Ganz und gar bei Sinnen
Von Arnold SchölzelAm 3. Oktober 2009, dem »Tag der Deutschen Einheit«,
bauten sich auf dem Berliner Alexanderplatz einige junge
Männer vor einem großen Bild des Brandenburger Tores
auf, das zu der Ausstellung »Wir sind das Volk«
gehört. Sie reckten die rechten Arme zum Hitlergruß
hoch, ließen sich so fotografieren und verschwanden nach
geraumer Zeit unbehelligt in der Menge.
Zwei Tage später berichtete der Erziehungswissenschaftler
Benjamin Ortmeyer in der tageszeitung über eine Kontroverse in
Jena. Dort wurde 1991 der Karl-Marx-Platz in Peter-Petersen-Platz
umbenannt. Peter Petersen galt als »Vater der
Reformpädagogik in Deutschland«. Daß er Autor
zahlreicher Nazischriften war, wurde »als Bagatelle
abgetan« (Ortmeyer). Immerhin hielt der Herr z. B. 1944 im KZ
Buchenwald Vorträge vor inhaftierten norwegischen Studenten.
Sie sollten zum Eintritt in die Waffen-SS bewogen werden.
Die Umbenennerei von Straßen, Plätzen,
Kindergärten, Schulen und Kasernen oder das öffentliche
Auftreten von Neonazis sind nicht entscheidende Aspekte des
DDR-Anschlusses von 1990. Die Herbeiführung eines Zustandes,
in dem von deutschem Boden kein Frieden mehr ausgeht, sondern mehr
und mehr Krieg, oder die Einführung von
Massenarbeitslosigkeit, Niedriglöhnen und Strafrenten waren
bewußt herbeigeführte, wesentliche Ziele der
Einverleibung des kleineren deutschen Staates. Was die Absicht zu
Krieg angeht, geben die Verteidigungspolitischen Richtlinien von
1992 deutliche Auskunft; was die Ökonomie betrifft,
genügt es, auf jüngst veröffentlichte Resultate des
»Aufschwung Ost«, der offiziell kaum noch so
heißt, zu verweisen: In Mecklenburg-Vorpommern wächst
jedes dritte Kind in Armut auf, der Abwanderungssaldo ist wieder
gestiegen, der Anteil der Hartz-IV-Betroffenen und
Niedriglöhner liegt weit über dem Westdeutschlands.
Zwischen Deutschtümelei und Anti-DDR-Kampagnen schwankt der
verordnete Emotionalismus, der im Osten nur wenig bewirkt
außer Langeweile und im Westen seine besten Tage auch hinter
zu haben scheint. Krise des Kapitals und antisozialistische
Propaganda wirken zusammen nicht besonders überzeugend. Die
Leier von den »Hinrichtungskellern« (Die Welt) des
Regimes, das Geschwätz vom »historischen
Verbrechen« (FAZ), das die DDR dargestellt habe, prägt
allerdings den Unterricht in Schulen und Hochschulen.
Eine Begleiterscheinung und Folge dieser nun 20 Jahre andauernden
Hysterisierung der DDR-Geschichte sind auch die Benennung von
öffentlichen Orten nach verdienten Nazis,
Wehrmachtgenerälen oder wenigstens deutschen
Fürstenhäusern und das offene Auftreten von Neonazis. Sie
können sich in wohlfühlen. Wer nach Alexander Puschkin
benannte Schulen wegen »Unbekanntheit« des Namensgebers
umtauft oder z. B. die Ostberliner Heinrich-Heine-Schule in ein
Devotionalienkabinett für die preußische
Königin Luise verwandelt, schafft jenes Milieu, in dem sich
der braune Mob willkommen fühlt. Wer gemeinsam mit Bild und
BND auf »Stasi«-Jagd geht und das als Eintreten
für Bürgerrechte und Demokratie verkauft, dem ist –
wie die Erfahrung beweist – jedes Mittel recht, das der
vermeintlichen Ausmerzung der DDR dient.
Geistige Verwirrung, politische Resignation und Irrationalismus
sind Programm dieser Gesellschaft. Mit einem Land, das »ganz
und gar bei Sinnen« war, wie Peter Hacks es ausdrückte,
kann sie nichts anfangen. Argumente hat sie nicht, hören und
sehen will sie nicht. Daß Vernunft in der DDR war, beweist
das Geschrei täglich neu.
Die Illustrationen dieser Beilage entnahmen wir dem Buch von Constanze Treuber: So haben wir uns eingerichtet. Das DDR-Zuhause-Buch. Wir danken dem Eulenspiegel Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.
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