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Aus: literatur, Beilage der jW vom 12.12.2007

Vom Boden gehoben

Wilde Frauen und wilde Tiere: Stephanie Haerdle versammelt die Biographien von Artistinnen aus der Glanzzeit des Zirkus in einem liebevoll gestalteten Band
Von Grit Lemke
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Stephanie Haerdle: Keine Angst haben, das ist unser Beruf! Kunstreiterinnen, Dompteusen und andere Zirkusartistinnen. Aviva Verlag, Berlin 2007, 210 Seiten, 24,50 Euro

Leokadia, die Perle der Kunst«, »Madame Athleta, die stärkste Frau der Welt«, »Miss Aimée, die menschliche Fliege« oder »Miss Alexime, La Femme Projectile« – sie waren die ersten Superstars: Akrobatinnen, Kunstreiterinnen, Kraftfrauen, Dompteusen, Artistinnen. Hinzu kommen Scharen von Ballett- und Chormädchen, Statistinnen und Helferinnen im Hintergrund, ohne die der Zirkus nicht zu jenem exorbitanten Ereignis hätte werden können, das er bis zum Zweiten Weltkrieg war. Ganz zu schweigen von den Direktorinnen, die teilweise riesige Wirtschaftsunternehmen mit Tausenden Angestellten sowie Massen von wertvollen Tieren und beweglichem Inventar durch Krisenzeiten führten.

In »Keine Angst haben, das ist unser Beruf!« setzt Stephanie Haerdle ihnen mit erstmals versammelten Biographien von den 1830er Jahren bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wohlverdientes und angemessen schillerndes Denkmal.

Naturgemäß sind es die »großen Nummern«, die skandalumwitterten Diven oder mächtigen Prinzipalinnen, deren Lebensgeschichten überliefert sind. Darin liegt – zumindest unter kommerziellem Aspekt – einer der Vorteile des Buches, das man noch dem dickfelligsten Muffelmacho unbesorgt auf den Gabentisch packen kann: Es strotzt nur so von Sex&Blood, von Absurditäten, Lovestories, Tragödien und Thrill jeder erdenklichen Art. Kaum ein Buch der Frauenforschung dürfte sich beim Lesen so vergnügt wegschnurpsen, die historischen Aufnahmen der Artistinnen in ihren putzigen Kostümen tun ein Übriges. Ein weiterer Vorteil ist, daß Haerdle ihre vielfältigen Quellen nicht nur genau benennt und historisch einordnet, sondern unter der glitzernden Oberfläche die Substanz sucht, weiblichen Alltag jenseits medial kolportierter Klatschanekdoten.

Ausgangspunkt ist die These, daß der Zirkus sich per definitionem außerhalb der Normalität befinde. Eine »verkehrte Welt«, in der sich traditionelle Geschlechterrollen auflösten und alternative Arbeits-, Lebens- und Liebesformen gelebt werden konnten. Zirkusfrauen entwickeln ein neues Verhältnis zu ihrem Körper, den sie trainieren und präsentieren, sie leben eine ungehinderte Mobilität, müssen nicht zwangsläufig die Rolle der Gattin, Hausfrau und Mutter einnehmen, verdienen eigenes Geld, sind selbstbestimmt und frei (auch mit Frauen). Statt sich in Schamhaftigkeit, Demut, Zurückhaltung und Bescheidenheit zu üben, glänzen sie mit Eigenschaften wie Stärke, Leistung, Ehrgeiz und Macht, die sonst nur Männern zugeschrieben werden. Sie machen sich Pferd und Raubtier, später Fahrrad und Auto – allesamt Symbole der Männlichtkeit - untertan. »Männer werden über dem Kopf gehalten, in die Luft geschleudert, auf Stühlen, Leitern oder Brettern, zwei, drei, vier, sieben, nebeneinander sitzend, vom Boden gehoben.« Dennoch erfahren die Artistinnen nicht Stigmatisierung, sondern grenzenlose Verehrung, nach Haerdle ein in der Geschichte des 19. Jahrhunderts einzigartiges antibürgerliches Modell. In ihren gründlichen historischen Recherchen fördert sie jedoch auch die Kehrseite der Medaille zutage: die ständige Nähe zum Tod, der sichere sozialen Abstieg im Fall eines Unglücks, wie zahllose Beispiele belegen. Ein ­schier unglaubliches Arbeitspensum gerade in den unteren Chargen. Innerhalb der traditionellen Zirkusfamilie eine dann doch wieder »klassische« Rollenverteilung, die Haushalt und Kinderaufzucht vollständig der Frau überläßt – neben ihren künstlerischen und administrativen Aufgaben selbstverständlich. Knebelverträge, Rechtlosigkeit, strenge Hierarchien und vollständige Abhängigkeit von (meist männlichen) Impressarios und Direktoren.

Die Biographien bewegen. Da sind die Kunstreiterinnen, die das erotische Ideal ihrer Zeit verkörperten und durch die richtige Heirat zu beispiellosem sozialen Aufstieg gelangen konnten. Ihr Kultstatus war so unangefochten, daß immer wieder Männer ihre Rolle annahmen wie die »falsche Miss Ella«. Ähnlichen Ruhm erlangten Raubtierdompteusen wie die Hallenserin Claire Heliot, die mit ihren Löwen das Bild der bürgerlichen Familie zelebrierte, von Königen und Künstlern umschwärmt war, aber verarmt in einem Altersheim starb. Von ihr ist der Satz überliefert: »Ich habe einen viel zu starken Willen, um mich einem Mann unterzuordnen«. Auch die »Kindfrau« Tilly Bébé zog die Gesellschaft von Tieren der eines Mannes zeitlebens vor. Neben einer großen körperlichen Nähe zu den Tieren ist von ihr überliefert, daß sie stolze 120 Zigaretten täglich rauchte.

Legendär auch die Kraftfrau »Käthchen« Brumbach, die alle männlichen Athleten ihrer Zeit in den Schatten stellte, sich aber zugleich stets als treu sorgende Mutter und »Seele von Mensch« beweisen mußte. Als solche beförderte sie einen Mann, der sie auf der Straße ansprach, per Ohrfeige kurzerhand in ein Schaufenster – auf der anderen Straßenseite.

Waren die »klassischen« Zirkusfrauen noch Allroundtalente – von der Primaballerina des Wasserballetts Minna Schulze ist bekannt, daß sie sich auch als Pferdeartistin, im Fechten, Schwertkampf, Pauken- und Trompetenspiel und Rollschuhlaufen betätigen mußte –, so änderte sich dies mit dem Aufkommen der Sensationsartistik um die Jahrhundertwende. Hier ging es um Technik, Erfindungen, komplizierte Apparaturen, hohe Geschwindigkeiten und den freien Fall, etwa bei Loopings mit dem Fahrrad oder Auto unter der Zirkuskuppel. Nie konnten auch Frauen allein mit Mut und Ehrgeiz schneller an die Spitze und zu großem Reichtum gelangen, nie war die reale Todesgefahr größer.

Während die Namen der »großen Nummern« in fetten Lettern auf Plakaten erschienen, war es das Schicksal der Direktorengattinnen, bis zu deren Tod im Schatten ihrer Männer zu stehen. So war es Constance Busch, die dem gleichnamigen Zirkus mit seiner festen Spielstätte am Berliner Lustgarten zu legendärem Ruhm verhalf, indem sie ständig neue »Zirkuspantomimen« konzipierte, schrieb und inszenierte. Diese bombastischen Spektakel stellten mit einem unglaublichen Aufwand von Technik, Mensch und Material meist historische Ereignisse nach und wurden zur wichtigsten Volksbildungsstätte. In den Programmheften aber wurde nicht die Autorin, sondern ihr Mann genannt – welcher auch vom Kaiser persönlich honoriert wurde. Letzteres erwähnt Haerdle ausschließlich als Indiz für den Boom des Zirkus – im Hinblick auf den Geschlechteraspekt ist ihr dieser Umstand leider keiner Betrachtung wert.

Hierin schließlich zeigt sich auch das große Manko ihrer Arbeit, die eine schöne, lebendige Materialsammlung darstellt – aber mehr eben nicht. Die Begriffe Männlichkeit und Weiblichkeit werden eher unreflektiert verwendet – als wären sie nicht gesellschaftlich konstruiert und historisch variabel. Haerdle hantiert mit Stereotypen, die historisch dem Bürgertum des späten 18. und 19. Jahrhunderts zuzuordnen sind und auch im Untersuchungszeitraum einem Wandel unterliegen. Darauf verweisen allein die verschiedenen Inszenierungen von Weiblichkeit, die Haerdle beschreibt, aber nicht interpretiert. Daß zudem Geschlechteridentität von Klassenzugehörigkeit nicht zu trennen ist, haben u.a. die Forschungen von Ute Frevert eindrucksvoll gezeigt. Abgesehen von den Sprößlingen alter Zirkusfamilien stammten alle Frauen, deren Biographien Haerdle erzählt, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Was das impliziert, bleibt so außen vor wie jeglicher zeitgeschichtlicher Background, vor dem man den Zirkus als massenkulturelles Phänomen auch im Hinblick auf die Geschlechterproblematik besser hätte einordnen können. Gleiches gilt für die Frage, was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn ihre Normen in einer kulturellen Praxis scheinbar auf den Kopf gestellt werden. In der amerikanischen Kulturanthropologie gibt es seit langem Überlegungen, die dies als stabilisierend für eben jene Normen ansehen – eine Antistruktur, die die Struktur erneuert und nicht schwächt. So erklärte sich auch Haerdles Betrachtung, daß Leben und Wirken der Zirkusfrauen die herrschenden Geschlechterverhältnisse nicht revolutionierten. Ebenso wie der Zirkus ganz und gar nicht die einzige Berufswelt ist, »in der die Frau so früh und gleichberechtigt ihren Platz an der Seite des Mannes eingenommen hat«. Anke Meier-Graefe u.a. haben gezeigt, wie Frauen seit dem Mittelalter gezielt aus der Berufswelt und der Geschichtsschreibung verdrängt wurden. Dies zu ignorieren heißt schon fast mit der Zunge des Feindes zu sprechen.

Davon abgesehen verkündet das Buch dennoch eine frohe Botschaft: Männerschleudern kann man lernen! Schwestern, die sich die Finger nicht schmutzig machen möchten, halten sich an das Lebensmotto der »Wasserminna«: »Lebe gefährlich und trinke eeen Schlück.«

Die Abbildungen in dieser Beilage stammen aus Stephanie Haerdles Buch und erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Aviva Verlags.

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