifbares politisches Projekt münden zu lassen.

Wie hätte das geschehen sollen?

Helmut Pohl: Zum Beispiel wie bei der Stadtguerilla in Uruguay. Nachdem die gefangenen Tupamaros10 freigelassen werden mußten, kam es zu einer großen gemeinsamen Diskussion der Aktivisten über die Zukunft des politischen Projekts. Es gelang, sie sind heute Teil der politischen Struktur in Uruguay. Natürlich lassen sich die Bedingungen und Verhältnisse nicht eins zu eins übertragen. Aber es treibt uns heute noch um, daß wir, Gefangene und Illegale, es nicht geschafft haben, zusammen eine politische Kontinuität zu erreichen. Statt dessen fand keine Auseinandersetzung darüber statt, und draußen dominierte immer wieder der Aktionismus.

Welche Aktionen, die eine politische Entwicklung behinderten, meinen Sie?

Helmut Pohl: Es gab zum Beispiel die gemeinsame Offensive der französischen Action Directe/AD11 und der RAF von 1985 bis 1986. Die AD hatte Recht, die Offensive gegen den militärisch-industriellen Komplex mit einer Erklärung zu beenden. Es war an der Zeit, neue Analysen vorzunehmen und daraus Schlußfolgerungen für den Kampf zu ziehen. Die RAF hat das versäumt. Es wurden Angriffe zum Beispiel auf Wirtschaftsführer fortgesetzt, und nicht nur ich hielt das für falsch. Es fehlte das politische Konzept, das in der Diskussion hätte entwickelt werden müssen.

Rolf Clemens Wagner: Uns in den Gefängnissen war bereits Mitte der achtziger Jahre bewußt, daß sich eine historische Zäsur abzeichnete, die das gesamte bis dahin bestehende Weltsystem auflöst. Und daß damit das politische Koordinatensystem, in dem wir uns als Guerilla bestimmt hatten, nicht mehr existiert. Das wollte damals niemand sehen, wir sind nur auf Unverständnis gestoßen. Die notwendigen Diskussionen in der revolutionären Linken draußen, einschließlich der RAF, haben faktisch nicht stattgefunden, geschweige denn wurde ein politisches Projekt in der neuen Situation entwickelt. Wir alle wurden dann von der realen Entwicklung, die 1989 eintrat, überrollt. Die Aktionen der RAF konnten keine politische Wirkung mehr entfalten. Die Auflösung 1998 war überfällig.

Sie sprachen auch von einer schweren Krise der RAF-Politik, nachdem die Gefangenenbefreiung im Herbst 1977 gescheitert war.

Helmut Pohl: Das läßt sich sicherlich nicht mit der Lage zehn Jahre später vergleichen. Doch war die Entführung der »Landshut« ein Fehler. Es hatte nach den Ereignissen von Entebbe 197612 intensive Diskussionen vor allem unter den Gefangenen gegeben. Wir kritisierten die Aktion in mehrfacher Hinsicht. Die Selektion der Passagiere mit israelischen Pässen, daß die Entscheidung der Aktion im Trikont gesucht wurde statt in der Metropole, und grundsätzlich das Mittel der Flugzeugentführung. Trotzdem stimmten unsere Leute draußen dem Vorschlag der Palästinenser zur Entführung der »Landshut« zu.

Folgt man den Veröffentlichungen zum »Deutschen Herbst«, dann diente diese Phase der RAF-Entwicklung, beginnend mit der Verhaftung der Führung 1972, ausschließlich der Befreiung der Gefangenen. Spiegel- Stichwort »Gefangenenbefreiungsguerilla«: War die RAF im »Deutschen Herbst«, der am 18. Oktober 1977 tragisch endete, zum Selbstzweck geworden?
Gudrun Ensslin mit Jan-Carl Raspe
Gudrun Ensslin mit Jan-Carl Raspe

Rolf Clemens Wagner: Was heißt denn Selbstzweck? In der Zeit vor 1977 hatte die Befreiung der bedrohten Genossinnen und Genossen absolute Priorität. Sie saßen in den toten Trakten, und die ersten waren schon umgebracht worden: Holger Meins, Siegfried Hausner13, Ulrike Meinhof. Die Situation brannte uns unter den Nägeln. Für uns war klar: Die Gefangenen zu befreien war unser wichtigstes und nächstes Ziel. Einerseits waren sie existentiell bedroht, andererseits, klar, wir wollten sie auch draußen haben. Es ist unverzichtbar für eine Guerillabewegung, auch Aktionen mit dem Ziel durchzuführen, Gefangene zu befreien. Und wir haben uns natürlich immer wieder gefragt, was konkret machen wir, was macht politisch Sinn?
Manche Ergebnisse unserer Überlegungen bleiben auch aus heutiger Sicht richtig. Wie die Entscheidung, Hanns Martin Schleyer zu entführen. Der wurde mit seiner SS-Geschichte als Wehrwirtschaftsführer in besetzten Gebieten und seiner aktuellen Funktion als Aussperrer und Präsident des Unternehmerverbandes ja nicht zufällig ausgesucht. Und gerade an ihm hätten wir unsere Analyse und Politik vermitteln können. Also die historische Kontinuität, für die er stand beispielsweise. Das geschah nicht. Statt dessen wurde aus diesem Politikum einfach zuwenig gemacht. Er war Gefangener, und das war es schon. Es gab überhaupt keine politische Erklärung, sondern lediglich die Forderung nach Austausch von Personen, dann wieder eine Warnung an die Bundesregierung sowie Texte, die Schleyer geschrieben und gesprochen hat. Aber nichts von uns selbst.

Warum haben Sie dann nicht versucht, politisch zu argumentieren? Geschah das auch deswegen, weil sich die Aktion immer weiter in die Länge zog? Schleyer war ja bereits am 5. September entführt worden.

Rolf Clemens Wagner: Zunächst will ich mal festhalten, weil immer wieder kolportiert wird, daß die Offensive 77 in Stammheim geplant worden sei: Die Aktionen waren von Anfang an nicht in Stammheim, sondern ausschließlich draußen diskutiert worden. Sie waren auf eine viel kürzere Zeit angelegt. Und zur Konzeption gehörte, daß mit Jürgen Ponto ...

... dem Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank ...

Rolf Clemens Wagner: ... ein weiterer hochkarätiger Vertreter des deutschen Kapitals entführt wird.14 So hätte ein stärkerer Druck entwickelt und eine positive Entscheidung herbeigeführt werden sollen. So unser Plan. Doch die Entführung Pontos scheiterte, die Schleyer-Aktion zog sich auch deswegen in die Länge, weil der Krisenstab auf Zeit gespielt hat. Wir haben die Zeit nicht genutzt, die politische Dimension spielte einfach eine viel zu geringe Rolle. Wir hatten während der sechs Wochen immer gehofft, doch noch die Gefangenen freizubekommen.

Mit der direkten Folge, daß auch Schleyer freigelassen worden wäre?

Rolf Clemens Wagner: Selbstverständlich. Das war die Planung, und sie wäre umgesetzt worden. Die »Landshut« kam darin zunächst überhaupt nicht vor. Später dann trugen die Palästinenser den Vorschlag an uns heran, durch die Entführung eines Flugzeugs den Druck zu erhöhen. Und wir stimmten zu. Aus heutiger Sicht war das die schlimmste Entscheidung, an der ich beteiligt war. Schwer nachvollziehbar, aber doch aus der Situation heraus eventuell zu verstehen – eine Lage, die von der totalen Bewegungslosigkeit, die der Staat in der Frage der Freilassung der Gefangenen demonstrierte, gekennzeichnet war. Auf unserer Seite, also der RAF außerhalb der Knäste, fehlte es 1977 generell an politischer Orientierung. Man kann Schleyer ja im nachhinein einiges andichten, doch eines sicherlich nicht: daß er in der Bevölkerung etwa als Sympathieträger galt. Damit hätten wir politisch arbeiten müssen.

So daß die Linie von Kanzler Helmut Schmidt, unter dem Stichwort »Der Staat läßt sich nicht erpressen« auf keinen Fall auf die Forderungen der Entführer einzugehen, eventuell hätte unter Druck geraten können. Oder anders: Schmidt setzte auf Fahndung und riskierte den Tod Schleyers bei deren Scheitern.

Rolf Clemens Wagner: Natürlich hätte Schmidt auf unsere Forderungen eingehen können. Zumal die Gefangenen ausdrücklich erklärt hatten, daß sie nicht mehr zurück in die BRD kommen und damit die angebliche Gefahr, sie würden nach der Freilassung weiter hier Aktionen machen, hinfällig war.

Eine Zeitlang schien es den Gefangenen in Stammheim ja auch tatsächlich so, als nähme ihr Austausch konkret Gestalt an – insbesondere, als Baader, Ensslin, Raspe und Möller aufgefordert wurden, Formulare auszufüllen und darauf Ausreiseländer ihrer Wahl anzugeben ...

Rolf Clemens Wagner: Es wurde so manches von seiten des Krisenstabs unternommen, um Zeit zu gewinnen.

Später stellte sich heraus, daß Schleyer von Schmidt und Co. bereits kurz nach der Entführung abgeschrieben worden war, also staatlicherseits auf eine militärische Lösung des Problems orientiert wurde.

Rolf Clemens Wagner: Wir wollten es damals nicht wahrhaben. Dabei hätte man erkennen können, daß die Entscheidung bereits gefallen war und daß der Staat auf eine gewaltsame Beendigung der Geiselnahme setzte.

Was dann ja auch im Fall der »Landshut« in Mogadischu unter blutigen Umständen mit insgesamt vier Toten geschah. Schleyer wurde dann vom RAF-Kommando »Siegfried Hausner« erschossen, obwohl klar war, daß das ursprüngliche Ziel nicht erreicht wird. Sehen Sie das heute auch so kritisch wie die »Landshut«-Entführung?

Rolf Clemens Wagner: Nein.

Am Morgen des 18. Oktober 1977 endete der »Deutsche Herbst« mit dem Tod von drei Gefangenen in Stammheim, Etage sieben: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe. Diese hätten sich selbst umgebracht, mit von ihren Anwälten eingeschmuggelten Pistolen erschossen oder – im Fall Ensslins – sich mit einem Lautsprecherkabel erhängt. Irmgard Möller überlebte als einzige – schwerverletzt. Über sie hieß es, sie habe sich mit einem stumpfen Messer selbst drei Stiche in der Brustgegend beigebracht – eine abenteuerlich anmutende Behauptung. Helmut Pohl, Sie selbst waren glücklicherweise nicht mehr in Stammheim. Man hatte Sie im August 1977, also kurz vor Herbstbeginn, wieder wegverlegt. Wäre das nicht geschehen, würden Sie heute aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr leben?

Helmut Pohl: Ja, das ging mir damals auch durch den Kopf.

Laut der Interpretation der Ereignisse durch Aust, die ja inzwischen zur offiziellen Geschichtsschreibung erhoben wurde, ist an der Selbstmordthese nicht zu rütteln. Von der Selbsttötung als »letztem Akt der Rebellion« ist die Rede und davon, daß angestrichene Textzitate aus Brechts »Die Maßnahme«15, die in eine ähnliche Richtung gehen, gefunden wurden. War unter den Gefangenen kollektiv über Selbstmord als Widerstandsakt diskutiert worden?

... und mit Andreas Baader im Sommer 1977 im Gefängnis Stuttgart
... und mit Andreas Baader im Sommer 1977 im Gefängnis Stuttgart-Stammheim, aufgenommen mit einer eingeschmuggelten Minox-Kamera
Helmut Pohl: Nein. Zudem war ja – laut Aust – angeblich alles abgehört worden, allerdings eben keine «Verabredung zum Selbstmord«. Die wahrscheinlich einfachste Erklärung hierfür lautet, daß es Derartiges nicht gab und also auch nicht abgehört werden konnte. Für jeden von uns, der in den Knast kam, war klar, daß der Kampf mit der Gefangennahme nicht aufhört, sondern daß sich lediglich das Terrain änderte, auf dem man – wenn auch sehr eingeschränkt – handeln konnte. Andreas antwortete nach der Verhaftung 1972 auf die Frage, wie er denn mit der Niederlage umgehe: Welche Niederlage? Es geht weiter. Ich habe nie etwas von derartigen Diskussionen gehört, geschweige denn, daß ich an solchen teilgenommen hätte. Und ich kann es mir nicht vorstellen, daß es sie gegeben hat.

Als Sie vom «Selbstmord« der Gefangenen hörten, war Ihnen da sofort klar, daß es sich um eine Inszenierung handelte?

Rolf Clemens Wagner: Natürlich. Es ging um Rache. Und es ging um die Eliminierung der Kader.

Helmut Pohl: Und das war nicht neu. Bei Andreas zum Beispiel hatte es während eines Hungerstreiks Versuche gegeben, ihn umzubringen durch Wasserentzug. Es gab physische Übergriffe bei der Verhaftung und im Knast. Es gab Drohungen. Und 16 Jahre später wurde dann der Tod von Wolfgang Grams16 auch als Selbstmord deklariert, obwohl es eine Zeugin gab, die gesehen hatte, wie er in Bad Kleinen exekutiert worden war. Es wiederholt sich also.

Erstaunlich erscheint tatsächlich, mit welcher Selbstverständlichkeit heutzutage die Selbstmordthese akzeptiert wird. Dabei existiert ein dickes Bündel an ungeklärten Fragen zu den Todesumständen – all das spielt nur am Rande eine Rolle.

Rolf Clemens Wagner: Es findet heute wieder ungehemmt eine Geschichtsschreibung von oben statt. Also, 1977, direkt nach der Nacht von Stammheim, haben wir niemanden getroffen – und das waren keinesfalls nur Linke, zu denen wir Kontakt hatten –, die an Selbstmord geglaubt haben. Vielmehr schien es völlig logisch, daß am Ende genau die Leute tot waren, um deren Befreiung es gegangen war.

Noch heute werden meterweise Akten zu den Vorgängen nicht freigegeben; wie auch Untersuchungsergebnisse von Ermittlungsausschüssen. Selbst Aust beschreibt eine Reihe von Ungereimtheiten – und attestiert sonderbarerweise zugleich trotzdem der Selbstmordthese eine Art historische Wahrheit.

Rolf Clemens Wagner: Im sogenannten Krisenstab damals wurden »exotische« Vorschläge diskutiert. Von Franz-Josef Strauß wird kolportiert, er habe gefordert, stündlich Gefangene zu erschießen bis Schleyer frei ist. Oder die Wiedereinführung der Todesstrafe für genau die, deren Freilassung verlangt wurde. Danach entstand die Linie, möglichst keine Gefangenen mehr zu machen. Ende der Siebziger wurden drei steckbrieflich gesuchten Genossen Kopfschüsse verpaßt.17 Wir haben das seinerzeit »Kill-Fahndung« genannt. Also, damals trauten viele Leute diesem Staat doch einiges zu, was mit dessen proklamierten demokratischen Ansprüchen nicht in Übereinstimmung stand. Das hat sich heute offensichtlich verändert.

Nun widersprechen Ihrer Version des »Deutschen Herbstes« nicht nur staatliche Stellen, sondern auch ehemalige Aktivisten aus den Reihen der RAF selbst. Vor allem in den Aust-Beiträgen im Spiegel und in der ARD blieb es Leuten wie Horst Mahler, heute Neonazi, und Peter-Jürgen Boock, heute Kronzeuge und wohl auch als journalistischer Zuträger gegen Geld tätig, vorbehalten, die RAF-Geschichte zu schreiben.18

Helmut Pohl: Aber vielleicht bringen wir ja eine Veröffentlichung zustande, in der ein Boock keine Rolle spielt...

Das würden wir ja gerne tun. Trotzdem müssen wir an dieser Stelle auf die Kronzeugenregelung eingehen, die zu von der Staatsanwaltschaft erwünschten Aussagen führte – Haftverkürzung oder niedrigere Strafen oder Entlassung gegen entsprechende Zeugnisse. Auch gegen Sie, Rolf Clemens Wagner, sagten nach dem Ende der DDR Leute aus, die dort zehn Jahre im Exil gelebt hatten. Sie wurden dafür belohnt.

Rolf Clemens Wagner: Die Kronzeugen sind ein trauriges Kapitel. Aber ich denke, daß sie weitgehend diskreditiert sind nach ihrer soundsovielten Version verschiedener Ereignisse. Wer seriös damit umgeht, wer sich ihre Rollen unvoreingenommen anschaut, muß zu dem Ergebnis kommen, daß den Aussagen nicht zu glauben ist. Muß man das noch erklären? Zu Mahler sei noch erwähnt, daß er schon 1973 vom Kollektiv aus der RAF ausgeschlossen worden ist.

Wie kam es zum Ausstieg von zehn Mitgliedern der RAF und der Bewegung 2. Juni19, wie kam es zu deren Asyl in der DDR ab 1980? Eine Verbindung zur politischen Sinnkrise in den Jahren nach der Todesnacht von Stammheim drängt sich auf.

Helmut Pohl: Sicher. Die RAF befand sich in einer schweren Krise. Es wollten Leute aussteigen, aber wohin? Durch Kontakte zur DDR war es gelungen, ihnen gute Bedingungen zu verschaffen– sonst wären sie in den Knast eingefahren. Die DDR-Genossen haben ihnen dann wirklich das für die vorhandenen Möglichkeiten Optimale verschafft. Sie haben einen großen Aufwand betrieben, um zunächst die zehn – später kamen dann noch zwei weitere dazu – zu integrieren. Die Aussteiger wurden nicht etwa in irgendeine Ecke verfrachtet und Schluß, aus. Sie haben Berufsausbildung erhalten, konnten studieren. Die DDR hat sich wirklich reingehängt. Das sollte niemand denunzieren.

Das geschah dann aber nach Enttarnung der RAF-Aussteiger sowohl, was die DDR, als auch was ihre ehemaligen Mitkämpfer betraf.

Helmut Pohl: Sie hauten diejenigen Mitkämpfer, die weitergemacht hatten, Kontakte herstellten und ihren Ausstieg über ein Jahr hindurch unter großem Risiko vorbereitet hatten, in die Pfanne.

Warum waren sie überhaupt von der DDR aufgenommen worden, Helmut Pohl? Sie selbst waren 1980 an entsprechenden Verhandlungen beteiligt.

Helmut Pohl: Es gab keine Verhandlungen, sondern Gespräche. Unsere Kontaktpersonen auf der DDR-Seite haben immer wieder betont, daß die DDR den Kontakt zu uns als Beitrag zum Internationalismus verstünde – und daß ihre Politik eben auch grundsätzlich internationalistisch angelegt sei, siehe Befreiungsbewegungen im Trikont.

Aber die DDR-Seite wußte doch auch von der – sagen wir mal – kritischen Distanz der RAF gegenüber dem Realsozialismus? Zudem buchten viele kommunistische Parteien die Stadtguerilla unter »individuellem Terror« oder »Linkssektierertum« ab.

Fahndung in Hamburg, 27.10. 1977
Fahndung in Hamburg, 27.10. 1977
Helmut Pohl: Ich war auch erstaunt über manches, was sie gesagt und getan haben, gerade weil sie erklärt hatten, daß sie eigentlich unseren Weg für politisch falsch hielten. Und sie kannten auch unsere Vorbehalte gegenüber der DDR und daß wir, angefangen beim Parteiaufbau, einfach ein völlig anderes Selbstverständnis hatten.

Von westlichen Linken wurde auch immer wieder unterstellt, daß zumindest Teile der RAF vom Verfassungsschutz unterwandert waren. Dagegen spricht sicherlich nicht nur, daß der DDR-Coup der RAF erst nach der Auflösung der DDR aufgeflogen ist. Und doch: Ende der Sechziger beispielsweise gab es einen V-Mann namens Peter Urbach, der laut Spiegel an der Beschaffung von Waffen beteiligt gewesen sein soll. Und es gab 20 Jahre später den V-Mann Klaus Steinmetz, der Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams verraten hat.20

Rolf Clemens Wagner: Die RAF war nie vom Verfassungsschutz unterwandert. Was es gab, waren Leute, zu denen wir Kontakt hatten und von denen sich später rausstellte, daß sie als V-Leute tätig waren. Grundsätzlich muß die Frage allerdings anders gestellt werden. Nämlich: Schaffen sie es, Einfluß zu nehmen? Mit der Einschleusung von Spitzeln hatte mancher von uns bereits in der Legalität Erfahrungen sammeln müssen. Diese Leute hatten die Aufgabe, Gruppen auszuforschen und vor allem auch zu erfahren, wer was wann und wo macht. Trotzdem ist die Tatsache, daß der Staat versucht, Spitzel anzusetzen oder einzuschleusen, nur die eine Seite der Medaille. Die andere Sache ist, ob sie tatsächlich die Möglichkeit haben, Einfluß zu nehmen. Die Geschichte der RAF demonstriert, daß sie das nicht schafften. Die blühenden Unterwanderungsphantasien halten sich hartnäckig. Man wird sie auch durch Reden nicht aus der Welt schaffen können. Spekulanten machen damit ihr Geschäft.

Die politischen Gefangenen aus der RAF waren von Beginn an besonders scharfen Haftbedingungen unterworfen. Sie selbst als unsere Gesprächspartner haben insgesamt 45 Jahre in Knästen dieses Landes verbracht. Wie haben Sie diese lange Zeit überstanden?

Rolf Clemens Wagner: »Scharfe Haftbedingungen« hat bedeutet: Isolationshaft. 23 Stunden allein in der Zelle, wochenlang Schlafentzug durch Dauer-Neonlicht, Einzelhofgang, totales Kontaktverbot zu Mitgefangenen, Trennscheibe bei Besuchen, auch vom Anwalt, strenge Zensur. Nach der Verurteilung waren manche von uns in Kleinstgruppen in Hochsicherheitstrakten isoliert. Die meisten blieben in Einzelhaft bis nach dem Hungerstreik 1989. Jahre, fast Jahrzehnte total abgeschnitten von jeder direkten Kommunikation mit den Genossinnen und Genossen. Das übersteht man vor allem durch den Kampf um Kommunikation untereinander. Wenn der Angriff ständig läuft, wie das in der Isolation ist, dann wehrt man sich auch ständig. Was anderes bleibt einem auch gar nicht übrig, wenn man integer überleben will. Aushalten kann man das nicht. Das hält kein Mensch aus. Die ganze Knastsituation kam immer irgendwann an einen Punkt, da mußte was passieren. Meine Erfahrung ist – und ich habe das auch von anderen Gefangenen gehört –, daß es einem während Hungerstreiks eigentlich am besten ging. Nicht physisch, aber weil man aktiv ist, mit anderen zusammen einfach kämpft.

Helmut Pohl: In der aktuellen Kampagne wird ja wieder behauptet, es habe gar keine Isolation gegeben. Es wird dabei mit der Situation im siebenten Stock in Stammheim argumentiert. Richtig ist, daß die Bedingungen der Gefangenen in Stammheim, als dort der Prozeß begann, verbessert wurden. Aber das kam daher, daß die Gefangenen ärztliche Gutachten erkämpft hatten, die sagten, daß sie bei weiterer Isolierung prozeßunfähig werden. Der Justizapparat mußte eine begrenzte Zusammenlegung zulassen; stundenweise »Aufschlüsse«, bei denen die Gefangenen zusammenkommen konnten und Bücher und ähnliches; weil sonst der Prozeß, den sie so dringend wollten, geplatzt wäre. Nach dem Urteil wären sie wieder zurück in die Isolation gekommen, wie es die anderen in der ganzen Zeit geblieben waren.

Was kommt danach, nach der langen Haftzeit? In 20 Jahren und länger hat sich die Welt verändert, manchmal so stark, daß sie kaum wiedererkennbar ist.

Helmut Pohl: Es ist schon nicht leicht nach so einer langen Zeit. Man muß ganz von vorne anfangen, Erfahrungen in der veränderten politischen Situation sammeln, um wieder ein Bild zu kriegen. Aber wir waren ja nicht aus der Welt, wir haben die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen draußen sehr genau verfolgt und analysiert. »Kaum wiedererkennbar« stimmt ja auch nicht, es sind die alten Verhältnisse, allerdings hat der Kapitalismus eine neue Stufe erreicht.

Rolf Clemens Wagner: Wir wußten, daß zum Beispiel die Ausbeutung sich unglaublich verschärft, daß die Ware Arbeitskraft immer mehr entwertet wird, Verarmung und Deklassierung immer mehr um sich greifen – um nur mal über die Verhältnisse im Innern zu reden. Also über die unmittelbaren Folgen der entgrenzten kapitalistischen Produktionsweise, der Globalisierung. Das war uns ja bekannt. Allerdings, wie es sich anfühlt als »Klient« auf dem Arbeitsamt, wie es konkret ist, mit Hartz IV auskommen zu müssen, wie extrem eingeschränkt man damit ist, das war dann doch noch mal was anderes. Darin dann seinen Alltag zu organisieren, war nicht einfach. – Unsere Position zu dieser ganzen Entwicklung ist unverändert. Wenn der Widerstand diese Entwicklung nicht stoppt, sind die Aussichten ziemlich finster. Zwar erfahren immer mehr Menschen in ihrem Alltag die Auswirkungen, aber die revolutionäre Linke ist schwach. Es gibt jedoch überall Keime für eine Veränderung.


1 Christian Klar (geb. 1952), war Mitte der 70er Jahre in der RAF organisiert, wurde 1982 verhaftet und in zwei Prozessen wegen Beteiligung an fast allen Aktionen der RAF zwischen 1977 und 1981 zu lebenslänglich verurteilt. Inhaftiert in der JVA Bruchsal

2 Adelheid Schulz (geb. 1955), war Mitte der 70er in der RAF, wurde 1982 verhaftet und u.a. wegen der Schleyer- Entführung verurteilt. 1998 mußte die Haft wegen schwerer Krankheit unterbrochen werden. 2002 wurde Heidi Schulz begnadigt

3 Ulrike Meinhof (geb. 1934), Mitbegründerin der RAF, wurde 1972 verhaftet und starb 1976 in Stammheim. Die staatliche Version: Selbstmord. Eine internationale Untersuchungskommission kam zu dem Schluß, daß sie sich nicht umgebracht hat, sondern ermordet wurde (ausführlich: »Der Tod Ulrike Meinhofs«, Unrast reprint 2007)

4 »Tote Trakte« waren zu Beginn der 70er Jahre leere Gefängnisteile, in denen Einzelhaft unter zusätzlicher akustischer und visueller Isolation gegen Gefangene aus der RAF praktiziert wurde. – 1973 sollte auf Antrag der Bundesanwaltschaft und abgesegnet vom Bundesgerichtshof eine Untersuchung von Ulrike Meinhofs Gehirn durchgeführt werden, um ihre »Zurechnungsfähigkeit« zu klären. Dazu sollte auch Zwangsnarkose eingesetzt werden, falls sie sich wehrt, und um eine sofortige Operation zu ermöglichen, wenn die Ärzte es für nötig halten. Dies konnte durch massive öffentliche Proteste verhindert werden (ausführlich: Pieter Bakker Schut »Stammheim – die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung«, Pahl-Rugenstein). - Es war nicht der einzige Versuch, Ulrike Meinhof und die RAF für »verrückt« zu erklären. 2002 wurde bekannt, daß die Gehirne von Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Raspe nach ihrem Tod ohne Wissen ihrer Angehörigen und Anwälte entfernt und zu Forschungszwecken an den Universitäten Tübingen, Dresden und Magdeburg missbraucht wurden.

5 Gudrun Ensslin (geb. 1940), Andreas Baader (1943) und Jan-Carl Raspe (1944) gehörten zu den Mitbegründern der RAF und wurden 1972 verhaftet. Sie starben am 18.10.77 in Stammheim.

6 Am 19.5.1972 wurden bei einer Aktion der RAF gegen die Zentrale des Springer-Konzerns in Hamburg 34 Menschen verletzt. Trotz frühzeitiger und mehrfacher telefonischer Warnungen durch das Kommando 2. Juni der RAF wurde das Gebäude nicht geräumt.

7 Holger Meins (geb. 1941), ebenfalls Mitbegründer der RAF, wurde mit Andreas Baader und Jan-Carl Raspe 1972 verhaftet und starb an den Folgen der Zwangsernährung während des Hungerstreiks 1974.

8 Brigitte Mohnhaupt (geb. 1949), schloß sich 1971 der RAF an, wurde 1972 verhaftet und war nach ihrer Entlassung im Februar 1977 wieder in der RAF organisiert. Erneute Verhaftung 1982; im Prozeß gemeinsam mit Christian Klar 1985 verurteilt, u.a. wegen »Rädelsführerschaft« und Beteiligung an den RAF-Aktionen 1977. Sie wurde im März 2007 entlassen.

9 Irmgard Möller (geb. 1947), schloß sich 1971 der RAF an und wurde 1972 verhaftet. Im ersten Prozeß wegen Mitgliedschaft in der RAF zu fünf Jahren verurteilt, im zweiten Prozeß 1979 aufgrund von Kronzeugenaussagen zu Lebenslänglich wegen der RAF-Aktion gegen das US-Hauptquartier in Frankfurt. – Ab 1976 war sie ebenfalls in Stammheim inhaftiert. Als einzige überlebte sie schwerverletzt die Todesnacht von Stammheim und bestreitet, daß es irgendwelche Absprachen für »Selbstmorde« unter den Gefangenen gegeben und sie sich die Verletzungen selbst zugefügt hat. Irmgard Möller wurde 1995 entlassen.

10 Tupamaros – Movimiento de Liberacion Nacional Tupamaros (MLN-T). Stadtguerillabewegung in Uruguay ab 1963 bis zur Zerschlagung 1972/73 nach einem Militärputsch. – Nach dem Ende der Diktatur 1985 wurden durch starke Mobilisierungen der Bevölkerung, alle politischen Gefangenen freigelassen. Die Ex-Tupamaros gründeten nach intensiven Diskussionen eine politische Partei und sind heute stärkste Fraktion des Linksbündnisses »Frente Amplio«.

11 Action Directe (AD) – eine seit 1979 aktive kommunistische Guerillabewegung in Frankreich, die ab Mitte der 80er Jahre eng mit der RAF zusammenarbeitete (ausführlich: www.action-directe.net). – Ehemalige Aktivisten der AD sind seit über 20 Jahren inhaftiert: Régis Schleicher, Georges Cipriani, Nathalie Ménigon und Jean-Marc Rouillan.

12 Am 27. Juni 1976 wurde ein Air-France-Verkehrsflugzeug mit 250 Passagieren an Bord durch ein palästinensisches Kommando und Mitglieder der Revolutionären Zellen nach Entebbe/Uganda entführt. Das Kommando selektierte die etwa 100 israelischen Staatsangehörigen und ließ die nicht-jüdischen Passagiere frei. Die Aktion, mit der 53 politische Gefangene aus verschiedenen Ländern freigepreßt werden sollten, scheiterte. Eine israelische Spezialeinheit befreite die Geiseln und erschoß alle Kommandomitglieder.

13 Siegfried Hausner (geb. 1952) war Mitglied des »Kommando Holger Meins«, das am 24.4.1975 die deutsche Botschaft in Stockholm besetzte, um RAF-Gefangene zu befreien. Bei der Erstürmung der Botschaft durch die Polizei (auch eine deutsche Spezialeinheit war dabei), wurde Siegfried Hausner lebensgefährlich verletzt, gegen ärztlichen Rat in die BRD ausgeflogen – und nicht in ein Krankenhaus gebracht, sondern nach Stammheim. Er starb dort am 5.5.1975.

14 Jürgen Ponto,Vorstandsvorsit-zender der Dresdner Bank, sollte am 30.7.1977 entführt werden. Durch seine massive Gegenwehr geriet die Situation außer Kontrolle. Ponto wurde erschossen.

15 »Furchtbar ist es, zu töten / Aber nicht andere nur, auch uns töten wir / wenn es nottut / da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist / Wie jeder Lebende weiß« (Bertolt Brecht, »Die Maßnahme«, 1930)

16 Wolfgang Grams (geb. 1953), RAF-Mitglied seit Mitte der 80er Jahre. Bei einer GSG-9-Aktion in Bad Kleinen im Juni 1993 erschossen. – Birgit Hogefeld (geb. 1956), ebenfalls seit Mitte der 80er in der RAF, wurde in Bad Kleinen verhaftet und 1996 zu Lebenslänglich verurteilt, u.a. wegen der RAF-Aktion gegen die US-Rhein-Main-Airbase. Inhaftiert in der JVA Frankfurt-Preungesheim.

17 Kill-Fahndung gegen RAF-Aktivisten: Am 6.9.1978 wurde Willi Peter Stoll (geb.1950) in einem Chinarestaurant in Düsseldorf, am 4.5.1978 Elisabeth von Dyck (geb. 1951) beim Betreten einer Wohnung in Nürnberg erschossen; beide waren allein und hatten ihre Waffe nicht gezogen.– Rolf Heißler (geb. 1948) wurde am 9.6.1979 in Frankfurt/Main ebenfalls beim Betreten einer Wohnung in den Kopf geschossen und überlebte nur knapp; auch er war allein und hatte seine Waffe nicht in der Hand.

18 Horst Mahler (geb. 1936), gehörte zu den ersten RAF-Angehörigen, wurde 1970 verhaftet und 1973 vom Kollektiv wegen politischer Widersprüche aus der RAF ausgeschlossen. Er wurde dann KPD(AO)-Mitglied, später Neonazi und ist seit 2000 Mitglied der NPD. – Peter-Jürgen Boock (geb. 1951), RAF-Mitglied von 1976 bis 1980. (Siehe www.anderslautern.de – Texte von RAF-Gefangenen, »Boocks Lügen«, 1988).

19 Ende der siebziger Jahre kam es zur freundschaftlichen Trennung von zehn Aktivisten von der RAF, 1982 folgten zwei weitere. Für sie wurde das Exil in der DDR organisiert, um einer Verhaftung zu entgehen, die garantiert zu Lebenslänglich-Urteilen geführt hätte. Nach dem Anschluß der DDR an die BRD wurden alle verhaftet, die meisten stellten sich als Kronzeugen gegen ihre ehemaligen Genossinnen und Genossen sowie gegen Angehörige des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zur Verfügung, was zu zahlreichen (neuen) Anklagen und Verurteilungen führte.

20 Peter Urbach war ab den sechziger Jahren Mitarbeiter des Verfassungsschutzes (VS) und als agent provocateur in der Studentenbewegung eingesetzt, verteilte Molotowcocktails und Waffen. – Klaus Steinmetz, Aktivist der autonomen und antiimperialistischen Szene, arbeitete seit Anfang der achtziger Jahre für den VS und wurde gezielt eingesetzt, um in Kontakt zur RAF zu kommen, was auch gelang.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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