Aus dem Fenster rufen
Von Tina Heldt
»Man kann eigentlich keine Sache schildern, die man nur
sieht und von der man nichts weiß. Nicht immer braucht man
das davon zu wissen, was die Fachleute wissen. Der Maler, der einen
Apfelbaum malt, braucht zum Beispiel nicht zu wissen, welche Sorte
Äpfel drauf wächst. Dafür weiß er dann eben,
wie das Licht durch die verschiedenen Arten von Blättern
hindurchfällt. Wie ein Baum zu den verschiedenen Tagszeiten
sein Aussehen verändert. Das sieht man zwar auch, sieht es
aber nur, wenn man Erfahrung hat, also schon früher manches
und mit Verstand gesehen hat.«
Walter Benjamin, »Aufklärung für
Kinder«
Walter Benjamin wollte mit diesem Beispiel erklären, warum man
in Fontanes Texten oft nur wenige Schilderungen findet, aber umso
mehr vermitteltes Wissen. Und darum geht es halt oft. Im Kino
sowieso: Nicht immer weiß man, was man sieht, aber man sieht
nur, was man weiß. Erfahrungen machen bedeutet also, hin und
wieder mit Verstand gesehen zu haben.
Eine »Schule des Sehens« wurde die Berlinale-Sektion
»Generationen« im »Deutschlandradio Kultur«
genannt. Das ist bestimmt nicht falsch. Auch wurde darauf
hingewiesen, daß die dort gezeigten Filme oft genug
»starker Tobak« seien. Man kann es so sehen. Mitunter
finden betuliche Kulturmenschen es wohl bedenklich, Teenager mit
Politik, Sex, Gewalt, aktueller Mode und aktueller Popmusik zu
konfrontieren. Aber das sind die Dinge, mit denen sie ohnehin
leben. Wie natürlich jedermann sonst auch.
Jahr für Jahr ist das »Generationen«-Programm
exzellent. Schon lange ist es kein Geheimtip mehr, daß
»Generationen« sehr sorgfältig kuratiert ist.
Unterfordert wird das Zielpublikum der Kinder und Jugendlichen in
keinem Fall, denn unterfordert wird überhaupt niemand.
Besitzt ein durchschnittlicher 14jähriger zum Beispiel das
vorausgesetzte Wissen, um den argentinischen Film »Te
Extrano« von Fabián Hofman genau zu verstehen (was
immer das heißen mag)? Es geht um einen Jungen, dessen
älterer Bruder als Mitglied einer linksradikalen Guerilla
während des Militärputsches in Buenos Aires im März
1976 vermutlich ums Leben kommt (er gehört zu den
»Vermißten«). Ich habe nach einer Vorführung
des Films professionelle Kritiker getroffen, die scheinbar gar
nichts davon verstanden hatten, wovon in dem Film direkt und
indirekt die Rede ist – der Putsch, die soziopathischen
Auswüchse in linksradikalen Gruppen, das Gefühl
ständigen Exils über mehrere Generationen in einer
Familie mit osteuropäisch-jüdischen
Ursprüngen… Aber darum geht es gerade: daß man in
guten Filmen entweder recht spezielle, nicht zuletzt auch
politische Erfahrungen, die historisch, regional oder sonstwie
verschüttet bzw. verdrängt wurden, wieder neu erfahrbar
macht.
Um erste Erfahrungen geht es oft in den
»14plus«-Filmen, sehr oft auch um sexuelle Erfahrungen.
Wie der Held des Films »Youth in Revolt« (Miguel
Arteta), ein US-Indie-Star-Vehikel und ein gutes dazu, von seinem
imaginären alter ego gesagt bekommt: »Wenn du als
Jungfrau in den Knast gehst, dann bin ich auf keinen Fall mehr
dabei.« Und der Film handelt davon, daß dieser Held
einiges tut, das ihn in den Knast bringen könnte, nur um diese
lästige Jungfräulichkeit zu verlieren. Dieser Film spielt
auf vieles an, von Godard bis Otto Preminger. Aber er wird immer
auch auf der Ebene der sinnlichen Unmittelbarkeit eines coolen
Witzes funktionieren können. »Wie kannst du dran
zweifeln, daß ich dich liebe. Schließlich hab’
ich nur für dich halb Berkeley niedergebrannt.«
Der in einer fast schon mondänen Pariser Atmosphäre
– die »richtigen« Schulen, die
»richtige« Kleidung und die »richtige«
Musik; eine forcierte Hipness, die schon fast nervt –
spielende Film »Les Nuits de Sister Welsh« (Jean-Claude
Janer) handelt ebenfalls vom Imaginären eines aufsässigen
Teenagers, diesmal einer jungen Frau. Und auch er ist sehr
literarisch. Die Phantasien bestehen nämlich aus Parodien von
typischen Elementen des Abenteuer- und Porno- Genres der Literatur
des 18.Jahrhunderts oder der englischen Romantik. Aber auch da
finden sich selbstverständlich Zugänge über
sinnliche Unmittelbarkeit. In der Schönheit der
Schlußeinstellung zum Beispiel. Wenn das Mädchen seinem
wirklich schwer eroberten Freund nach einem kurzen Zögern,
einem Zögern, das vielleicht schon eine kleine Tragödie
impliziert, kurz aus dem Fenster zuruft, »Ich komme gleich
runter«. Und dann eben als Schlußbild so am Fenster
stehenbleibt.
Im Gegensatz zur sonstigen Berlinale ist die
»Generationen«-Sektion auch an ihren konkreten Orten
sehr angenehm. Sturzbetrunkene Filmhändler und larmoyante
Journalisten, die gerade von den knapp bemessenen
Freßtrögen weggedrängelt wurden, trifft man hier
doch eher selten.
Und wenn von konkreten Orten die Rede ist: Mit dem Dokumentarfilm
»Neukölln Unlimited« (Agostino Imondi, Dietmar
Ratsch) über eine libanesische Familie mit Duldungsstatus, in
der die drei ältesten Kinder einer alleinerziehenden Mutter
als professionelle Breakdancer arbeiten, beteiligt sich
»Generationen« auch an der neuen »Berlinale Goes
Kiez«-Reihe. Und trägt diesen Film dorthin, wo er
größtenteils spielt und gedreht wurde. Oder zumindest
fast, drei Berliner U-Bahnstationen entfernt (vom S/U-Bahnhof
Neukölln zum Hermannplatz ins Neue Off Kino).
»Te Extrano«, Regie: Fabián Hofman, Argentien 2010, 96 min, auf der Berlinale 13.2. 14.30 Uhr Babylon Mitte, 16.2. 16.30 CinemaxX 3, 21.2. 15.30 Uhr Cubix 8
»Les Nuits de Sister Welsh«, Regie: Jean-Claude Janer, Frankreich 2009, 78 min, auf der Berlinale 15.2. 17 Uhr Babylon Mitte, 17.2. 14.30 Uhr Babylon Mitte, 20.2. 16.30 Uhr CinemaxX3
»Youth in Revolt«, Regie: Miguel Arteta, USA 2009, 89 min, auf der Berlinale 15.2. 11.30 Uhr Babylon Mitte, 17.2. 15.30 Uhr Cubix 8, 18.2. 14.30 Uhr Babylon Mitte
»Neukölln Unlimited« (Foto), Regie: Agostino Imondi, Dietmar Ratsch, Deutschland 2010, 96 min, auf der Berlinale 13.2. 11 Uhr Babylon Mitte, 15.2. 14.30 Uhr Babylon Mitte, 18.2. 11.30 Uhr Babylon Mitte
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