»Ihr landet sowieso wieder in der Gosse«
Von Interview: Jana FrielinghausF: Sie waren schon 18, als Sie Anfang der 60er Jahre in eine
katholische Erziehungsanstalt gesperrt wurden. Mit welcher
Begründung?
Es hieß, ich wäre der Verwahrlosung nahe. Ich war mit 16
das erste Mal Mutter geworden. Mein Kind starb an einer
Lungenentzündung. Als ich einige Tage vorher bei der
Mütterberatung war, hatte man dort nichts feststellen
können. Den Ausweis mit dieser Bestätigung, daß
alles in Ordnung ist, habe ich heute noch. Da ich nach einiger Zeit
wieder schwanger wurde – es war ein Wunschkind –, wurde
das Jugendamt auf mich aufmerksam. Wir hatten einen einfachen, aber
gut geführten Haushalt. Meine Mutter kümmerte sich um
meine Tochter, wenn ich zur Arbeit ging, ich hatte einen guten Job.
Mein Verlobter und ich – er war der Vater meiner Kinder und
meine erste große Liebe – wollten heiraten.
Dann wurde ich plötzlich von der Fürsorge nach Dortmund
in ein katholisches Fürsorgeheim gebracht. Das Schreiben vom
Amtsgericht Altena mit dem Bescheid, ich sei der Verwahrlosung
nahe, nahmen wir damals zunächst nicht ernst genug. Nach zwei
Monaten in dieser Anstalt wurde ich ganz unerwartet entlassen. Ich
durfte meinen Verlobten heiraten. Danach suchten wir dringend nach
einer Wohnung, fanden aber keine. Bald mischte sich das Jugendamt
wieder ein, aber statt Hilfe bekamen wir Schwierigkeiten. Ich wurde
mit meiner Tochter zum zweiten Mal in das auch heute noch von der
Caritas betriebene Vinzenzheim in Dortmund gebracht. Eingesperrt,
von meinem Kind sofort getrennt, war ich der Verzweiflung
nahe.
Über ein Jahr hielt ich mich an die »Hausordnung«:
Weinen, Lachen, Reden– alles war verboten. Zuerst sah ich
meine Tochter lediglich an den Sonntagen, aber auch das nur bei
»guter Führung«. Später wurde ich in die
Kinderabteilung zum Arbeiten geschickt, und so konnte ich
wenigstens in der Nähe meiner Kleinen sein. Ich hatte zwar die
Babys zu betreuen, schlich mich aber hin und wieder zu meiner
damals zweijährigen Tochter, obwohl das während der Woche
nicht gestattet war. Meine Ehe hielt diese Trennung nicht aus. Ob
mein Mann mir geschrieben hatte oder vor der Tür stand, um
seine Familie zu besuchen, kann ich bis heute nicht sagen. So etwas
wurde uns nicht mitgeteilt, und Briefe wurden zensiert und oft
nicht ausgehändigt.
F: Auch Ihre zwei Jahre jüngere Schwester kam in dieses Heim.
Warum?
Als ich eines Tages auf dem Gang meine Schwester Elke sah, war ich
erschüttert, denn jetzt war unsere Mutter ganz allein. Ich
konnte sie nicht nach dem Warum fragen oder ihr zulächeln, ich
zuckte nur heimlich mit den Schultern. Unsere Mutter war
alleinerziehend, und solche Familien standen oft unter besonderer
Beobachtung der Behörden. Vielleicht brauchten diese Heime,
die ja auch Gewerbebetriebe waren, einfach billige
Arbeitskräfte. Arbeiten wie ein Erwachsener durften und
mußten viele schon mit 14, die volle Mündigkeit wurde
uns aber erst mit 21 zugestanden.
F: 2003 gehörten Sie zu den ersten ehemaligen Heimkindern der
Bundesrepublik, die offen über ihre Erlebnisse sprachen. Warum
haben Sie so lange geschwiegen?
Wer in diese Anstalten geschickt wurde, hatte das Gefühl,
nichts wert zu sein. Von den Nonnen bekam man täglich zu
hören: »Ihr taugt nichts«, »Ihr landet
sowieso wieder in der Gosse«. Diese verbalen Verletzungen
waren Schläge auf unsere Seele. Irgendwann glaubt man diesen
Worten. Erst ein Artikel im Spiegel 2003 machte uns ganz
bewußt, daß nicht wir die »Schuldigen«
waren und brachte uns dazu, an die Öffentlichkeit zu
gehen.
F: Seit vielen Jahren kämpfen Sie dafür, daß das,
was Hunderttausenden Kindern und Jugendlichen in den 50er, 60er und
70er Jahren in konfessionellen und staatlichen Heimen angetan
wurde, als Menschenrechtsverletzung anerkannt wird, und daß
die Verantwortlichen Entschädigungen zahlen müssen. Seit
Anfang 2009 gibt es nun den »Runden Tisch
Heimerziehung« unter Leitung von
Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, Grüne. Wie
schätzen Sie dessen Arbeit ein?
Ich kann das nur von außen beobachten und die Protokolle der
Sitzungen lesen, die bis heute für die Betroffenen nicht
zufriedenstellend sind. Auch der Erziehungswissenschaftler Prof.
Manfred Kappeler, der uns bei dieser schwierigen Aufarbeitung zur
Seite steht, hat zum Zwischenbericht vom Januar 2010 eine
Stellungnahme abgegeben, in der er ebenfalls große
Unzufriedenheit äußert. Für viele Ehemalige ist der
Runde Tisch eine Farce. Sie sehen darin eine Alibiveranstaltung der
Kirchen und des Staates. Ich persönlich hoffe immer noch auf
ein annehmbares Ergebnis für alle Beteiligten.
F: Seit der Spiegel-Autor Peter Wensierski 2006 sein Buch
»Schläge im Namen des Herrn« veröffentlicht
hat, gibt es immer neue Publikationen. Wenn man die Berichte der
Opfer liest, bekommt man den Eindruck, daß viele dieser
Anstalten Horte eines unfaßbaren Sadismus waren. Die Opfer
berichten von brutalen Schlägen, von Isolationshaft, vom
Zwang, von widerlichem Fraß und selbst Erbrochenes essen zu
müssen, von täglichen Demütigungen. Welche
Maßnahmen von seiten des Staates würden solchen schwer
traumatisierten Menschen aus Ihrer Sicht helfen?
Ganz einfach: Eine vernünftige Entschädigung, zum
Beispiel in Form einer Opferrente, die nicht mit sonstigen
Transferleistungen verrechnet wird. Das würde den Betroffenen
ein Gefühl von Gerechtigkeit geben. Es wäre endlich
amtlich, daß ihnen Unrecht geschehen ist. Die biologische Uhr
tickt, und es ist Eile geboten. Viele von uns leben nicht mehr oder
wollen nicht mehr. Mit diesen »Erziehungsmethoden«
wurden viele Biographien regelrecht zerstört.
Eine Rentenanrechnung der meist unbezahlten Arbeit, die die wir als
Jugendliche in den Heimen verrichtet haben, wäre zwar auch
wichtig. Aber das allein würde die Situation vieler
überhaupt nicht verbessern, denn häufig bekommen sie so
wenig Rente, daß sie ohnehin zusätzliches Sozialgeld
beantragen müssen. Würden diese Zeiten einfach nur
rentenrechtlich anerkannt, würden diese Beträge wieder
von den staatlichen Zahlungen abgezogen werden.
F: Nach Angaben des Vereins ehemaliger Heimkinder (VEH), dessen
Vorsitzende Sie mehrere Jahre lang waren, waren rund 80 Prozent der
Mitglieder in konfessionellen Heimen; eingewiesen wurden sie meist
von staatlichen Behörden. Wer trägt die Schuld daran,
daß es in so großem Umfang zu solchen Exzessen–
der VEH spricht von etwa einer halben Million Geschädigter
– kommen konnte?
Die meisten Erzieher haben diesen brutalen Umgang noch in der
Nazizeit gelernt und diese Methoden einfach weiter angewandt. Die
Ideologie dieser schlimmen Zeit war noch in den Köpfen. Wenn
man heute bei den Landschaftsverbänden, die damals als
Behörden auch für die Kontrolle der kirchlichen Heime
verantwortlich waren, nachfragt, hört man immer nur, die
Einrichtungen hätten eben einen sehr guten Ruf gehabt. Es habe
keine Anhaltspunkte für Mißstände gegeben. Dabei
gab es auch damals immer wieder Pädagogen, die Alarm
schlugen.
F: Hat die Tatsache, daß Kontrolle und Intervention eher die
Ausnahme war, etwas mit der mangelnden Trennung von Staat und
Kirche in der Bundesrepublik zu tun?
Ich glaube zumindest, daß gerade die katholische Kirche einen
zu großen Einfluß auf die Gesellschaft und so auch auf
den Staat hat.
F: Politiker, aber auch Kirchenvertreter haben lange entweder von
Ausnahmen geredet – oder davon, daß
»ruppige« Erziehungsmethoden eben dem damaligen
Zeitgeist entsprochen hätten. Wie gehen Sie mit solchen
Verharmlosungen um?
Es macht wütend, wie man mit Menschen auch heute noch umgeht.
Schläge und Mißbrauch waren auch damals nachweislich
Verbrechen. In den Anfängen unserer Zusammenkünfte hat
man noch von Einzelfällen gesprochen, eine Nonne sagte damals
laut: »Ach das ist so eine Welle, so wie mit den Schwulen,
das geht vorüber.«
F: Der VEH und sein Anwalt Gerrit Wilmans haben am Runden Tisch
2009 die Einrichtung eines Entschädigungsfonds gefordert, in
den Staat und Kirchen einzahlen sollen. Die vom VEH erhobene
Forderung, der Fonds solle mit insgesamt 25 Milliarden Euro
bestückt werden, wurde von Frau Vollmer, aber auch von einigen
Opfervertretern als kontraproduktiv oder gar maßlos
zurückgewiesen. Sehen Sie das ähnlich?
Wenn sich alle ehemaligen Heimkinder von 1945–1975 aus den
Kinderheimen und den Erziehungsanstalten als Opfer melden
würden, könnte ich mir vorstellen, daß diese Summe
zusammenkommt. Nur werden das viele Menschen nicht tun, viele
wollen nicht mehr daran rühren. Deshalb halte ich diese
Forderung für übertrieben.
F: Seit einigen Monaten ist in den Medien vor allem von sexuellem
Mißbrauch in konfessionellen, aber auch anderen privaten
Eliteschulen die Rede. Nachdem mittlerweile einige hundert
Fälle bekannt sind, hat die Bundesregierung umgehend zwei
weitere Runde Tische eingerichtet. Sexuellem Mißbrauch waren
aber auch viele Heimkinder ausgesetzt. Er war für viele
»nur« ein Teil ihres Martyriums, trotzdem ist das
öffentlich nicht annähernd so stark thematisiert worden.
Wird hier mit zweierlei Maß gemessen?
Ich glaube ja. Meine Erfahrungen seit 2003 mit Kirchenvertretern
sind nicht die besten: Auf meine Schreiben bekam ich nur
vorgefertigte Briefe, kein persönliches Wort. Bei
öffentlichen Diskussionen bleiben die Betroffenen meist
außen vor, das haben erst Mitte Mai die Veranstaltungen des
Ökumenischen Kirchentages in München gezeigt.
Im Februar habe ich mich genau wegen dieser Ungleichbehandlung an
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gewandt. Die
Organisationen ehemaliger Heimkinder haben schon im Frühjahr
2006 eine Petition beim Bundestag eingereicht, in der die
Anerkennung als Opfer von Menschenrechtsverletzungen, materielle
Entschädigungen, Rentenanerkennungszeiten für die
unbezahlte Arbeit in den Heimen gefordert wurden. Zweieinhalb Jahre
lang gab es daraufhin Anhörungen, bis die Einrichtung des
Runden Tisches beschlossen wurde, der Anfang 2009 endlich seine
Arbeit aufnahm – und nun noch bis Ende dieses Jahres Zeit
hat, Empfehlungen auszuarbeiten, was weiter geschehen soll. Wann
und ob es gesetzliche Regelungen wie etwa einen Anspruch auf
Opferrente geben wird, ist immer noch nicht absehbar, und nach dem,
was ich kürzlich von Teilnehmern des Runden Tisches
Heimerziehung, RTH, gehört habe, wird es wohl keine
Entschädigungszahlungen geben.
Die Justizministerin antwortete nur, ich solle mich an die
Geschäftsstelle des RTH wenden – mit der ich ohnehin in
regem Kontakt stehe.
F: Menschen, die etwa ein halbes Jahr in einem Jugendwerkhof der
DDR verbracht haben, können als Opfer des DDR-Strafrechts,
also des »Unrechtsstaates«, anerkannt werden und
entsprechende Entschädigungszahlungen bekommen, das hat das
Bundesverfassungsgericht im Juni 2009 bestätigt...
Wie definiert man eigentlich »Unrechtsstaat«? Wenn ich
auf das schaue, was Hunderttausende in den Heimen der
Bundesrepublik erlebt haben, dann gab es auch hier lange Zeit
große »rechtfreie Räume« und extremes
Unrecht. Da ist es schon bitter, daß Leute, die im Westen
jahrelang gelitten haben, bis heute keinerlei Hilfe vom Staat
bekommen haben.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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