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Aus: film, Beilage der jW vom 10.02.2010

Aus dem Fenster rufen

Erfahrungen machen: Die Berlinale-Sektion »Generationen« will Kinder, Jugendliche und Erwachsene nicht unterfordern
Von Tina Heldt
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»Man kann eigentlich keine Sache schildern, die man nur sieht und von der man nichts weiß. Nicht immer braucht man das davon zu wissen, was die Fachleute wissen. Der Maler, der einen Apfelbaum malt, braucht zum Beispiel nicht zu wissen, welche Sorte Äpfel drauf wächst. Dafür weiß er dann eben, wie das Licht durch die verschiedenen Arten von Blättern hindurchfällt. Wie ein Baum zu den verschiedenen Tagszeiten sein Aussehen verändert. Das sieht man zwar auch, sieht es aber nur, wenn man Erfahrung hat, also schon früher manches und mit Verstand gesehen hat.«

Walter Benjamin, »Aufklärung für Kinder«

Walter Benjamin wollte mit diesem Beispiel erklären, warum man in Fontanes Texten oft nur wenige Schilderungen findet, aber umso mehr vermitteltes Wissen. Und darum geht es halt oft. Im Kino sowieso: Nicht immer weiß man, was man sieht, aber man sieht nur, was man weiß. Erfahrungen machen bedeutet also, hin und wieder mit Verstand gesehen zu haben.

Eine »Schule des Sehens« wurde die Berlinale-Sektion »Generationen« im »Deutschlandradio Kultur« genannt. Das ist bestimmt nicht falsch. Auch wurde darauf hingewiesen, daß die dort gezeigten Filme oft genug »starker Tobak« seien. Man kann es so sehen. Mitunter finden betuliche Kulturmenschen es wohl bedenklich, Teenager mit Politik, Sex, Gewalt, aktueller Mode und aktueller Popmusik zu konfrontieren. Aber das sind die Dinge, mit denen sie ohnehin leben. Wie natürlich jedermann sonst auch.

Jahr für Jahr ist das »Generationen«-Programm exzellent. Schon lange ist es kein Geheimtip mehr, daß »Generationen« sehr sorgfältig kuratiert ist. Unterfordert wird das Zielpublikum der Kinder und Jugendlichen in keinem Fall, denn unterfordert wird überhaupt niemand.

Besitzt ein durchschnittlicher 14jähriger zum Beispiel das vorausgesetzte Wissen, um den argentinischen Film »Te Extrano« von Fabián Hofman genau zu verstehen (was immer das heißen mag)? Es geht um einen Jungen, dessen älterer Bruder als Mitglied einer linksradikalen Guerilla während des Militärputsches in Buenos Aires im März 1976 vermutlich ums Leben kommt (er gehört zu den »Vermißten«). Ich habe nach einer Vorführung des Films professionelle Kritiker getroffen, die scheinbar gar nichts davon verstanden hatten, wovon in dem Film direkt und indirekt die Rede ist – der Putsch, die soziopathischen Auswüchse in linksradikalen Gruppen, das Gefühl ständigen Exils über mehrere Generationen in einer Familie mit osteuropäisch-jüdischen Ursprüngen… Aber darum geht es gerade: daß man in guten Filmen entweder recht spezielle, nicht zuletzt auch politische Erfahrungen, die historisch, regional oder sonstwie verschüttet bzw. verdrängt wurden, wieder neu erfahrbar macht.

Um erste Erfahrungen geht es oft in den »14plus«-Filmen, sehr oft auch um sexuelle Erfahrungen. Wie der Held des Films »Youth in Revolt« (Miguel Arteta), ein US-Indie-Star-Vehikel und ein gutes dazu, von seinem imaginären alter ego gesagt bekommt: »Wenn du als Jungfrau in den Knast gehst, dann bin ich auf keinen Fall mehr dabei.« Und der Film handelt davon, daß dieser Held einiges tut, das ihn in den Knast bringen könnte, nur um diese lästige Jungfräulichkeit zu verlieren. Dieser Film spielt auf vieles an, von Godard bis Otto Preminger. Aber er wird immer auch auf der Ebene der sinnlichen Unmittelbarkeit eines coolen Witzes funktionieren können. »Wie kannst du dran zweifeln, daß ich dich liebe. Schließlich hab’ ich nur für dich halb Berkeley niedergebrannt.«

Der in einer fast schon mondänen Pariser Atmosphäre – die »richtigen« Schulen, die »richtige« Kleidung und die »richtige« Musik; eine forcierte Hipness, die schon fast nervt – spielende Film »Les Nuits de Sister Welsh« (Jean-Claude Janer) handelt ebenfalls vom Imaginären eines aufsässigen Teenagers, diesmal einer jungen Frau. Und auch er ist sehr literarisch. Die Phantasien bestehen nämlich aus Parodien von typischen Elementen des Abenteuer- und Porno- Genres der Literatur des 18.Jahrhunderts oder der englischen Romantik. Aber auch da finden sich selbstverständlich Zugänge über sinnliche Unmittelbarkeit. In der Schönheit der Schlußeinstellung zum Beispiel. Wenn das Mädchen seinem wirklich schwer eroberten Freund nach einem kurzen Zögern, einem Zögern, das vielleicht schon eine kleine Tragödie impliziert, kurz aus dem Fenster zuruft, »Ich komme gleich runter«. Und dann eben als Schlußbild so am Fenster stehenbleibt.

Im Gegensatz zur sonstigen Berlinale ist die »Generationen«-Sektion auch an ihren konkreten Orten sehr angenehm. Sturzbetrunkene Filmhändler und larmoyante Journalisten, die gerade von den knapp bemessenen Freßtrögen weggedrängelt wurden, trifft man hier doch eher selten.

Und wenn von konkreten Orten die Rede ist: Mit dem Dokumentarfilm »Neukölln Unlimited« (Agostino Imondi, Dietmar Ratsch) über eine libanesische Familie mit Duldungsstatus, in der die drei ältesten Kinder einer alleinerziehenden Mutter als professionelle Breakdancer arbeiten, beteiligt sich »Generationen« auch an der neuen »Berlinale Goes Kiez«-Reihe. Und trägt diesen Film dorthin, wo er größtenteils spielt und gedreht wurde. Oder zumindest fast, drei Berliner U-Bahnstationen entfernt (vom S/U-Bahnhof Neukölln zum Hermannplatz ins Neue Off Kino).

»Te Extrano«, Regie: Fabián Hofman, Argentien 2010, 96 min, auf der Berlinale 13.2. 14.30 Uhr Babylon Mitte, 16.2. 16.30 CinemaxX 3, 21.2. 15.30 Uhr Cubix 8
»Les Nuits de Sister Welsh«, Regie: Jean-Claude Janer, Frankreich 2009, 78 min, auf der Berlinale 15.2. 17 Uhr Babylon Mitte, 17.2. 14.30 Uhr Babylon Mitte, 20.2. 16.30 Uhr CinemaxX3
»Youth in Revolt«, Regie: Miguel Arteta, USA 2009, 89 min, auf der Berlinale 15.2. 11.30 Uhr Babylon Mitte, 17.2. 15.30 Uhr Cubix 8, 18.2. 14.30 Uhr Babylon Mitte
»Neukölln Unlimited« (Foto), Regie: Agostino Imondi, Dietmar Ratsch, Deutschland 2010, 96 min, auf der Berlinale 13.2. 11 Uhr Babylon Mitte, 15.2. 14.30 Uhr Babylon Mitte, 18.2. 11.30 Uhr Babylon Mitte

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