Bescheidenheit am toten Punkt
Von Jörn BoeweAuf Betriebsräte ist Verlaß«, schwärmte
DGB-Vorstandsmitglied Dietmar Hexel kürzlich bei einem
Parlamentarischen Abend in Berlin. »Erst recht in der
Krise« zeige sich, »welche großartigen
Leistungen« sie »tagtäglich« erbringen.
» Als gewählte Belegschaftsvertreter kämpfen sie
nicht nur für ihre Kolleginnen und Kollegen und deren
Arbeitsplätze. Sie übernehmen auch für das
Unternehmen als Ganzes Verantwortung. Mancher Betrieb überlebt
nur, weil er einen engagierten Betriebsrat hat, der kreative
Lösungen entwickelt und unterstützt, um die Krise
durchzustehen.«
Nicht »nur« die Kollegen, sondern für »das
Ganze« Verantwortung zu übernehmen, ist keine Haltung,
die auf Hexels vorbildliche Betriebsräte beschränkt ist.
Im großen Maßstab ist es die Linie, auf die sich die
DGB-Gewerkschaften nach dem ersten Schock der 2008 ausgebrochenen
Finanz- und Wirtschaftskrise festgelegt haben: Da verzichtet die IG
Metall in einer Tarifrunde gleich ganz darauf, Forderungen
aufzustellen, denn »das, was unsere Mitglieder bewegt«,
erzählt Gewerkschaftschef Berthold Huber der
Wochenzeitung Die Zeit, »sind nun mal sichere
Arbeitsplätze«. Die Leiharbeiter sind in dieser Rechnung
schon abgeschrieben. In dem »neuen gesellschaftlichen
Bündnis«, das Huber in seinem jüngsten Buch
»Kurswechsel für Deutschland« einfordert, sind sie
offenbar nicht eingeschlossen.
In der Tat ist der Generalangriff auf die arbeitende Klasse im Zuge
der Krise in der Bundesrepublik Deutschland bislang ausgeblieben.
Dies war einerseits möglich, weil die deutsche Volkswirtschaft
genug Ressourcen angehäuft hat, um sich solchen Luxus wie die
Abwrackprämie und die kürzlich noch einmal um ein Jahr
verlängerte Kurzarbeitsregelung leisten zu können. Auf
wen über kurz oder lang die Kosten umgelegt werden sollen,
kann man an fünf Fingern abzählen. Andererseits kommt der
deutsche Kapitalismus bislang nicht zuletzt deshalb relativ
geschmeidig durch die Krise, weil ein paar einschneidende
reaktionäre Sozialreformen bereits hinter uns liegen. Die
Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Deregulierung der Leiharbeit
und die Demontage der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung haben
die Widerstandskraft der Lohnabhängigen nachhaltig
geschwächt und das Kräfteverhältnis zugunsten des
Kapitals verschoben. All das wurde nicht von Mitte-Rechts
(»Schwarz-Gelb«), sondern Mitte-Links
(»Rot-Grün«) durchgesetzt – de facto mit dem
stillschweigenden Einverständnis der Gewerkschaften.
Es ist genau diese Pionierarbeit, die es der herrschenden Klasse so
erleichtert, ihre Ziele scheibchenweise durchzusetzen. Schritt
für Schritt wird die Kofinanzierung der Sozialversicherung
durch die Unternehmer abgeschafft (von Parität kann
längst keine Rede mehr sein), aber für den Fall,
daß das FDP-Modell zur Einführung einer Kopfpauschale im
Gesundheitswesen allzu unsozial ausfallen sollte, droht der DGB
– mit einer Onlinepetition. Und während die
geschrumpften Kernbelegschaften in den Großbetrieben dank
Kurzarbeit bislang zusammengehalten werden konnten, schreitet die
Erosion des – längst nicht mehr normalen –
»Normalarbeitsverhältnisses« voran und hat sich
durch die Krise noch erheblich beschleunigt.
Ein »politischer Mehltau« liege über dem Land,
klagte das langjährige IG-Metall-Vorstandsmitglied Horst
Schmitthenner 2002, am Ende der ersten Legislaturperiode der
Schröder/Fischer-Regierung. Eine Einschätzung, die auch
heute noch oder wieder zutrifft. Das Dumme ist: Die Gewerkschaften
tragen eine Mitverantwortung für diese Situation. Zwar
schreibt der DGB-Vorstand in seinem Aufruf zum 1.Mai: »Die
Verursacher der Krise müssen für die Finanzierung der
Krisenlasten geradestehen.« Doch um dieses Ziel
durchzusetzen, fällt ihm dann nicht mehr ein, als »ein
grundlegendes Umdenken in der Gesellschaft« zu fordern.
Schlaft weiter, möchte man rufen.
Dabei wäre das, was wir zuallererst bräuchten, ein
grundlegendes Umdenken im DGB und seinen Mitgliedsorganisationen.
Doch wird sich dieser schwerfällige Eisbrecher nur in Bewegung
setzen, wenn man ihm Feuer unterm Kessel macht. Kritische
Initiativanträge auf Gewerkschaftstagen werden dazu nicht
reichen. Nein: Der Schlüssel liegt in der gegenwärtigen
Situation darin, daß die klassenkämpferischen Teile der
Arbeiterbewegung, so versprengt sie auch sein mögen, ihre
Aktionsfähigkeit behaupten bzw. wiedergewinnen. Es gibt
praktische Erfahrungen, die beweisen: Die Linie des
verantwortungsvollen Krisenmanagements kann herausgefordert werden.
Das kann auch kein Huber oder Hexel wegdiskutieren. Mag sein,
daß dies im Moment nur punktuell möglich ist, in diesem
oder jenem Betrieb, aber auch in einzelnen Branchen, wie z. B. dem
Schienenverkehr. Doch nur aus dem Ergreifen solcher Chancen, seien
sie noch so klein, kann eine Alternative zum Co-Management der
Führungen der Großgewerkschaften wachsen.
Zu den Bildern dieser Beilage:
Schuften für 4,50 Euro Mindestlohn pro Stunde – Sascha
Montag hat polnische Saisonarbeiter mit der Kamera begleitet. Er
zeigt ihren Arbeitsalltag und das Leben in den oftmals kargen
Unterkünften.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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