Es ist genug für alle da
Von Steffi OberDie Zahlen sind bekannt, die Probleme nicht neu. Die Ernährung
einer wachsenden Weltbevölkerung ist spätestens seit den
Beschlüssen der Generalversammlung der Vereinten Nationen im
Jahr 2000 zu den sogenannten Millennium Development Goals (MDG,
Millenniumsentwicklungszielen) ein weltpolitisches Hauptthema. Mehr
als eine Milliarde Menschen sind nach Angaben der Ernährungs-
und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO)
dramatisch unterernährt. Dabei hatten sich die
UN-Mitgliedsstaaten vor zehn Jahren vorgenommen, die Zahl der
Hungernden zu halbieren. Statt dessen ist sie insbesondere infolge
der krisenbedingten Lebensmittelpreisexplosion 2007 dramatisch
gestiegen. Eine Ursache dafür war, daß
Grundnahrungsmittel zunehmend für die Biospritproduktion
eingesetzt und damit in Konkurrenz zu Lebensmitteln zu hohen
Preisen gehandelt werden.
Seither haben sich zahlreiche Politiker und Organisationen die
Sicherung der Welternährung auf die Fahnen geschrieben. So hat
die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung bisher 270 Millionen Dollar in
die in der Consultative Group on International Agricultural
Research (CGIAR, Beratungsgruppe für internationale
Agrarforschung) vertretenen Institute und über eine Milliarde
direkt in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer
investiert. Als Grund für sein Engagement gibt Gates an,
daß sich noch keine Region ökonomisch weiterentwickelt
habe, ohne daß erst einmal die Agrarproduktion erhöht
worden wäre. Von Globalisierungskritikern wird Gates jedoch
vorgeworfen, direkt als Türöffner für die
Agrarmultis der USA zu wirken. Zum anderen wird befürchtet,
daß durch seinen Einfluß vor allem die industriell
geprägte Landwirtschaft gefördert wird. Tatsächlich
ist die CGIAR ein maßgeblich von der Rockefeller- und der
Ford-Stiftung geschaffenes Netzwerk, das dem US-Agrobusineß
Zugang zu neuen Märkten verschafft – und heute
beträchtlichen Einfluß auf die UN-Organisationen FAO und
die Weltbank hat.
Die Art, wie wir Landwirtschaft betreiben, wirkt sich direkt auf
Gesundheit, Umwelt und Chancen für die wenig entwickelten
Regionen unserer Welt aus. Dabei findet sich heute neben Unter- und
Mangelernährung Fehl- und Überernährung im gleichen
Land. Weltweit sind rund 1,6 Milliarden Menschen
übergewichtig, zunehmend auch in Entwicklungsländern.
Diese doppelte Belastung wird mit dem Fachbegriff »Nutrition
Transition« erfaßt.
Fehl- und Überernährung belastet die Volkswirtschaften
mit hohen Kosten und überfordert ein oft nur mangelhaft
entwickeltes Gesundheitswesen. So sind in Nigeria rund sechs
Prozent der Frauen übergewichtig, in Brasilien hat sich
Präsident Ignacio Lula da Silva gar mit einem Aufruf zur
gesünderen Ernährung an seine Landsleute gewandt. Schuld
an dieser Entwicklung sind Verstädterung, veränderte
Konsumgewohnheiten mit einem hohen Anteil an verarbeiteten
Lebensmitteln mit hohem Zucker- und Fettgehalt und wenig
Bewußtsein für gesundes Ernährungsverhalten. Die
globalisierte Lebensmittelindustrie hat dazu maßgeblich
beigetragen, denn ihre Produkte verdrängen die traditionelle
fett- und zuckerarme Ernährung, die reich an
Mikronährstoffen ist.
Immer mehr Chemie
Umweltschäden und Landwirtschaft stehen in einem ursächlichen Zusammenhang. Intensiver Ackerbau und der massive Einsatz von Agrochemie haben zu einem beispiellosen Verlust der Artenvielfalt beigetragen. Laut Weltagrarbericht (IAASTD) sind in den letzten 50 Jahren drei Viertel der genetischen Basis der Nutzpflanzen verlorengegangen. Die sogenannte grüne Revolution hat mit ihrem uniformen, ertragreichen Hochleistungssaatgut, der exzessiven Anwendung von Kunstdünger und Pestiziden diese Entwicklung vorangetrieben. Andererseits hatten bereits 1993 rund 700 Schädlinge, 200 Krankheitskeime und 30 Unkräuter aufgrund des übermäßigen Einsatzes Resistenzen gegen Pestizide entwickelt. Bekämpft wird das Problem mit noch höheren Dosierungen und noch giftigeren Mischungen.Bei all dem wird der Boden, die wichtigste Ressource für Lebensmittelproduktion und Lebensmittelsicherheit, stiefmütterlich behandelt. Erosion, Überweidung, die Abkehr von vielfältigen Fruchtfolgen haben seine Fruchtbarkeit weltweit dramatisch reduziert. »Bodenverschlechterung in all ihren Formen stellt eine Gefahr für die Lebensmittelproduktion und den Lebensunterhalt in ländlichen Gebieten dar, vor allem in den ärmsten Regionen der Entwicklungsländer«, hieß es 2008 in einem UN-Bericht.
Die Landwirtschaft ist für 70 Prozent des weltweiten Süßwasserverbrauchs verantwortlich und trägt erheblich zur Wasserverschmutzung bei. Fast drei Viertel des ausgebrachten Düngers werden nicht von den Pflanzen aufgenommen, sondern gelangen in das Grundwasser, in Flüsse und Seen. Dort führen Stickstoff und Phosphat zu Überdüngung und erheblichen Schädigungen der Ökosysteme. In einigen Regionen besteht bereits heute akuter Wassermangel. Der Weltagrarbericht warnt deshalb vor zunehmenden gesellschaftlichen, aber auch zwischenstaatlichen Konflikten bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Kriegen um Wasser. Trotzdem importieren die sehr gut mit Wasser versorgten Länder des Nordens weiter sogenannte Cash-Crops (Marktfrüchte) wie Mais, Soja und Baumwolle aus wasserarmen Regionen Afrikas und Lateinamerikas – und tragen so maßgeblich zur Verschärfung des Mangels bei. Getreide- und Eiweißpflanzenimporte werden zudem überwiegend zur Viehfütterung eingesetzt.
Gretchenfrage Gentechnik
Welche Agrarforschung brauchen wir angesichts dieser noch latenten Konflikte? Die einseitig auf Ertragssteigerung fixierte Herangehensweise in den Industriestaaten hat offensichtlich versagt. Die meisten Hungernden wohnen in den Entwicklungsländern auf dem Land, das sie eigentlich ernähren könnte, während in der wohlhabenderen Stadtbevölkerung auch in Entwicklungsländern eher Fehl- und Überernährung um sich greifen. Wenn man als Hauptziel der Wissenschaft die Sicherung des Menschenrechts auf Nahrung setzt, liegt es auf der Hand, daß eine eigenständige Ernährungsforschung gleichberechtigt zur Agrarforschung gefördert werden müßte. Denn Ernährung ist weit mehr, als kalorisch satt zu werden. Die staatlich finanzierte Agrarforschung hat die Pflege traditioneller Anbausysteme und Kulturen völlig vernachlässigt. Überliefertes Wissen und viele regionale Sorten sind so zum Teil unwiederbringlich verlorengegangen. Dabei kann gerade die Förderung und Nutzung der genetischen Vielfalt bei Pflanzen dank der Fähigkeit zur Anpassung an verschiedene Bedingungen wesentlich zur Ernährungssicherung beitragen.Die Gretchenfrage des 21. Jahrhunderts lautet: »Wie hältst du es mit der Gentechnik?« Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag entschieden: Gentechnik kann – und soll – zur Sicherung der Welternährung beitragen. Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) verkündet diesen Glaubenssatz in jeder Diskussion zur Pflanzenforschung. Mit Gentechnik könne man das Saatgut am besten optimieren, sagen deren Befürworter. Doch welchen Anteil hat das Saatgut an der Verfügbarkeit von Nahrung und Einkommen in der Landwirtschaft? Urs Niggli, Direktor des Forschungsinstitutes für biologischen Landbau in Frick (Schweiz), beziffert den Einfluß des Saatgutes auf den Ertrag mit sechs bis neun Prozent, Biotech-Lobbyverbände dagegen mit bis zu 40 Prozent.
Bemerkenswert ist aber die Aussage eines Vertreters der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), einer der staatlichen Entwicklungshilfeorganisationen in Deutschland. Auf einer Veranstaltung zum Beitrag der Agrarforschung zur Welternährung im Bundestag erklärte er, Nachernteverluste bzw. deren Vermeidung hätten einen überragenden Einfluß auf die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, den er mit 40 bis 70 Prozent bezifferte.
Gigantische Verluste
Nachernteverluste entstehen durch natürliche Prozesse wie Atmung oder Verdunstung ebenso wie durch mechanische Beschädigung oder Schädlinge und Krankheiten. Interessanterweise hängen diese Faktoren eng mit dem Anbau zusammen, zum Beispiel über die Düngung, die Bewässerung und den Grad des Schädlingsbefalls im Erntegut. Früher ging man davon aus, daß hohe Nachernteverluste aus fehlendem Wissen der Bauern resultieren. Doch inzwischen ist deutlich geworden, daß gerade Hochertragssorten viel empfindlicher auf Schädlinge reagieren, viel mehr Pflege brauchen – und die Bauern mit den neuen Anbausystemen alleingelassen wurden. Das Problem wurde und wird bislang vor allem mit dem Einsatz von Pestiziden zur Schädlingsbekämpfung im Erntegut »gelöst«.Nach einer Studie des auf den Philippinen ansässigen Internationalen Reisforschungsinstituts IRRI (das zur o.g. Beratungsgruppe CGIAR gehört) betragen die Nachernteverluste bei Reis in Südostasien zwischen zehn und 37 Prozent. Sie fallen bei der Ernte, beim Dreschen, während des Trocknens, bei Lagerung und Transport an. Weltweit werden die Nachernteverluste bei Körnerfrüchten auf rund ein Drittel der Gesamtmenge geschätzt. Bei Gemüse und Obst dürften sie aufgrund schlechter Infrastruktur (Kühlhäuser, Transportmittel, Straßen) in vielen Ländern weit höher liegen.
Bei der FAO ist das Problem bereits Mitte der 70er Jahre identifiziert worden. Sie hat ein eigenes Programm dagegen erstellt. Die GTZ unterstützt das entsprechende Forschungsnetzwerk »Information Network on Post harvest Operations«. In der deutschen Entwicklungshilfe wird das Thema dagegen noch immer wenig beachtet – vielleicht auch aus Enttäuschung darüber, daß bisherige technische Lösungen oft lediglich zu »Maschinenfriedhöfen« in den so »unterstützten« Ländern führten. Daß häufig eher sozioökonomische als technologieorientierte Ansätze erforderlich sind, wird weiter häufig übersehen.
Wegwerfgesellschaft
Hinzu kommt, daß in Europa 30 Prozent aller Lebensmittel weggeworfen werden. In den USA sind es gar unglaubliche 50Prozent. Betrachtet man also die Gesamtmenge der verfügbaren Nahrungsmittel, wäre eine Versorgung aller Menschen theoretisch problemlos möglich. Und sie wäre es auch ohne weitere Ertragssteigerungen. Darauf zu verzichten, wäre zudem umweltpolitische und gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit, denn heute werden für die Erzeugung einer pflanzlichen Kalorie zehn Kalorien an fossilen Energien verbraucht. Nachhaltig wäre dagegen nur eine ressourcenschonende und -erhaltende Landwirtschaft. Eine Ökologisierung wird inzwischen sogar in einer vom »Think Tank« der Deutschen Bank, DB Research, veröffentlichten Studie unter dem Titel »Lebensmittel – eine Welt voller Spannung« angemahnt. Darin wird den Kleinbauern eine Schlüsselrolle bei der Sicherung der Welternährung zugeordnet. Der Bioökonomierat der Bundesregierung verkündet dagegen, weitere Ertragssteigerungen seien erforderlich, um die Ernährung von neun Milliarden Menschen (Schätzung für das Jahr 2050) und die Erzeugung von Bioenergie und Biomasse für die Industrie sicherzustellen.Neben dem Konflikt zwischen dem Anbau von Nahrungsmitteln und dem von Biomasse etwa für die Gewinnung von Kraftstoffen oder Energie wird der wachsende Fleischkonsum immer mehr zum Problem. Die Zahl der Nutztiere, die Milch, Fleisch und Eier liefern, wird bis 2050 voraussichtlich auf 30 Milliarden anwachsen. Dies würde bedeuten, daß für einen großen Teil der Menschheit weiter nicht genug Nahrung zur Verfügung stünde. Denn zur Produktion einer tierischen Kalorie werden bis zu neun pflanzliche gebraucht. Also wäre ein Wandel im Ernährungsverhalten – und in der Struktur der Agrarwirtschaft der Industriestaaten– dringend nötig. Es würde beispielsweise viel ausmachen, wenn hierzulande jeder die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung berücksichtigen würde, wonach ein Fleischkonsum von 20 Kilogramm pro Kopf und Jahr gesund wäre. Derzeit verbraucht laut Statistik in Deutschland jeder Einwohner 80 Kilogramm.
Die Autorin ist beim Naturschutzbund Deutschland (www.nabu.de) Fachreferentin für Agrogentechnik und Biodiversität.
CGIAR, Beratungsgruppe für internationale Agrarforschung: www.cgiar.org
Internationales Reisforschungsinstitut: www.irri.org
Information Network on Post-harvest Operations: www.fao.org/inpho
Die vom Deutsche-Bank-»Think Tank« veröffentlichte Studie im Internet:
www.db.com/mittelstand/downloads/Lebensmittel_250909.pdf.
Aus diesem Dokument stammt auch die Aussage zur Zahl der Schädlingsresistenzen im Artikel.
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