Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Sa. / So., 21. / 22. Dezember 2024, Nr. 298
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Aus: kinder, Beilage der jW vom 01.06.2010

»Ihr landet sowieso wieder in der Gosse«

Heimerziehung – in der BRD war das vielerorts lange Synonym für körperliche und seelische Mißhandlung. Opfer kämpfen bislang vergeblich um Entschädigung. Ein Gespräch mit Regina Eppert
Von Interview: Jana Frielinghaus
Bild 1

F: Sie waren schon 18, als Sie Anfang der 60er Jahre in eine katholische Erziehungsanstalt gesperrt wurden. Mit welcher Begründung?

Es hieß, ich wäre der Verwahrlosung nahe. Ich war mit 16 das erste Mal Mutter geworden. Mein Kind starb an einer Lungenentzündung. Als ich einige Tage vorher bei der Mütterberatung war, hatte man dort nichts feststellen können. Den Ausweis mit dieser Bestätigung, daß alles in Ordnung ist, habe ich heute noch. Da ich nach einiger Zeit wieder schwanger wurde – es war ein Wunschkind –, wurde das Jugendamt auf mich aufmerksam. Wir hatten einen einfachen, aber gut geführten Haushalt. Meine Mutter kümmerte sich um meine Tochter, wenn ich zur Arbeit ging, ich hatte einen guten Job. Mein Verlobter und ich – er war der Vater meiner Kinder und meine erste große Liebe – wollten heiraten.

Dann wurde ich plötzlich von der Fürsorge nach Dortmund in ein katholisches Fürsorgeheim gebracht. Das Schreiben vom Amtsgericht Altena mit dem Bescheid, ich sei der Verwahrlosung nahe, nahmen wir damals zunächst nicht ernst genug. Nach zwei Monaten in dieser Anstalt wurde ich ganz unerwartet entlassen. Ich durfte meinen Verlobten heiraten. Danach suchten wir dringend nach einer Wohnung, fanden aber keine. Bald mischte sich das Jugendamt wieder ein, aber statt Hilfe bekamen wir Schwierigkeiten. Ich wurde mit meiner Tochter zum zweiten Mal in das auch heute noch von der Caritas betriebene Vinzenzheim in Dortmund gebracht. Eingesperrt, von meinem Kind sofort getrennt, war ich der Verzweiflung nahe.

Über ein Jahr hielt ich mich an die »Hausordnung«: Weinen, Lachen, Reden– alles war verboten. Zuerst sah ich meine Tochter lediglich an den Sonntagen, aber auch das nur bei »guter Führung«. Später wurde ich in die Kinderabteilung zum Arbeiten geschickt, und so konnte ich wenigstens in der Nähe meiner Kleinen sein. Ich hatte zwar die Babys zu betreuen, schlich mich aber hin und wieder zu meiner damals zweijährigen Tochter, obwohl das während der Woche nicht gestattet war. Meine Ehe hielt diese Trennung nicht aus. Ob mein Mann mir geschrieben hatte oder vor der Tür stand, um seine Familie zu besuchen, kann ich bis heute nicht sagen. So etwas wurde uns nicht mitgeteilt, und Briefe wurden zensiert und oft nicht ausgehändigt.

F: Auch Ihre zwei Jahre jüngere Schwester kam in dieses Heim. Warum?

Als ich eines Tages auf dem Gang meine Schwester Elke sah, war ich erschüttert, denn jetzt war unsere Mutter ganz allein. Ich konnte sie nicht nach dem Warum fragen oder ihr zulächeln, ich zuckte nur heimlich mit den Schultern. Unsere Mutter war alleinerziehend, und solche Familien standen oft unter besonderer Beobachtung der Behörden. Vielleicht brauchten diese Heime, die ja auch Gewerbebetriebe waren, einfach billige Arbeitskräfte. Arbeiten wie ein Erwachsener durften und mußten viele schon mit 14, die volle Mündigkeit wurde uns aber erst mit 21 zugestanden.

F: 2003 gehörten Sie zu den ersten ehemaligen Heimkindern der Bundesrepublik, die offen über ihre Erlebnisse sprachen. Warum haben Sie so lange geschwiegen?

Wer in diese Anstalten geschickt wurde, hatte das Gefühl, nichts wert zu sein. Von den Nonnen bekam man täglich zu hören: »Ihr taugt nichts«, »Ihr landet sowieso wieder in der Gosse«. Diese verbalen Verletzungen waren Schläge auf unsere Seele. Irgendwann glaubt man diesen Worten. Erst ein Artikel im Spiegel 2003 machte uns ganz bewußt, daß nicht wir die »Schuldigen« waren und brachte uns dazu, an die Öffentlichkeit zu gehen.

F: Seit vielen Jahren kämpfen Sie dafür, daß das, was Hunderttausenden Kindern und Jugendlichen in den 50er, 60er und 70er Jahren in konfessionellen und staatlichen Heimen angetan wurde, als Menschenrechtsverletzung anerkannt wird, und daß die Verantwortlichen Entschädigungen zahlen müssen. Seit Anfang 2009 gibt es nun den »Runden Tisch Heimerziehung« unter Leitung von Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, Grüne. Wie schätzen Sie dessen Arbeit ein?

Ich kann das nur von außen beobachten und die Protokolle der Sitzungen lesen, die bis heute für die Betroffenen nicht zufriedenstellend sind. Auch der Erziehungswissenschaftler Prof. Manfred Kappeler, der uns bei dieser schwierigen Aufarbeitung zur Seite steht, hat zum Zwischenbericht vom Januar 2010 eine Stellungnahme abgegeben, in der er ebenfalls große Unzufriedenheit äußert. Für viele Ehemalige ist der Runde Tisch eine Farce. Sie sehen darin eine Alibiveranstaltung der Kirchen und des Staates. Ich persönlich hoffe immer noch auf ein annehmbares Ergebnis für alle Beteiligten.

F: Seit der Spiegel-Autor Peter Wensierski 2006 sein Buch »Schläge im Namen des Herrn« veröffentlicht hat, gibt es immer neue Publikationen. Wenn man die Berichte der Opfer liest, bekommt man den Eindruck, daß viele dieser Anstalten Horte eines unfaßbaren Sadismus waren. Die Opfer berichten von brutalen Schlägen, von Isolationshaft, vom Zwang, von widerlichem Fraß und selbst Erbrochenes essen zu müssen, von täglichen Demütigungen. Welche Maßnahmen von seiten des Staates würden solchen schwer traumatisierten Menschen aus Ihrer Sicht helfen?

Ganz einfach: Eine vernünftige Entschädigung, zum Beispiel in Form einer Opferrente, die nicht mit sonstigen Transferleistungen verrechnet wird. Das würde den Betroffenen ein Gefühl von Gerechtigkeit geben. Es wäre endlich amtlich, daß ihnen Unrecht geschehen ist. Die biologische Uhr tickt, und es ist Eile geboten. Viele von uns leben nicht mehr oder wollen nicht mehr. Mit diesen »Erziehungsmethoden« wurden viele Biographien regelrecht zerstört.

Eine Rentenanrechnung der meist unbezahlten Arbeit, die die wir als Jugendliche in den Heimen verrichtet haben, wäre zwar auch wichtig. Aber das allein würde die Situation vieler überhaupt nicht verbessern, denn häufig bekommen sie so wenig Rente, daß sie ohnehin zusätzliches Sozialgeld beantragen müssen. Würden diese Zeiten einfach nur rentenrechtlich anerkannt, würden diese Beträge wieder von den staatlichen Zahlungen abgezogen werden.

F: Nach Angaben des Vereins ehemaliger Heimkinder (VEH), dessen Vorsitzende Sie mehrere Jahre lang waren, waren rund 80 Prozent der Mitglieder in konfessionellen Heimen; eingewiesen wurden sie meist von staatlichen Behörden. Wer trägt die Schuld daran, daß es in so großem Umfang zu solchen Exzessen– der VEH spricht von etwa einer halben Million Geschädigter – kommen konnte?

Die meisten Erzieher haben diesen brutalen Umgang noch in der Nazizeit gelernt und diese Methoden einfach weiter angewandt. Die Ideologie dieser schlimmen Zeit war noch in den Köpfen. Wenn man heute bei den Landschaftsverbänden, die damals als Behörden auch für die Kontrolle der kirchlichen Heime verantwortlich waren, nachfragt, hört man immer nur, die Einrichtungen hätten eben einen sehr guten Ruf gehabt. Es habe keine Anhaltspunkte für Mißstände gegeben. Dabei gab es auch damals immer wieder Pädagogen, die Alarm schlugen.

F: Hat die Tatsache, daß Kontrolle und Intervention eher die Ausnahme war, etwas mit der mangelnden Trennung von Staat und Kirche in der Bundesrepublik zu tun?

Ich glaube zumindest, daß gerade die katholische Kirche einen zu großen Einfluß auf die Gesellschaft und so auch auf den Staat hat.

F: Politiker, aber auch Kirchenvertreter haben lange entweder von Ausnahmen geredet – oder davon, daß »ruppige« Erziehungsmethoden eben dem damaligen Zeitgeist entsprochen hätten. Wie gehen Sie mit solchen Verharmlosungen um?

Es macht wütend, wie man mit Menschen auch heute noch umgeht. Schläge und Mißbrauch waren auch damals nachweislich Verbrechen. In den Anfängen unserer Zusammenkünfte hat man noch von Einzelfällen gesprochen, eine Nonne sagte damals laut: »Ach das ist so eine Welle, so wie mit den Schwulen, das geht vorüber.«

F: Der VEH und sein Anwalt Gerrit Wilmans haben am Runden Tisch 2009 die Einrichtung eines Entschädigungsfonds gefordert, in den Staat und Kirchen einzahlen sollen. Die vom VEH erhobene Forderung, der Fonds solle mit insgesamt 25 Milliarden Euro bestückt werden, wurde von Frau Vollmer, aber auch von einigen Opfervertretern als kontraproduktiv oder gar maßlos zurückgewiesen. Sehen Sie das ähnlich?

Wenn sich alle ehemaligen Heimkinder von 1945–1975 aus den Kinderheimen und den Erziehungsanstalten als Opfer melden würden, könnte ich mir vorstellen, daß diese Summe zusammenkommt. Nur werden das viele Menschen nicht tun, viele wollen nicht mehr daran rühren. Deshalb halte ich diese Forderung für übertrieben.

F: Seit einigen Monaten ist in den Medien vor allem von sexuellem Mißbrauch in konfessionellen, aber auch anderen privaten Eliteschulen die Rede. Nachdem mittlerweile einige hundert Fälle bekannt sind, hat die Bundesregierung umgehend zwei weitere Runde Tische eingerichtet. Sexuellem Mißbrauch waren aber auch viele Heimkinder ausgesetzt. Er war für viele »nur« ein Teil ihres Martyriums, trotzdem ist das öffentlich nicht annähernd so stark thematisiert worden. Wird hier mit zweierlei Maß gemessen?

Ich glaube ja. Meine Erfahrungen seit 2003 mit Kirchenvertretern sind nicht die besten: Auf meine Schreiben bekam ich nur vorgefertigte Briefe, kein persönliches Wort. Bei öffentlichen Diskussionen bleiben die Betroffenen meist außen vor, das haben erst Mitte Mai die Veranstaltungen des Ökumenischen Kirchentages in München gezeigt.

Im Februar habe ich mich genau wegen dieser Ungleichbehandlung an Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gewandt. Die Organisationen ehemaliger Heimkinder haben schon im Frühjahr 2006 eine Petition beim Bundestag eingereicht, in der die Anerkennung als Opfer von Menschenrechtsverletzungen, materielle Entschädigungen, Rentenanerkennungszeiten für die unbezahlte Arbeit in den Heimen gefordert wurden. Zweieinhalb Jahre lang gab es daraufhin Anhörungen, bis die Einrichtung des Runden Tisches beschlossen wurde, der Anfang 2009 endlich seine Arbeit aufnahm – und nun noch bis Ende dieses Jahres Zeit hat, Empfehlungen auszuarbeiten, was weiter geschehen soll. Wann und ob es gesetzliche Regelungen wie etwa einen Anspruch auf Opferrente geben wird, ist immer noch nicht absehbar, und nach dem, was ich kürzlich von Teilnehmern des Runden Tisches Heimerziehung, RTH, gehört habe, wird es wohl keine Entschädigungszahlungen geben.

Die Justizministerin antwortete nur, ich solle mich an die Geschäftsstelle des RTH wenden – mit der ich ohnehin in regem Kontakt stehe.

F: Menschen, die etwa ein halbes Jahr in einem Jugendwerkhof der DDR verbracht haben, können als Opfer des DDR-Strafrechts, also des »Unrechtsstaates«, anerkannt werden und entsprechende Entschädigungszahlungen bekommen, das hat das Bundesverfassungsgericht im Juni 2009 bestätigt...

Wie definiert man eigentlich »Unrechtsstaat«? Wenn ich auf das schaue, was Hunderttausende in den Heimen der Bundesrepublik erlebt haben, dann gab es auch hier lange Zeit große »rechtfreie Räume« und extremes Unrecht. Da ist es schon bitter, daß Leute, die im Westen jahrelang gelitten haben, bis heute keinerlei Hilfe vom Staat bekommen haben.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!