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Aus: literatur, Beilage der jW vom 12.03.2009

Ein Glücksfall für die Bahn

Als linke Ikone taugt Ex-GDL-Chef Manfred Schell kaum, doch als kämpferischer Gewerkschaftsführer hat er sich große Verdienste erworben
Von Rainer Balcerowiak
Comic »Che« von 1968 ist im Carlsen- Verlag neu erschienen und i
Comic »Che« von 1968 ist im Carlsen- Verlag neu erschienen und illustriert diese Beilage

Vor drei Jahren wäre wohl kein deutscher Verlag auf die Idee gekommen, die Memoiren eines gewissen Manfred Schell zu veröffentlichen. Auch wäre die altersbedingte Aufgabe seines Amtes als Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) unter normalen Umständen nur dem GDL-Organ Voraus eine längere Würdigung der Verdienste des Neu-Pensionärs wert gewesen. Doch seit sich die zuvor nur intimen Kennern der Bahn- und Gewerkschaftsszene bekannte GDL im Jahr 2007 ernsthaft anschickte, den sozialpartnerschaftlichen Konsens bei dem Exmonopolisten Deutsche Bahn AG aufzukündigen, war nichts mehr normal.

»Manfred der Lokomotivführer« (Der Spiegel) mutierte schlagartig zur allgemeinen Projektionsfläche. Während die Bahn-Spitze und große Teile der wirtschaftsnahen Presse ihn als Erpresser oder Totengräber des Standorts Deutschlands schmähten und DGB-Funktionäre, Sozialdemokraten bis hin zu Teilen der Linken mit »Spalter«-Vorwürfen in die Bütt stiegen, wurde er für viele Gewerkschafter und andere Freunde selbstbewußter Lohnpolitik fast zur Ikone. Das sagt wenig über Schell aus, aber sehr viel über den Zustand der deutschen Gewerkschaften. Denn die von ihm geführte GDL, die nicht dem DGB, sondern dem Beamtenbund angehört, hat lediglich das praktiziert, wozu Gewerkschaften eigentlich da sind: selbstbewußt und konsequent die materiellen Interessen der eigenen Mitglieder vertreten und gleichzeitig bereit zu sein, den Forderungen nach deutlichen Lohnerhöhungen und einem eigenständigen Tarifvertrag durch ernstzunehmende Streiks Nachdruck zu verleihen.

Bei einer Niederlage in der erbitterten Tarifauseinandersetzung, die nicht nur gegen das Management der Bahn AG, sondern auch gegen die Spitzen der anderen Bahn-Gewerkschaften Transnet und GDBA geführt werden mußte, wäre Schell vermutlich zur Lachnummer geworden und seine Gewerkschaft in der Bedeutungslosigkeit versunken. Doch die GDL setzte sich weitgehend durch, und Schell wurde zu einer Figur der Zeitgeschichte.

Für linken Heldenkult eignet sich der 1943 in Aachen geborene Sohn eines Lokführers wahrlich nicht. Seit 1971 und bis zum heutigen Tag ist der gelernte Maschinen- und Betriebsschlosser Mitglied der CDU. Die Sozialdemokratie und die mit ihr eng verbundene Bürokratenkaste der DGB-Gewerkschaften hat Schell bereits in seiner Jugend als Hort der Kungelei und des Filzes erlebt. Zunächst folgte er als Lehrling bei der Bundesbahn der Empfehlung seines Vaters: »Geh in die GdED (heute Transnet), dann hast du deine Ruhe«. Nach einigen unschönen Erlebnissen mit den örtlichen Personalvertretern wechselte Schell 1971 in die GDL, was bei den »Platzhirschen« der DGB-Gewerkschaft gar nicht gut ankam. In seinem Buch erinnert er sich an subtile Drohungen a la »Du willst doch mal die Lokführerprüfung bestehen. Denk daran, wer im Prüfungsausschuß sitzt«. Doch Schell biß sich durch, arbeitete nach bestandener Prüfung zunächst als Viehwagenreiniger und Heizer und wurde schließlich nach seinem Grundwehrdienst bei der Bundeswehr ab 1964 als Lokführer bei der Bundesbahn beschäftigt, seinerzeit noch wie alle Mitarbeiter des Staatsmonopolisten mit Beamtenstatus.

Eingebettet war dieser Werdegang in eine wohl recht typische Jugend im katholischen Arbeitermilieu des Rheinlands, die in dem Buch anekdotenreich geschildert wird. Schells Leben bewegte sich seinerzeit zwischen Eckpfeilern wie Karneval, Kirmes und Fußball, dazu kamen regelmäßig Backpfeifen im Elternhaus. Später auch noch ein bißchen Rock’n’Roll. Mit der studentischen Protestbewegung der späten 60er konnte der Jungarbeiter wenig anfangen, die Parolen erschienen ihm »zu radikal« oder auch »lebensfremd«. Positiv erinnert er sich lediglich an die »Rote Punkt«-Kampagne, als nach Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr kostenlose Mitfahrgelegenheiten organisiert wurden. Auch gesteht er der APO, der außerparlamentarischen Opposition, durchaus zu, »frischen Wind in die Gesellschaft gebracht zu haben«. Seine politischen Vorbilder waren seinerzeit aber eher christdemokratische Arbeiterfunktionäre wie Hans Katzer und später Norbert Blüm. An der SPD störte ihn neben dem hautnah erlebten Filz auch die Ostpolitik, die der glühende Verfechter der »deutschen Einheit« stets als »zu nachgiebig« gegenüber der UdSSR empfand.

Bei der GDL wurde Schell bald zum Aktivisten. Der von schlechter Bezahlung und oft miserablen Arbeitsbedingungen geprägte Alltag bestimmte sein Engagement. Er wurde Personalrat und erklomm auch in der Gewerkschaftshierarchie eine Stufe nach der anderen. »Frischen Wind« habe er in die eher betuliche Organisa­tion bringen wollen, die – obwohl 1867 als erste deutsche Gewerkschaft gegründet – im Nachkriegsdeutschland als nur beschränkt tariffähiger Beamtenverein vor sich hin dümpelte. 1974 verließ Schell dann den Lokführerstand und wechselte als hauptamtlicher Funktionär in die GDL-Zentrale in Frankfurt am Main. 1983 wurde er in den geschäftsführenden Vorstand gewählt und im Mai 1989 schließlich zum Bundesvorsitzenden.

Niemand ahnte seinerzeit, daß sich die Rolle der GDL wenige Monate später durch die historischen Ereignisse in Deutschland grundlegend verändern würde. Noch kurz vor dem offiziellen »Beitritt« der Ost-Bundesländer in die Bundesrepublik wurde die GDL am 24. Januar 1990 als erste eigenständige Gewerkschaft in der DDR gegründet, wobei Schell eine herausragende Rolle spielte. Die GdED hatte versucht, den erodierten Apparat des FDGB im Handstreich zu übernehmen, doch die Lokführer der Deutschen Reichsbahn spielten nicht mit: Binnen weniger Monate organisierten sich rund 90 Prozent von ihnen in der GDL der DDR, die ein Jahr später mit dem West-Verband fusionierte. Auf einmal wurde die Organisation tariffähig, da die Ostkollegen keinen Beamtenstatus erhielten. Mit Verzögerung wurde diese Entwicklung durch die 1994 von Bundestag und Bundesrat beschlossene Privatisierung der Bahn, also ihre Umwandlung von einer Behörde in ein zwar im Staatsbesitz befindliches, aber privatrechtliches Unternehmen, im Westen nachvollzogen. Schell saß seinerzeit für zwei Jahre als Nachrücker für die CDU Sachsen-Anhalt im Bundestag und stimmte gemeinsam mit der PDS als einziger Abgeordneter der Unionsfraktion gegen die Privatisierung.

Es sollte zwölf weitere Jahre dauern, bis sich die GDL aus der »tödlichen Umarmung« (Schell) durch die mittlerweile in Transnet umbenannte GdED befreien konnte, die Tarifgemeinschaft aufkündigte und schließlich nach einem langen, zähen Arbeitskampf und etlichen juristischen Scharmützeln einen eigenständigen Tarifvertrag für Lokführer und deutliche Gehaltserhöhungen erstritt.

Für seine wichtigsten Kontrahenten in diesem epochalen Tarifkampf hat Schell wenig mehr als Verachtung übrig. Unter Hartmut Mehdorns Führung seien die Bahn-Mitarbeiter »zu reinen Kostenstellen degradiert worden«, auf Zusagen des Vorstandschefs habe man sich »nicht verlassen können.« Und der mittlerweile in den Bahn-Vorstand gewechselte Ex-Transnet-Chef Norbert Hansen habe stets »zum eigenen Vorteil mit der Arbeitgeberführung taktiert« und als Chef der Tarifgemeinschaft jahrelange Reallohnsenkungen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zu verantworten.

Das gleichermaßen geradlinig wie unterhaltsam geschriebene Buch endet mit einem Plädoyer Schells für eine »ehrliche Verkehrs- und Gewerkschaftspolitik«. Auf einer Präsentation Ende Februar in Berlin bekräftigte der im Mai 2008 aus dem Amt geschiedene Gewerkschaftschef seine Ablehnung eines Börsengangs der Bahn AG. Die Politik müsse »endlich sagen, was für eine Bahn sie will; eine für die Menschen oder eine für die Aktionäre«. Lippenbekenntnisse zu mehr Verkehr auf der Schiene seien das eine, Streckenstillegungen und fehlenden Investitionen in das Netz das andere.

Aus dem operativen Geschäft hat sich Schell mittlerweile verabschiedet. Seine Stimme wird er aber weiterhin hörbar erheben, u.a. in seiner – ehrenamtlichen - Funktion als Präsident der autonomen Lokführergewerkschaften Europas (ALE). Den aktuellen Bespitzelungsskandal bei der Bahn betrachtet er aus einer gewissen Distanz und sieht ihn als typisches Beispiel für den Kontrollwahn Mehdorns. Wohl nicht ganz ernst gemeint, würde Schell es als »Glücksfall für die Bahn« ansehen, wenn er Mehdorns Nachfolge antreten würde. Aber auch dann würde er so verfahren, wie bei einem Tarifgespräch in der Bahn-Zentrale, wo er auf ein frühes Ende drängte – um den Auftakt des Aachener Karnevals nicht zu verpassen. Und natürlich würde er als erste Amtshandlung »den Hansen aus dem Vorstand kippen«. Das klingt alles arg menschelnd. Doch wer sich mit Manfred Schell mal nach einem »offiziellen« Termin am Tresen unterhalten hat, weiß, daß er es genauso meint.


Manfred Schell: Die Lok zieht die Bahn. Rotbuch Verlag, Berlin 2009, 224 Seiten, 19,90 Euro

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