Ein Glücksfall für die Bahn
Von Rainer BalcerowiakVor drei Jahren wäre wohl kein deutscher Verlag auf die Idee
gekommen, die Memoiren eines gewissen Manfred Schell zu
veröffentlichen. Auch wäre die altersbedingte Aufgabe
seines Amtes als Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher
Lokomotivführer (GDL) unter normalen Umständen nur dem
GDL-Organ Voraus eine längere Würdigung der Verdienste
des Neu-Pensionärs wert gewesen. Doch seit sich die zuvor nur
intimen Kennern der Bahn- und Gewerkschaftsszene bekannte GDL im
Jahr 2007 ernsthaft anschickte, den sozialpartnerschaftlichen
Konsens bei dem Exmonopolisten Deutsche Bahn AG aufzukündigen,
war nichts mehr normal.
»Manfred der Lokomotivführer« (Der Spiegel)
mutierte schlagartig zur allgemeinen Projektionsfläche.
Während die Bahn-Spitze und große Teile der
wirtschaftsnahen Presse ihn als Erpresser oder Totengräber des
Standorts Deutschlands schmähten und DGB-Funktionäre,
Sozialdemokraten bis hin zu Teilen der Linken mit
»Spalter«-Vorwürfen in die Bütt stiegen,
wurde er für viele Gewerkschafter und andere Freunde
selbstbewußter Lohnpolitik fast zur Ikone. Das sagt wenig
über Schell aus, aber sehr viel über den Zustand der
deutschen Gewerkschaften. Denn die von ihm geführte GDL, die
nicht dem DGB, sondern dem Beamtenbund angehört, hat lediglich
das praktiziert, wozu Gewerkschaften eigentlich da sind:
selbstbewußt und konsequent die materiellen Interessen der
eigenen Mitglieder vertreten und gleichzeitig bereit zu sein, den
Forderungen nach deutlichen Lohnerhöhungen und einem
eigenständigen Tarifvertrag durch ernstzunehmende Streiks
Nachdruck zu verleihen.
Bei einer Niederlage in der erbitterten Tarifauseinandersetzung,
die nicht nur gegen das Management der Bahn AG, sondern auch gegen
die Spitzen der anderen Bahn-Gewerkschaften Transnet und GDBA
geführt werden mußte, wäre Schell vermutlich zur
Lachnummer geworden und seine Gewerkschaft in der
Bedeutungslosigkeit versunken. Doch die GDL setzte sich weitgehend
durch, und Schell wurde zu einer Figur der Zeitgeschichte.
Für linken Heldenkult eignet sich der 1943 in Aachen geborene
Sohn eines Lokführers wahrlich nicht. Seit 1971 und bis zum
heutigen Tag ist der gelernte Maschinen- und Betriebsschlosser
Mitglied der CDU. Die Sozialdemokratie und die mit ihr eng
verbundene Bürokratenkaste der DGB-Gewerkschaften hat Schell
bereits in seiner Jugend als Hort der Kungelei und des Filzes
erlebt. Zunächst folgte er als Lehrling bei der Bundesbahn der
Empfehlung seines Vaters: »Geh in die GdED (heute Transnet),
dann hast du deine Ruhe«. Nach einigen unschönen
Erlebnissen mit den örtlichen Personalvertretern wechselte
Schell 1971 in die GDL, was bei den »Platzhirschen« der
DGB-Gewerkschaft gar nicht gut ankam. In seinem Buch erinnert er
sich an subtile Drohungen a la »Du willst doch mal die
Lokführerprüfung bestehen. Denk daran, wer im
Prüfungsausschuß sitzt«. Doch Schell biß
sich durch, arbeitete nach bestandener Prüfung zunächst
als Viehwagenreiniger und Heizer und wurde schließlich nach
seinem Grundwehrdienst bei der Bundeswehr ab 1964 als
Lokführer bei der Bundesbahn beschäftigt, seinerzeit noch
wie alle Mitarbeiter des Staatsmonopolisten mit
Beamtenstatus.
Eingebettet war dieser Werdegang in eine wohl recht typische Jugend
im katholischen Arbeitermilieu des Rheinlands, die in dem Buch
anekdotenreich geschildert wird. Schells Leben bewegte sich
seinerzeit zwischen Eckpfeilern wie Karneval, Kirmes und
Fußball, dazu kamen regelmäßig Backpfeifen im
Elternhaus. Später auch noch ein bißchen
Rock’n’Roll. Mit der studentischen Protestbewegung der
späten 60er konnte der Jungarbeiter wenig anfangen, die
Parolen erschienen ihm »zu radikal« oder auch
»lebensfremd«. Positiv erinnert er sich lediglich an
die »Rote Punkt«-Kampagne, als nach
Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr kostenlose
Mitfahrgelegenheiten organisiert wurden. Auch gesteht er der APO,
der außerparlamentarischen Opposition, durchaus zu,
»frischen Wind in die Gesellschaft gebracht zu haben«.
Seine politischen Vorbilder waren seinerzeit aber eher
christdemokratische Arbeiterfunktionäre wie Hans Katzer und
später Norbert Blüm. An der SPD störte ihn neben dem
hautnah erlebten Filz auch die Ostpolitik, die der glühende
Verfechter der »deutschen Einheit« stets als »zu
nachgiebig« gegenüber der UdSSR empfand.
Bei der GDL wurde Schell bald zum Aktivisten. Der von schlechter
Bezahlung und oft miserablen Arbeitsbedingungen geprägte
Alltag bestimmte sein Engagement. Er wurde Personalrat und erklomm
auch in der Gewerkschaftshierarchie eine Stufe nach der anderen.
»Frischen Wind« habe er in die eher betuliche
Organisation bringen wollen, die – obwohl 1867 als erste
deutsche Gewerkschaft gegründet – im
Nachkriegsdeutschland als nur beschränkt tariffähiger
Beamtenverein vor sich hin dümpelte. 1974 verließ Schell
dann den Lokführerstand und wechselte als hauptamtlicher
Funktionär in die GDL-Zentrale in Frankfurt am Main. 1983
wurde er in den geschäftsführenden Vorstand gewählt
und im Mai 1989 schließlich zum Bundesvorsitzenden.
Niemand ahnte seinerzeit, daß sich die Rolle der GDL wenige
Monate später durch die historischen Ereignisse in Deutschland
grundlegend verändern würde. Noch kurz vor dem
offiziellen »Beitritt« der Ost-Bundesländer in die
Bundesrepublik wurde die GDL am 24. Januar 1990 als erste
eigenständige Gewerkschaft in der DDR gegründet, wobei
Schell eine herausragende Rolle spielte. Die GdED hatte versucht,
den erodierten Apparat des FDGB im Handstreich zu übernehmen,
doch die Lokführer der Deutschen Reichsbahn spielten nicht
mit: Binnen weniger Monate organisierten sich rund 90 Prozent von
ihnen in der GDL der DDR, die ein Jahr später mit dem
West-Verband fusionierte. Auf einmal wurde die Organisation
tariffähig, da die Ostkollegen keinen Beamtenstatus erhielten.
Mit Verzögerung wurde diese Entwicklung durch die 1994 von
Bundestag und Bundesrat beschlossene Privatisierung der Bahn, also
ihre Umwandlung von einer Behörde in ein zwar im Staatsbesitz
befindliches, aber privatrechtliches Unternehmen, im Westen
nachvollzogen. Schell saß seinerzeit für zwei Jahre als
Nachrücker für die CDU Sachsen-Anhalt im Bundestag und
stimmte gemeinsam mit der PDS als einziger Abgeordneter der
Unionsfraktion gegen die Privatisierung.
Es sollte zwölf weitere Jahre dauern, bis sich die GDL aus der
»tödlichen Umarmung« (Schell) durch die
mittlerweile in Transnet umbenannte GdED befreien konnte, die
Tarifgemeinschaft aufkündigte und schließlich nach einem
langen, zähen Arbeitskampf und etlichen juristischen
Scharmützeln einen eigenständigen Tarifvertrag für
Lokführer und deutliche Gehaltserhöhungen erstritt.
Für seine wichtigsten Kontrahenten in diesem epochalen
Tarifkampf hat Schell wenig mehr als Verachtung übrig. Unter
Hartmut Mehdorns Führung seien die Bahn-Mitarbeiter »zu
reinen Kostenstellen degradiert worden«, auf Zusagen des
Vorstandschefs habe man sich »nicht verlassen
können.« Und der mittlerweile in den Bahn-Vorstand
gewechselte Ex-Transnet-Chef Norbert Hansen habe stets »zum
eigenen Vorteil mit der Arbeitgeberführung taktiert« und
als Chef der Tarifgemeinschaft jahrelange Reallohnsenkungen und
Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu verantworten.
Das gleichermaßen geradlinig wie unterhaltsam geschriebene
Buch endet mit einem Plädoyer Schells für eine
»ehrliche Verkehrs- und Gewerkschaftspolitik«. Auf
einer Präsentation Ende Februar in Berlin bekräftigte der
im Mai 2008 aus dem Amt geschiedene Gewerkschaftschef seine
Ablehnung eines Börsengangs der Bahn AG. Die Politik
müsse »endlich sagen, was für eine Bahn sie will;
eine für die Menschen oder eine für die
Aktionäre«. Lippenbekenntnisse zu mehr Verkehr auf der
Schiene seien das eine, Streckenstillegungen und fehlenden
Investitionen in das Netz das andere.
Aus dem operativen Geschäft hat sich Schell mittlerweile
verabschiedet. Seine Stimme wird er aber weiterhin hörbar
erheben, u.a. in seiner – ehrenamtlichen - Funktion als
Präsident der autonomen Lokführergewerkschaften Europas
(ALE). Den aktuellen Bespitzelungsskandal bei der Bahn betrachtet
er aus einer gewissen Distanz und sieht ihn als typisches Beispiel
für den Kontrollwahn Mehdorns. Wohl nicht ganz ernst gemeint,
würde Schell es als »Glücksfall für die
Bahn« ansehen, wenn er Mehdorns Nachfolge antreten
würde. Aber auch dann würde er so verfahren, wie bei
einem Tarifgespräch in der Bahn-Zentrale, wo er auf ein
frühes Ende drängte – um den Auftakt des Aachener
Karnevals nicht zu verpassen. Und natürlich würde er als
erste Amtshandlung »den Hansen aus dem Vorstand
kippen«. Das klingt alles arg menschelnd. Doch wer sich mit
Manfred Schell mal nach einem »offiziellen« Termin am
Tresen unterhalten hat, weiß, daß er es genauso
meint.
Manfred Schell: Die Lok zieht die Bahn. Rotbuch Verlag, Berlin
2009, 224 Seiten, 19,90 Euro
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