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Aus: behindertenpolitik, Beilage der jW vom 09.07.2008

Die Systemfrage stellen

Behindertenpolitik muß an die gesellschaftlichen Wurzeln gehen
Von Michael Zander
Bild 1

Eine Behindertenpolitik, die diesen Namen verdient, ist notwendigerweise entschieden links. Wer mehr will, als einigen wenigen bessere Startbedingungen in der kapitalistischen Konkurrenz zu verschaffen, fordert ein ganzes politisches und ökonomisches System heraus, zu dessen Geschäftsbedingungen Ausbeutung, Herrschaft und soziale Ungleichheit gehören. Und die Hüter dieser »Ordnung« heißen nicht umsonst »die Reaktion«: Die Beispiele Venezuelas und Boliviens zeigen eindrücklich, wie erbittert der Widerstand der konservativen Opposition gegen die Selbstbefreiung der Unterdrückten sein kann. Die Arbeit der Behindertenbewegung mit und in der Linken kann in entsprechenden Konfliktsituationen nicht ohne Spannungen und Rückschläge vorgehen. So überrascht es nicht, daß etwa der bolivianische Behindertenbund ­COBOPDI und die Regierung Evo Morales über das Ausmaß streiten, in dem die öffentlichen Beihilfen erhöht werden sollen. Der kühne Versuch der venezolanischen Regierung, Räte verschiedener sozialer Gruppen, darunter auch »Räte behinderter Personen«, als Organe der »Poder Popular« (»Volksmacht«) einzurichten, ist mit der knappen Ablehnung des Verfassungsentwurfs im Referendum vom August 2007 vorerst gescheitert. Emanzipation vollzieht sich in Widersprüchen. Die Linke dieser Länder muß sich wahrscheinlich vorerst darauf beschränken, Mindeststandards durchzusetzen, was ihre bürgerlichen Vorgängerregierungen jahrzehntelang versäumten. Dabei sind sie aufgrund relativ niedriger Produktivität infolge eines Ungleichheit erzeugenden Weltwirtschaftssystems mit besonders harten Bedingungen konfrontiert. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – schon der Name ist Ideologie – zählt die BRD in einem Strategiepapier (»Behinderung und Entwicklung«, 2006) zu den »internationalen Gebern«; es rühmt sich, mit Hilfe von Weltbank und IWF ihre »Partner« – gemeint sind Länder des Trikonts – »aktiv dabei zu unterstützen, Menschen mit Behinderung verstärkt (...) einzubeziehen und ihre Belange (...) mehr als bisher zu berücksichtigen«. Von einem deutschen Ministerium kann man nicht erwarten, selbst die bittere Wahrheit auszusprechen, daß »Partner« nur die politisch opportun regierten Länder sind, daß sich die zweifelhafte »Geberposition« einer stürzenswerten ökonomischen Unordnung verdankt und daß im eigenen Land die Grundrechte vieler Behinderter mit Füßen getreten werden. Makaber ist der Verweis auf ein vom Bund gefördertes medizinisches Projekt in Afghanistan. »Als Folge der gewalttätigen Auseinandersetzungen«, heißt es, »sind Körperbehinderungen ein gravierendes Problem, aber auch psychische Traumata (...)«. Die BRD pflegt ihr Image durch Hilfe bei Problemen, die sie als Kriegspartei mitverursacht hat.

Sogenannte Minderheitenfragen sind oft Systemfragen, aber Systemfragen sind immer auch Minderheitenfragen. Der altehrwürdige Hauptwiderspruch besteht aus lauter Nebenwidersprüchen. Die meist lohnabhängigen Subjekte, die den Kapitalismus überwinden werden, haben ein Geschlecht, eine Hautfarbe und eine sexuelle Orientierung, sie migrieren, und ihr Leben ist sowohl von der Qualität von Lebensmitteln beeinflußt als auch von der des Klimas. Sie sind Leute wie du und ich, nämlich Spastiker, Querschnittsgelähmte, Einarmige, Muskelkranke, Menschen mit Lernschwierigkeiten und und und.


Zu den Abbildungen dieser Beilage: Die Fotos geben Eindrücke von der Arbeit mit körperlich und geistig beeinträchtigten Kindern in Kuba. Die Aufnahmen von Javier Galeano (AP) entstanden in Havanna im Aqua­rium des Nationalen Zoos und am Zentrum »Dora Alonso«, das sich auf die Behandlung von Autismus spezialisiert hat.

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